Traumatherapie mit BILATERALER STIMULATION Andreas Zimmermann
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Die EMDR-Therapie ruft belastende Gefühle und Erinnerungen wach und modifiziert diese
unter taktiler, visueller oder auditiver, bilateraler Stimulation.
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Patientenressourcen und -erkenntnisse stehen dabei im Mittelpunkt, sowie die drei
Wirkprinzipien Entkonditionierung, Aufmerksamkeitsteilung und Veränderung des synaptischen
Potenzials.
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Im beschriebenen Fall fand die zuvor hilflose und überforderte Patientin unter der
Therapie zu entscheidenden Einsichten über ihre Möglichkeiten, Ressourcen und anstehenden
Lebensentscheidungen.
Die Psychotherapeutin
und Begründerin der EMDR-Methode, Dr. Francine Shapiro, bemerkte bei einem Spaziergang
im Park ein interessantes Phänomen: Einige Ängste und stark belastende Gedanken, die
sich aufgrund einer bei ihr diagnostizierten Krebserkrankung eingestellt hatten, verschwanden
ohne erkennbare Ursache und traten auch nicht wieder auf. Dies inspirierte sie, nachzuforschen:
Was war an diesem Spaziergang anders? Sie erkannte, dass es die Bewegungen ihrer Augen
waren, zu denen sie durch die speziellen Lichtverhältnisse verleitet war. Das warf
die Frage auf: Konnten diese Reaktionen ursächlich für die Stimmungsverbesserung und
das Schwinden der negativen Gedanken sein? Daraus entwickelte Shapiro das Konzept
gezielter Augenbewegungen. Sie erprobte es zunächst an Freunden, Bekannten und Kollegen.
Dieses Vorgehen nannte sie „bilaterale Stimulation“, eine Links-rechts-Bewegung der
Augen.
Sie schloss intensive Studien mit PTBS-Patienten (Posttraumatische Belastungsstörung)
an, insbesondere Kriegsveteranen und Missbrauchsopfern. Seit dieser Zeit erfolgen
kontinuierlich weitere Schritte, um EMDR (für: Eye Movement Desensitization and Reprocessing)
zu evaluieren und die Wirkungsweise dieser Methode wissenschaftlich zu untermauern.
Mittlerweile weisen die Studien die hohe Effektivität und nachhaltige Wirkung von
EMDR auch über längere Zeiträume nach [[1]].
Erinnerungen, Gefühle und Verhaltensweisen durch bilaterale Stimulation modifizieren
Im Rahmen einer EMDR-Therapie soll der Patient unter Anleitung des Therapeuten Erinnerungen
an ein Trauma wachrufen. Dabei folgt er in der Regel mit den Augen den Fingern des
Therapeuten, der diese schnell und rhythmisch nach links und rechts bewegt. Durch
diese bilaterale Stimulation der linken und rechten Gehirnhälfte lassen sich negative
Erinnerungen neutralisieren und belastende Gefühle und Verhaltensweisen modifizieren.
Die Fingerbeziehungsweise Winkbewegungen finden in einer Geschwindigkeit statt, die
vom Patienten als entspannend und zugleich kraftvoll empfunden wird.
Taktil, visuell, auditiv: Welche Reize sind angenehm, welche nicht?
Besonders häufig und gut bewährt in Therapien ist die bilaterale Stimulation über
Augenbewegungen. In den letzten Jahren bieten Therapeuten weitere Reizmöglichkeiten
an, darunter taktil (zum Beispiel sanft klopfende Berührungen durch den Therapeuten),
auditiv oder visuell (Lichtreize).
Die sorgfältige Absprache (Feintuning) mit dem Patienten für das Vorgehen und die
Art der bilateralen Stimulation ist ein wichtiger Therapieschritt. So können als visueller
Reiz Eyemotion Glasses eingesetzt werden. Hierbei handelt es sich um eine Lichtbrille,
die bilaterale Lichtimpulse in der gewählten Geschwindigkeit auf die Netzhaut sendet.
Patient und Therapeut können somit während des Arbeitens nach Bedarf auch Augenkontakt
halten. Für manche Menschen ist das Erleben dieser passiven Stimulationsform angenehmer,
als den Winkbewegungen zu folgen.
Merke: Der Patient hat immer die Kontrolle über Art, Ort, Tempo, Dauer und Intensität
der Reize.
Abb. 1 Bei der visuellen bilateralen Stimulation folgt der Klient in der Regel mit
den Augen den Fingern des Therapeuten, der diese schnell und rhythmisch nach links
und rechts bewegt (Symbolbild). Quelle: Kirsten Oborny, Thieme Gruppe
Feintuning: Patient bestimmt Ort, Tempo und Intensität der Berührung
Wenn der Patient sich für die taktile Form der bilateralen Stimulation entscheidet,
ist zu klären, ob er vom Therapeuten berührt werden kann oder nicht. Wichtig ist für
jede Form von Berührung die Erlaubnis des Patienten. Danach beginnt mit ihm das weitere
Feintuning. Zunächst bieten wir leichtes Tapping, ein sanftes Klopfen an unterschiedlichen
Körperstellen, an (zum Beispiel Knie, Handrücken, Schulter). An der ausgewählten Stelle
wird abgestimmt, wie schnell und intensiv die Berührung sein kann, sodass sie als
möglichst kraftvoll erfahren wird. Der Patient hat immer die Kontrolle über Art, Ort,
Tempo und Intensität der Berührung.
Für die auditive bilaterale Stimulation eignen sich verschiedene Klangquellen, vom
Fingerschnipsen über Klanghölzer bis hin zu Trommeln oder CDs, bei denen spezifische
Musikstücke mit bilateraler Stimulation unterlegt sind.
Drei Wirkprinzipien, um Belastendes aus dem Traumaspeicher zu befreien
Den seelischen Heilungsprozess, der durch EMDR initiiert wird, nannte Francine Shapiro
AIP (Acceleratet Information Process), übersetzt: Prozess der beschleunigten Informationsverarbeitung.
Hierbei kommen nach der EMDR-Theorie drei Wirkprinzipien zusammen: Entkonditionierung,
Aufmerksamkeitsteilung und die Veränderung des synaptischen Potenzials.
Entkonditionierung: Entspannung nach heftigem Einstieg
Der Patient wird zu Beginn der Stimulationsphase in der Regel gebeten, mit dem Bild
des schlimmsten Momentes seiner Belastung zu starten. Durch die Arbeit mit den Augenbewegungen
wird er daraufhin wieder ruhiger und entspannter. Ein parasympathischer Effekt tritt
ein.
Aufmerksamkeitsteilung: Frühere Belastung mit dem Jetzt koppeln
Eine besondere Rolle kommt der Aufmerksamkeitsteilung zu. Der Patient wird zu Beginn
der Stimulationsphase aufgefordert, mit einem Teil seiner Aufmerksamkeit in seiner
Vorstellung bei dem belastenden Erlebnis zu sein und mit dem anderen Teil den Fingerbewegungen
des Therapeuten gezielt zu folgen. Somit findet eine permanente Hier-und-Jetzt-Orientierung
statt.
Veränderung des synaptischen Potenzials: Vom Hot System ins Cool System
Durch die wechselseitige Aktivierung der Amygdala als paariges Organ wird der wechselseitige
Impuls der bilateralen Stimulation an beide Großhirnhälften weitergegeben. Dies regt
den ganzheitlichen Verarbeitungsvorgang im Gehirn an. Dabei entsteht ein assoziativer
Zugang zu den betroffenen neuronalen Netzwerken.
Zurückgebliebene Traumafragmente werden durch EMDR zu einer ganzheitlichen Erfahrung.
Die Traumafragmente, die im Hot System (implizites, also unbewusstes Gedächtnis) nach
der Traumatisierung zurückgeblieben sind, werden durch EMDR zu einer ganzheitlichen
Erfahrung, die im Cool System (explizites, bewusstes Gedächtnis) abgespeichert ist
- und somit zu einem Teil der eigenen Lebensgeschichte. Die bilaterale Stimulation
fördert auch die Produktion von Acetylcholin. Dieses wird unter anderem in den REM-Phasen
unseres Schlafs ausgeschüttet und ist neben seinen vielen anderen Funktionen für die
Verarbeitung von Affekten und Assoziationen zuständig.
Zugang zu Ressourcen als Voraussetzung von EMDR
Ressourcen scheinen in der Psychotherapie das eigentlich wirksame Element der Heilung
zu sein. Im Traumaerleben haben sie zur Bewältigung der Situation nicht ausgereicht.
So ist es in der Therapie umso wichtiger, Kompetenzen und Ressourcen - auch bereits
in der Anamnese - bewusst zu machen und ihre Kraft zu verstärken.
Indikationen und Kontraindikationen der EMDR-Therapie
EMDR lässt sich insbesondere zur Behandlung der PTBS bei Erwachsenen und Kindern einsetzen.
Ferner ist die Methode bei akuten Traumatisierungen indiziert, sofern sichergestellt
ist, dass der Patient stabil und für die Behandlung mit EMDR geeignet ist (siehe Kontraindikationen).
Wirksam ist EMDR auch bei extremen Trauerreaktionen, Angst- und Panikstörungen, bei
der Bewältigung von Unfallfolgen, Phobien, sexuellen Dysfunktionen, chronischen Schmerzen
und psychosomatischen Störungen. Ergänzend findet die Therapie auch bei der Bewältigung
somatischer Erkrankungen Anwendung. Zudem existieren spezifische Protokolle für die
Behandlung von Allergien, Zwängen, Burnout, Tinnitus und Zahnarztangst. Darüber hinaus
gibt es Protokolle zur Veränderung unerwünschter Verhaltensweisen bis hin zur Bearbeitung
substanzgebundener Süchte.
Klassische Kontraindikationen sind aktuelle psychotische Syndrome, hirnorganische
Erkrankungen, reduzierte Ich-Stärke, starker sekundärer Störungsgewinn und fehlende
Therapiemotivation. Bei Augenerkrankungen sollte auf eine Stimulation der Augen verzichtet
werden. Hier kann jedoch eine taktile oder auditive bilaterale Stimulation eingesetzt
werden.
Abb. 2 Setting beim EMDR. Der Therapeut sitzt schräg versetzt zum Klient in einem
Abstand, den der Klient bestimmt (Symbolbild). Quelle: Zimmermann A. EMDR für Heilpraktiker.
Stuttgart: Haug; 2020
Wer darf EMDR lernen und anwenden?
EMDR ist eine psychotherapeutische Methode, anwendbar im Rahmen der Sorgfaltspflicht,
ob von Ärzten, Psychotherapeuten oder Heilpraktikern. Dies beinhaltet, dass der Therapeut
nur Methoden einsetzt, die lege artis erlernt wurden. Das heißt, dass nach einer psychotherapeutischen
Grundausbildung die EMDR-Weiterbildung selbsterfahrungsorientiert, von Supervisionen
begleitet und mit entsprechend notwendigen Ausbildungsinhalten in einem qualifizierten
Ausbildungsinstitut absolviert wird. Der Mythos, dass „EMDR“ markenrechtlich geschützt
sei, trifft nicht zu.
Fallbeispiel Überforderung und Hilflosigkeit: Die acht Schritte des EMDR-Protokolls
Folgender Fall veranschaulicht den Ablauf eines klassischen EMDR-Protokolls: Frau
L. (Name von der Redaktion geändert), 33 Jahre alt, in zweiter Ehe verheiratet, zwei
Kinder aus erster, ein Kind aus zweiter Ehe, erschien in meiner Praxis zum Erstgespräch.
Sie litt seit mehreren Monaten zunehmend an einem starken seelischen Druck, vermehrt
auftretender Aggressivität, starkem Gedankenkreisen sowie einem erhöhten, körperlich
spürbaren Druck und Brennen in der Herzgegend. Organische Ursachen waren in der Vorgeschichte
bereits ausgeschlossen worden. Frau L. erlebte sich selbst in zunehmendem Maß einer
Überforderungssituation ausgesetzt, in der sie neben ihrem beruflichen Engagement
das gesamte häusliche Umfeld organisieren musste - von der intensiven Begleitung der
Kinder (3, 13 und 14 Jahre) bis hin zur Versorgung der Mutter, die mit im Familienverbund
wohnte. Immer wieder kam es zu Streitereien zwischen ihrem Mann und ihren beiden jugendlichen
Söhnen. Auch der Konflikt ihres Mannes mit ihrer Mutter spitzte sich zu. Ihre Reaktion
auf diese Probleme war von einem ambivalenten Verhalten geprägt, das sich einerseits
durch impulsive und ungewollte verbale, unangemessene Aggression zeigte und andererseits
durch zunehmenden inneren Rückzug. Ihre Gedanken kreisten immer mehr um die jeweiligen
Konflikt- und Belastungsthemen. Somit fiel es ihr im Lauf der Zeit immer schwerer,
klare und konstruktive Gedanken zu fassen und sich zu konzentrieren.
Umfeld, Visionen, Gefühlsmanagement: Welches sind die Ressourcen und Ziele?
Die Ressourcendiagnostik zeigte ein gutes und kraftvolles soziales Umfeld, repräsentiert
durch die Beziehung zu ihren Kindern, der Mutter und ihrem Freundeskreis. Ferner hatte
sie eine klare Vision von einer beruflichen Neuorientierung und damit verbundener
Selbstständigkeit. Dieses Ziel wurde jedoch nicht von ihrem Mann unterstützt. Als
Ressource zeigte sich auch die Verbindung zu ihrem Körper. Ihr Ziel für die gemeinsame
therapeutische Arbeit bestand darin, in Situationen angemessen zu reagieren sowie
ihre Emotionen besser steuern und kontrollieren zu können. Sie wollte außerdem wieder
klar und konzentriert denken und ein freieres, gelösteres Körpergefühl in der Herzgegend
empfinden.
Anamnese und Auslösesituation
In der Anamnese arbeiteten wir Erinnerungs- und Auslösesituationen sowie mögliche
Zukunftsängste heraus. Dazu beschäftigten wir uns mit einer Auslösesituation, die
unmittelbar vorher stattgefunden hatte: Frau L. war beruflich unterwegs, führte ein
Telefonat mit ihrem Mann zu Hause und musste erfahren, dass es wieder Streitigkeiten
zwischen ihm und dem 13-jährigen Sohn gegeben hatte. Er war ihrem Sohn offenbar wieder
unangemessen und abschätzig begegnet. Während des Telefonats traten unmittelbar wieder
das Druckgefühl und das Brennen in der Herzgegend auf. Verstärkt wurde dieses Erleben
durch die Unfähigkeit, aus der Ferne regulierend wirksam sein zu können. Auf dieser
Grundlage war es ihr auch nicht möglich, klar und authentisch mit ihrem Mann zu kommunizieren.
Was sie ihm eigentlich sagen wollte, hielt sie in diesem Telefonat zurück. Diese Situation
wählten wir zum Einstieg in die Sitzung aus.
1. Stoppsignal
Auch in letzter Instanz vermittle ich den Patienten das Gefühl von Kontrolle. Da manche
beim Erleben eines Flashbacks nicht in der Lage sind, zu verbalisieren (vergleichbar
einer Blockade des Sprachzentrums), wird ein nonverbales Signal gewählt. Als Stoppsignal
(insbesondere bei emotionaler Überforderung) vereinbarten wir das Heben ihrer linken
Hand.
2. Sicherer Ort
Als sicheren Ort, der in der Anamnese herausgearbeitet wird, beschrieb die Patientin
einen kraftvollen Ort in der Natur. Das dortige Sicherheitsempfinden ging in Resonanz
mit einem körperlichen Gefühl von Wärme und Leichtigkeit im Solarplexus, das sich
von dort aus in den gesamten Körper ausbreitete.
VOC- und SUD-Skala als Gefühlsbarometer
VOC-Skala steht für Validity of Cognition. Mit ihrer Hilfe bewertet der Patient, wie
stimmig eine positive Kognition in Bezug zum schlimmsten Moment des Erlebens auf einer
Skala von 1-7 ist. Die Ziffer 1 steht hierbei für maximal unstimmig, 7 für maximal
stimmig.
Die SUD-Skala (Subjektiv Units of Disturbance) bemisst auf einer Skala von 0-10, wie
belastend der schlimmste Moment für den Patienten ist. 0 steht hierbei für überhaupt
nicht, 10 für maximal belastend.
3. Auswahl der bilateralen Stimulation
Die bilaterale Stimulation bildet das Kernstück der EMDR-Thera-pie und kann taktil,
auditiv oder visuell erfolgen. Frau L. entschied sich für das Arbeiten mit Augenbewegungen.
4. Bewertung
Der schlimmste Moment in der Auslösesituation war für sie die Unmöglichkeit, aus der
Ferne zu intervenieren. Die Vorstellung der Konfliktsituation zwischen ihrem Mann
und ihrem Sohn war von dem Körpergefühl des Drucks und Brennens am Herz begleitet.
Ihre negative Kognition lautete: „Ich kann nichts tun.“ Ihre positive Kognition formulierte
sie folgendermaßen: „Ich kann mich wirksam ausdrücken.“ Auf der VOC-Skala vergab sie
einen Wert von 2 und auf der SUD-Skala eine 8 (Erklärung der Skalen siehe Kasten).
5. Reprocessing
Reprocessing stellt die eigentliche EMDR-Prozessarbeit dar. Sie beinhaltet insbesondere
die bilaterale Stimulation. Prozessarbeit in der Psychotherapie bedeutet, dass nichts
Konkretes geschehen muss oder soll, aber Raum für die individuellen, inneren Prozesse
des Patienten vorhanden ist. Wir starteten mit der gewählten Auslösesituation. In
den ersten Serien (eine Serie ist eine Abfolge von ca. 40 Sets, ein Set eine Hin-und-Her-Bewegung
der Augen) passierte gar nichts. Daraufhin lud ich sie ein, mit dem „nichts“ einfach
weiterzugehen. Nach weiteren Serien stellte sich ein leichteres und weiteres Körpergefühl
in der Herzgegend ein. Der Druck sowie das Brennen ließen immer mehr nach. Mit diesem
ressourcenvollen Erleben gingen wir im Prozess einige Serien weiter, bis Frau L. sich
als weiteren Ressourcen der guten Beziehung zu ihren Kindern und ihrer Mutter bewusst
wurde. Damit gingen wir im Prozess weiter bis zu einem Zeitpunkt, an dem sie sehr
berührt und emotional reagierte und auch Tränen flossen. Mit dem Hinweis „Alles, was
auftaucht, darf sein, und auch Tränen dürfen fließen, und Sie gehen weiter mit den
Bewegungen meiner Finger und Ihrem inneren Erleben“ folgte sie weiter ihrem Prozess
über mehrere Serien hinweg, bis plötzlich aus ihr herausbrach: „Ich muss mich von
ihm trennen, ich muss ihn verlassen.“
Im weiteren Prozess kam es zu mehreren Höhen und Tiefen. Diese waren einerseits von
einer klaren Erkenntnis und einer damit verbunden konsequenten Entscheidung, andererseits
aber auch von deren Konsequenz gekennzeichnet, darunter schwere, konfliktbeladene
Gespräche, emotionale Belastungen für die Kinder und Organisation der Trennung. Nach
diesen Prozessinhalten formulierte sie auf einmal: „Ich gehe meinen Weg!“
In den weiteren Serien entwickelten sich nun ein enormes Ressourcenerleben sowie eine
hohe Verbindlichkeit ihr selbst und ihrem Lebensweg gegenüber. Es zeigten sich daraufhin
positive Zukunftsassoziationen, die ihren Weg kennzeichneten und in ein Abschlussbild
mündeten: Sie sah sie sich selbst in einem entspannten friedlichen Ambiente in einem
Pavillon sitzen, wo sie in ein Buch schrieb. Nachdem sie den Satz „Ich gehe meinen
Weg“ formuliert hatte, fragte ich sie, ob dies eine neue Kognition sei. Sie bejahte
und unterstrich, wie kraftvoll diese für sie sei.
6. Verankerung
Die Verankerung beschreibt das Ende der Reprocessingphase, das Abfragen der Skalierungen
und gegebenenfalls eine Verfestigung der positiven Kognition. Hinsichtlich des VOC-Wertes
fragte ich beide Kognitionen ab. Die Erkenntnis „Ich gehe meinen Weg“ bewertete sie
mit einer Stimmigkeit von 7, die Kognition „Ich kann mich wirksam ausdrücken“ mit
einer 5 (hier lag eine Restunstimmigkeit nach ihrer eigenen Aussage dadurch vor, dass
die Trennungsgespräche definitiv nicht einfach und emotionslos ablaufen würden). Den
Grad der emotionalen Belastung bewertete die Patientin angesichts des emotional schwierigen,
aber notwendigen Schritts der Trennung auf der SUD-Skala mit einer 3. In der Herzgegend
beschrieb sie ein gelöstes, freieres und leichteres Gefühl.
7. Body Scan
Als Body Scan bezeichnet man das gedankliche Abtasten (scannen) des eigenen Körpers
mit dem Ziel, die eigenen Körperempfindungen, Gedanken und Gefühle wahrzunehmen und
sich dieser bewusst zu werden, ohne sie zu bewerten. Dabei vergewissert sich der Patient
der Leichtigkeit im Körper, in den Gedanken und Gefühlen.
8. Abschlusstechniken
Bei den Abschlusstechniken geht es darum, den Patienten stabil aus der Sitzung zu
entlassen und ihm für den Zeitraum zwischen den Sitzungen Sicherungs-, Ressourcen-
und Überbrückungstechniken an die Hand zu geben. Diese sind zum Beispiel der sichere
Ort, das Führen eines Therapietagebuches oder das Malen eines Bildes. Auch das Nutzen
eines imaginierten Tresors bietet sich an, in dem inneres Material abgelegt werden
kann. Ich lud die Patientin ein, ihr Abschlussbild vom Pavillon zu imaginieren, begleitet
von dem Bewusstsein, ihren Weg zu gehen.
In der nächsten Sitzung fragte ich die VOC- und SUD-Werte ab, die sich unverändert
stabil gehalten hatten. Wir setzten daraufhin unsere Arbeit am Thema der erlebten
Hilflosigkeit fort.
Eignung als Kombinations- oder Einzeltherapie, strukturierte oder virtuose Methode
Das Arbeiten mit EMDR ist ein spannender, dynamisierender Prozess, wie das Fallbeispiel
zeigt. Patient und Therapeut können dabei gleichermaßen die Veränderungen wahrnehmen.
Die Anwendung beschränkt sich nicht nur auf die Traumatherapie. EMDR verhält sich
zu allen anderen Arbeitsmethoden synergetisch. Das Verfahren lässt sich sehr gut mit
den anderen Kompetenzen aus dem psychotherapeutischen Werkzeugkoffer verbinden. Dies
erlaubt einerseits ein sehr strukturiertes Arbeiten anhand der einzelnen EMDR-Protokolle,
die sich jeweils auf spezifische Indikationen ausrichten. Zum anderen ist aber auch
freies Arbeiten möglich, in dem sich Intuition und Synergien entfalten können.
Dieser Artikel ist online zu finden:
http://dx.doi.org/10.1055/a-1095-3478