Balint Journal 2020; 21(01): 26-27
DOI: 10.1055/a-1110-4077
Buchbesprechung
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Publication Date:
26 March 2020 (online)

Das vorliegende Buch von St. Theilemann, – Psychologe, Psychoanalytiker und Balintgruppenleiter aus Potsdam – über Harald Schultz-Hencke und die Freideutsche Jugend erinnert mich an ein Gespräch, das ich vor vielen Jahren mit ihm führte. Es ging dabei um seine Arbeit über einen umstrittenen aber pädagogisch anregenden Mann der Freideutschen Jugend, einer großen Jugendbewegung von den Anfängen des vorigen Jahrhunderts bis in die 20iger Jahren.

Jetzt liegt das Werk vor – ein kulturelles, historisch sorgsam recherchiertes Grundlagenwerk. Diesem liegen Ausschnitte aus 15 unterschiedlichen Archiven einschließlich eines Privatarchivs von Herrn Theilemann zugrunde. Darüber hinaus listet er 422 Literaturstellen auf, davon 63 von H. Schultz – Hencke selbst. Es handelt sich um Tagebucheinträge und Briefausschnitte von ihm, von Kollegen und Freunden, ebenso von Frauen, die ihm nahe standen. Auch wenn die Fülle dieses Erinnerungsmaterials zunächst etwas abschreckt, lohnt es sich für neugierige Leser genauer hinzusehen um zu erfahren‚ wie wir wurden, was wir sind und was an Problemen, Konflikten und Anregungen aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg bis in unsere Zeit hineinreicht.

Woher kam dieser H. Schultz - Hencke (18.8.1892 in Berlin geboren und dort am 23.5.1953 gestorben), was waren seine frühen Prägungen, seine Intentionen? Welche Motive trieben ihn an? Welche Ziele formulierte er im beruflichen und privaten Bereich mit stark ausgeprägtem Gerechtigkeitswillen? Welche Fragen bewegten ihn z. B. nach den Unterschieden zwischen Mann und Frau, Erziehung und Bildung, Zivilisation und Kultur?

Einen Vergleich mit unserer heutigen gesellschaftlichen Situation und auch mit Balintgruppen kann man getrost dem Leser überlassen. Sicher bewegten diese Fragen auch den Autor bei der Arbeit an diesem Buch. Aber sie bewegten auch den Rezensenten bei der Lektüre. Ein Leser, der sich Zeit nimmt, kann viele Antworten in diesem Werk und im Inneren Dialog beim Lesen finden. Über die Zeit nach 1921, über das Dritte Reich und die Neo-psychoanalyse, der er sich erst nach dem Scheitern seines Engagements für die Freideutsche Jugend öffnet, wird genau so wenig geschrieben wie über die Einführung der kassenfinanzierten Psychotherapie unter der Führung von Annemarie Dührssen in Deutschland. In der anfänglich keineswegs unumstrittenen Neo-psychoanalyse übernahm er neben Freuds Psychoanalyse auch Elemente von C.G. Jung und A. Adler.

Zur Einstimmung in die Biografie von H. Schultz - Hencke seien Ausschnitte seiner familiären Vorgeschichte kurz erwähnt: Der wissenschaftliche und pädagogische Ehrgeiz vom Vater Dankmar Schultz - Hencke und den Großvätern.

Sie waren den neuen Themen der damaligen Zeit zugewandt, besonders den Fragen von Erziehung, Bildung und Wissenschaft. Beispielhaft werden eine „Photografische Lehranstalt“, ein „Verein zur Förderung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts“ und ein „Altwandervogel“ Verein zur Betreuung wandernder Schüler genannt. Nicht unerwähnt sei ein ungewöhnliches Hobby seines Urgroßvaters Carl Ludwig Hencke (1793–1866): Astronomie, die Arbeit an der Berliner Sternwarte, die Vervollständigung der damals geltenden Sternkarten und die Entdeckung eine Planetoiden. „Da er nur 2 Töchter hatte, erhielt er aufgrund seiner wissenschaftlichen Leistungen für seine Schwiegersöhne die Erlaubnis des Königs den Doppelnahmen Schultz- Hencke zu tragen“ ( St. Th. / S. 15).

Welchen Einfluß hatte der Vater auf die Entwicklung H. Schultz – Henckes ?. ...„vom Vater nicht genügend gesehen, insofern zurückgewiesen und innerseelisch von ihm enttäuscht, sucht sich H. Sch.-H. bei seiner „Flucht“ vor der Enttäuschung und auf seiner Suche nach Bindung ein neues Ziel, das die Hoffnung auf Zweisamkeit, auf eine Einheit mit dem Anderen erfüllt“ (St. Th./ S. 28). Von der Mutter schreibt H. Sch.-H. in seinem Lebenslauf: „Von ihr erhielt ich…. die ersten Anregungen in psychologisch- geisteswissenschaftlicher Richtung“. Nicht unerwähnt sei das Hobby der Mutter: Graphologie!

„In der Kritik von dem Vater, dem er vertraute und von der Stiefmutter sah H. Sch.-H. die Hauptwurzel seines Seins und Wollens“ (St. Th. /S. 29). „Kritik und Skepsis, ein Zerpflücken des Anderen sind wohl nicht nur als Abwehrmechanismus, sondern auch als originäres- als aggressiv – geltungsstrebiges – Antriebserleben anzusehen“( St. Th./ S. 30).

Neben dem Medizin Studium in Freiburg widmete er sich der Philosophie, Psychologie und Pädagogik. Er besuchte viele Vorlesungen und Seminare. Zur Politik fand er erst nach dem 1. Weltkrieg einen eher ambivalenten Zugang. Zur Psychoanalyse kam er erst viele Jahre später. Sein pädagogischer Ehrgeiz führte ihn am Beginn seiner Kariere zur Freideutschen Jugend, ihren idealistischen Vorstellungen, ihrer naturverbundenen Einstellung, ihren Wünschen nach Selbsterkenntnis und Gemeinschaft. Er gestaltete sie etliche Jahre mit.

Während und nach dem ersten Weltkrieg, an dem er freiwillig als frisch approbierter Arzt in Lazaretten und an der Front teilnahm (worüber St. Th. wenig schreibt) entfaltet sich sein berufspolitischer Ehrgeiz. Seine Vorträge stießen auf große Resonanz, was zu intensivem Austausch und Kontakt mit jenen führt, die nach dem Umsturz (1918/1919) nach neuen Zielen suchten. Die gegenseitige Wirkung auf Frauen, ihr Suchen und Finden, sich ihm Nähern und wieder Entfernen, werden in den Tagebüchern sehr offen aber auch kritisch aufgezeichnet. Das betrifft auch den Umgang mit prominenten Männern wie Gustav Wyneken oder Walther Rathenau, die er anfänglich begeistert aufsucht, bald aber distanziert kritisch hinterfragt, besonders, wenn sie sich seinen intellektuellen Fragen und Thesen widersetzen.