Einleitung
In der rehabilitativen Versorgung sollen Maßnahmen angewendet werden, deren
Wirksamkeit nachgewiesen ist. Stehen verschiedene Behandlungsalternativen zur
Verfügung, so sollte diejenige Maßnahme in Anspruch genommen werden,
die mit der höchsten Wahrscheinlichkeit zur Erreichung des Behandlungsziels
führt oder die größte Verbesserung der Gesundheitsmerkmale
der Rehabilitanden erwarten lässt. Rehabilitationswissenschaftliche
Forschung muss die Basis dafür schaffen, damit diese Ansprüche in
der Praxis umgesetzt werden können. Es bedarf systematischer Studien, die
ermitteln, ob und in welchem Ausmaß eine Maßnahme die
Gesundheitssituation und die Fähigkeit zur beruflichen oder
gesellschaftlichen Teilhabe der Rehabilitanden positiv beeinflusst. Liegt ein
solider Nachweis der Wirksamkeit einer Maßnahme vor, so wird der Begriff der
Evidenz [lat. evidentia Ersichtlichkeit, Klarheit; engl. evidence Beweismittel]
verwendet. Evidenzbasierte Rehabilitation bedeutet, dass für die
applizierten Rehabilitationsmaßnahmen nachgewiesen wurde, dass diese
ursächlich eine Besserung des Gesundheitszustands bzw. der Teilhabe der
Rehabilitanden bewirken.
Grundlage der evidenzbasierten Rehabilitation sind die Standards der Evidenzbasierten
Medizin (EbM), die von Sackett et al. [1; S. 644] folgendermaßen formuliert
werden: „EbM ist der gewissenhafte, ausdrückliche und
vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen,
wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen
Versorgung individueller Patienten. Die Praxis der EbM bedeutet die Integration
individueller klinischer Erfahrung mit der bestmöglichen externen Evidenz
aus systematischer Forschung“. Obwohl diese Grundüberlegungen und
Definition zunächst unmittelbar plausibel erscheinen, sind Methoden und
Standards, die evidenzbasiertes Entscheiden und Handeln in der Praxis
gewährleisten sollen, Gegenstand kritischer Diskussionen [2 ]
[3 ]
[4 ]
[5 ]. Wie lässt sich die Wirksamkeit einer
Rehamaßnahme nachweisen? Müssen für
rehabilitationswissenschaftliche Studien dieselben Standards erfüllt sein
wie für Studien zum Nachweis der Wirksamkeit von Arzneimitteln? Welche
Informationen sind erforderlich, damit die individuelle Situation des Rehabilitanden
mit den Erkenntnissen aus klinischen Studien angemessen integriert in eine
Entscheidung münden kann? Wie kann in der Versorgungspraxis die Integration
individueller klinischer Erfahrung der Behandelnden mit der bestmöglichen
externen Evidenz angemessen gelingen?
In diesem Beitrag wird zunächst aus forschungsmethodischer Sicht
geklärt, welche Studienmerkmale ausschlaggebend dafür sind, damit
die Wirksamkeit einer Maßnahme aussagekräftig geprüft werden
kann. Anschließend wird gezeigt, dass Rehamaßnahmen als komplexe
Interventionen aufgefasst werden müssen, die einer soliden theoretischen
Fundierung bedürfen und auf die jeweiligen Rahmenbedingungen der
Rehabilitandenversorgung abgestimmt implementiert werden müssen.
Studiendesigns zum Nachweis der Wirksamkeit rehabilitativer
Behandlungsmaßnahmen
Die Aussagekraft empirischer Befunde wird maßgeblich durch das
Studiendesign bestimmt. Im Studiendesign ist festgelegt, unter welchen
Bedingungen (Untersuchungsbedingungen) bei welchen Studienteilnehmern
(Stichprobe) wann (Messzeitpunkte) welche Daten (Untersuchungsmerkmale) wie
(Erhebungsinstrumente) erhoben werden [6 ]
[7 ]. Um den Effekt einer
Behandlungsmaßnahme (Intervention, Treatment) eindeutig bestimmen zu
können, sind folgende Designelemente wichtig:
Es muss sich um eine Interventionsstudie handeln, bei der die
Forschenden in die Versorgung eingreifen, indem sie die
Behandlungsmaßnahme unter kontrollierten und standardisierten
Bedingungen applizieren. Es bedarf einer genauen Klärung, wann
die Maßnahme wie bei welchen Rehabilitanden (Ein-/
Ausschlusskriterien) angewendet wird. Wird die Wirksamkeit einer bereits
implementierten Maßnahme untersucht, so muss bestimmt werden, ob
und in welchem Ausmaß die Zielerreichung durch den Einsatz der
Maßnahme (Intervention) bedingt ist.
Es muss eine kontrollierte Studie durchgeführt werden,
d. h. eine Gruppe von Studienteilnehmern, die die
Behandlungsmaßnahme erhält (Interventionsgruppe), muss
mit einer Gruppe verglichen werden, die die Maßnahme nicht
erhält (Kontrollgruppe). Die parallele Untersuchung einer
Kontrollgruppe ist wichtig, weil davon ausgegangen werden muss, dass
sich z. B. der Gesundheitszustand – insbesondere bei
chronischen Erkrankungen (ggf. progredienter Verlauf) oder bei
vorangehendem medizinischem Eingriff aufgrund des natürlichen
Heilungsverlaufs (Programmexterne Störfaktoren [8 ]) – auch ohne die Intervention
verändern würde. Ein Eingruppen-Prä-Post-Design,
bei dem lediglich die Entwicklung in der Interventionsgruppe ermittelt
wird, ist deswegen nicht geeignet, messbare Veränderungen im
Zeitverlauf als eindeutig behandlungsbedingt nachzuweisen.
Die Interventions- und Kontrollgruppe dürfen sich
ausschließlich in der zu prüfenden Intervention
unterscheiden , alle anderen Eigenschaften der Studienteilnehmer
und Elemente der Versorgung müssen in beiden Gruppen –
bis auf zufällige Unterschiede – gleich sein. Die
Kontrollgruppe kann entweder unbehandelt bleiben oder eine
übliche Standardbehandlung (treatment-as-usual- bzw.
TAU-Bedingung) bzw. eine – in der Rehabilitation zumeist nicht
realisierbare – Placebo-Maßnahme (Scheinbehandlung)
erhalten. Bildet die Intervention ein ergänzendes Element zur
TAU-Behandlung, so wird die inkrementelle Wirksamkeit der Intervention
bestimmt.
Die Studienteilnehmer müssen zufällig den
Vergleichsbedingungen zugewiesen werden (Randomisierung ). Dies
ist wichtig, um die Strukturgleichheit der Interventions- und
Kontrollgruppe gewährleisten zu können. Die
Randomisierung stellt bei hinreichend großen Stichproben (zur
Bestimmung notwendiger Stichprobengrößen: [9 ]) sicher, dass sich die Gruppen auch in
unbekannten bzw. nicht gemessenen Variablen nicht systematisch
unterscheiden. In der Routinepraxis erfolgt die Zuteilung zu
Behandlungen hingegen nicht randomisiert. In der Regel werden
behandlungsbezogene Merkmale für die Wahl der
Behandlungsalternative herangezogen: So kann bspw. der Eindruck des
Behandlers, die Präferenz des Rehabilitanden, das aktuell
verfügbare Behandlungsangebot oder die Art bzw. Schwere der
Erkrankung ausschlaggebend für die Wahl der Behandlungsform
sein. Insofern die Entscheidungsmerkmale sowohl mit der Wahl der
Behandlungsalternative (unabhängige Variable) als auch dem
Bewertungskriterium (z. B. Gesundheitszustand;
Zielgröße bzw. abhängige Variable) in
Zusammenhang stehen, muss davon ausgegangen werden, dass diese den
Interventionseffekt überlagern und der empirisch nachweisbare
Unterschied der Besserung des Gesundheitszustand oder der Teilhabe
zwischen Interventions- und Kontrollgruppe den Interventionseffekt nur
verzerrt widerspiegelt. Solche verzerrend wirkenden Merkmale werden als
„konfundierende Variablen“ bezeichnet [8 ]. Konfundierende Variablen
repräsentieren Merkmale, die sowohl mit der
Behandlungsmaßnahme als auch der Zielgröße in
Zusammenhang stehen (z. B. Behandlungsmotivation bei wunsch-
oder bedarfsgemäßer Wahl der Behandlungsalternative),
und somit die Stärke des ursächlichen Zusammenhangs von
Behandlungsmaßnahme und Zielgröße verzerren. Die
Randomisierung stellt also das technische Mittel dar, um solche
Konfundierungen ausschließen zu können.
Die Veränderung der Zielgröße , die durch
die Intervention positiv beeinflusst werden soll (z. B.
Gesundheitszustand), muss erfasst werden. Dazu ist eine Messung des
Zielmerkmals vor der Interventionsphase, unmittelbar im Anschluss sowie
nach Rückkehr in den Alltag (z. B. 3, 6 oder 12 Monate
nach Behandlungsende) sowohl in der Interventions- als auch in der
Kontrollgruppe erforderlich (Prä-Post-Follow-up-Design).
Zielgrößen, die die Teilhabe erfassen (z. B.
return-to-work), bedürfen in der Regel einer besonders langen
Nachverfolgung (z. B. 24 Monate), damit Effekte der
Rehabilitation valide evaluiert werden können.
Das Prinzip der Verblindung fordert, dass Rehabilitanden
und/oder Behandelnde (einfache bzw. doppelte Verblindung) keine
Kenntnis darüber haben, wer der Behandlungs- bzw. Kontrollgruppe
zugewiesen wurde. Dies ist wichtig, damit das Wissen über die
Gruppenzugehörigkeit die Erwartungen und das Verhalten der an
der Studiendurchführung Beteiligten die Studieneffekte nicht
verfälscht (Treatmentkontaminationen [8 ]). In rehabilitationswissenschaftlichen Studien kann eine
Verblindung oft nicht realisiert werden, weil es sich um
natürliche Behandlungssettings handelt, in denen Patienten und
Behandelnde umfassend über den Studienhintergrund (informed
consent) und die Behandlungsmerkmale informiert werden müssen.
In der Rehaversorgung sind der Kontrollierbarkeit und Manipulierbarkeit
der Studienbedingungen durch die Forschenden aufgrund der
organisatorischen, rechtlichen und sozialen Umsetzungs- und
Rahmenbedingungen Grenzen gesetzt. Grundsätzlich gilt
für die Evaluation komplexer Interventionen (s. unten) in
Versorgungseinrichtungen, dass die Verblindung nicht als obligatorischer
Anspruch eingefordert werden kann: Potentiell treatmentkontaminierende
Effekte aufgrund mangelnder Verblindung bedürfen deswegen einer
besonders detaillierteren Analyse im Rahmen des Studienmonitorings [3 ]
[4 ]
[6 ]
[8 ].
Randomisiert Kontrollierte Studien (RCTs ; synonym: Experimentelle
Studien ) lösen diese Ansprüche an Wirksamkeitsstudien
ein und gelten als Methode der Wahl („Goldstandard“) zum
Nachweis der Wirksamkeit. Aufgrund der Randomisierung ist sichergestellt, dass
Vergleichsgruppen mit gleichen Ausgangsbedingungen untersucht werden [10 ]
[11 ]. Da bei sachgerechter Durchführung
von RCTs Konfundierungen ausgeschlossen werden können, kann der
ursächliche Einfluss (Kausalität) der unabhängigen
Variable (Behandlungsmaßnahme) auf die Zielgröße als
belegt gelten, wenn sich die Zielgröße in der
Interventionsgruppe positiver über die Zeit entwickelt als in der
Kontrollgruppe. RCTs besitzen im Sinne des Evidenznachweises somit eine hohe
interne Validität, weil die Studienbefunde eindeutig im Sinne eines
kausalen Wirkeffekts interpretiert werden dürfen. In [Abb. 1a ] ist die Grundstruktur des RCT schematisch
abgebildet. Eine höhere Evidenz als RCTs (Evidenzstufe Ib; [12 ]) besitzen lediglich Metaanalysen, in denen die
Befunde mehrerer RCTs zusammengefasst werden: Zum einen, weil die Stärke
des Effekts durch die Integration der Befunde aufgrund der höheren
Fallzahl stabiler und genauer bestimmt werden kann. Zum anderen, weil Studien in
unterschiedlichen Anwendungskontexten durchgeführt werden und so in
Metaanalysen ein breiteres und heterogeneres Anwendungsspektrum integriert
berücksichtigt wird. Für eine zusammenfassende
Effektschätzung muss sichergestellt sein, dass in allen zugrunde
liegenden Primärstudien derselbe Interventionseffekt geschätzt
wird. Erweist sich die Variabilität der Interventionseffekte als zu
groß, so können Ursachen für variierende Effekte
Hinweise auf moderierende Anwendungsbedingungen geben. Das Wissen zur
Übertragbarkeit bzw. externen Validität der Studienbefunde wird
somit konsolidiert, da diese unabhängiger von den spezifischen
Studiensettings sind oder der Einfluss der Studiensettings genauer angegeben
werden kann.
Abb. 1 Kontrollierte Studiendesigns a Randomisiert
kontrollierte Studie (RCT) bzw. Experimentelle Studie b
Nicht-randomisiert kontrollierte Studie bzw. Quasiexperimentelle Studie.
c Prospektive Kohortenstudie [Beobachtungsstudie]. d
Retrospektive Fall-Kontrollstudie [Beobachtungsstudie]
Dass RCTs in der rehabilitationswissenschaftlichen Forschung nur selten
angewendet werden, ist v. a. dadurch bedingt, dass deren
Durchführung in der Praxis sehr anspruchsvoll ist. Insbesondere die
Forderung nach Randomisierung wird oft als nicht realisierbar
eingeschätzt, sodass auf Studiendesigns mit geringerem Evidenzgrad
ausgewichen wird. Bzgl. der Klarheit und Verlässlichkeit der empirischen
Evidenz hat dies jedoch stets negative Auswirkungen: Jede Abschwächung
des Studiendesigns hat zur Folge, dass die Interpretation der empirischen Daten
spekulativer und fehleranfälliger erfolgen muss. Bei einer
nicht-randomisierten kontrollierten Studie ([Abb. 1b ]; synonym: Quasiexperimentelle Studie ) muss mit
Verzerrung der Studienbefunde aufgrund von Konfundierungen gerechnet werden
(s. o.). Deswegen müssen für diese Studienform
mögliche Verzerrungen durch statistische Korrekturverfahren in
Sensitivitätsanalysen evaluiert werden (z. B. Parallelisierung,
regressionsanalytische Korrekturverfahren, Propensity Score Matching [13 ]). Der Nutzen dieser Verfahren ist jedoch
entscheidend davon abhängig, dass die vor der Interventionsphase
zwischen den Vergleichsgruppen bestehenden Unterschiede vollständig
durch die statistisch kontrollierten Merkmale abgebildet werden: Nur wenn eine
gut begründete Korrektur des Einflusses möglicher
konfundierender Variablen erfolgt, handelt es sich um eine Studie mit
Evidenzgrad IIa. Letztendlich ist aber jede Begründung der
berücksichtigten Kontrollvariablen zumindest in gewissem Maße
theorieabhängig, sodass die interne Validität der Befunde nie
als vollständig gewährleistet gelten kann. Zudem ist eine valide
Erfassung aller identifizierten potentiell konfundierenden Merkmale oft
praktisch nicht umsetzbar.
Raspe und Hüppe ([14 ]; vgl. auch [15 ]) weisen darauf hin, dass Mängel in der
Einhaltung von Studienstandards als wichtige Hindernisse einer evidenzbasierten
Gestaltung der Rehabilitation zu berücksichtigen sind. Wesentliche
Defizite in der Forschungs- und Anwendungspraxis sind zum einen dadurch bedingt,
dass die konkrete technische Studiengestaltung (z. B. Vereinheitlichung
von Ein- und Ausschlusskriterien, Fallzahlplanung, angemessene
Nachbeobachtungszeiten, Mindestanforderungen an sozialmedizinische
Zielparameter) nicht angemessen erfolgt. Zum anderen bestehen Mängel in
der einheitlichen Berichtsqualität, die eine wesentliche Voraussetzung
für verlässliche Wirksamkeitsnachweise und die evidenzbasierte
Versorgung in der Rehabilitation darstellt. Dass hohe Qualitätsstandards
für Wirksamkeitsstudien in der Rehabilitation in Deutschland trotz
vielfältiger Barrieren in der Anwendung erfolgreich umgesetzt werden
können, wird durch vielfältige Studienbeispiele belegt
[z. B. [16 ]
[17 ]
[18 ]
[19 ]
[20 ]
[21 ]].
Um Effekte von Rehabilitationsmaßnahmen oder
gesundheitsförderlicher bzw. -schädigender Verhaltensweisen oder
Umweltbedingungen zu untersuchen, wird zudem auf Studiendesigns aus der
Epidemiologie zurückgegriffen – insbesondere prospektive
Kohortenstudien, retrospektive Fall-Kontrollstudien und korrelative
Beobachtungsstudien. Diese werden in der Rehabilitationsforschung –
ähnlich wie kontrollierte Interventionsstudien – auch mit dem
Ziel eingesetzt, Effekte von Rehabilitationsmaßnahmen auf die
langfristige Entwicklung der Gesundheit der Rehabilitanden oder deren
Fähigkeit zur Teilhabe zu analysieren. Solche epidemiologischen
Studiendesigns können jedoch lediglich Hinweise auf mögliche
Wirkeffekte liefern, da Verzerrungen aufgrund konfundierender Variablen nicht
gesichert ausgeschlossen werden können [8 ].
In prospektiven Kohortenstudien ([Abb. 1c ])
findet keine randomisierte Zuweisung zu Vergleichsgruppen statt. Stattdessen
wird über einen längeren Zeitraum betrachtet, welche potentiell
gesundheitsrelevanten Bedingungen die Lebenswelt der Studienteilnehmer
kennzeichnen. Zu Studienbeginn wird der Zustand der Teilnehmenden dokumentiert.
Die Teilnehmenden sind dann in ihrem alltäglichen Leben bestimmten
Bedingungen ausgesetzt (z. B. freiwillige Teilnahme am Betriebssport im
Anschluss an die Reha, um die Verstetigung der Veränderung des
Lebensstils zu unterstützen) oder nicht (Kontrollbedingung). Im
Zeitverlauf wird die Entwicklung dokumentiert und in Bezug auf die untersuchten
Bedingungsfaktoren ausgewertet. So erhält man Erkenntnisse, welche
Einflussfaktoren mit einer günstigeren oder ungünstigeren
Entwicklung des Gesundheitszustands bzw. der Teilhabe einhergehen.
Eine besondere Stärke der prospektiven Kohortenstudie besteht darin, dass
langfristige Gesundheitsentwicklungen abgebildet werden. Jedoch besteht ein
hohes Risiko von Konfundierungen: Wird z. B. der langfristige Effekt von
in der Rehabilitation geschultem Bewegungsverhalten auf die Gesundheit
untersucht, so unterscheiden sich Menschen, die sich im Alltag viel vs. wenig
bewegen, in der Regel hinsichtlich weiterer Merkmale, die den individuellen
Lebensstil kennzeichnen. Ernähren sich Menschen mit Bewegungsmangel
grundlegend anders als Menschen, die sich viel bewegen, so bleibt unklar, ob und
in welchem Maße die Bewegung, die Ernährung oder beides
gemeinsam die Gesundheit kausal beeinflusst. Zudem kann die Aussagekraft von
Befunden aus prospektiven Kohortenstudien aufgrund des Ausscheidens von
Teilnehmern aus der Studie eingeschränkt werden.
In retrospektiven Fall-Kontrollstudien ([Abb.
1d ]) wird vom aktuellen Zustand der Rehabilitanden ausgegangen
(z. B. Frühberentung ja vs. nein): In der Vergangenheit liegende
Bedingungen (z. B. Teilnahme an Rehabilitationsmaßnahmen oder
beruflichen Wiedereingliederungsmaßnahmen) werden retrospektiv erfragt.
Das Analyseziel besteht darin, Zusammenhänge der retrospektiv erfragten
potentiellen ursächlichen Bedingungen mit dem aktuellen Zustand zu
identifizieren. Günstig ist hier, dass sehr langfristige gesundheitliche
Entwicklungen untersucht werden können, die das Ergebnis sehr
langfristiger Expositionen (z. B. ergonomische Arbeitsplatzgestaltung)
sind. Weil alle Daten in der Gegenwart erhoben werden können, ist dieses
Design sehr viel zeit- und ressourcenökonomischer als die prospektive
Kohortenstudie. Methodisch ergeben sich jedoch besondere Nachteile dadurch, dass
nur die „erinnerte Vergangenheit“ erhoben werden kann (Gefahr
des recall bias) und die heute an der Studie Teilnehmenden die
Ausgangspopulation in der Vergangenheit ggf. nicht angemessen
repräsentieren (Gefahr des selection bias) [11 ]: Untersucht man alle Personen eines Betriebs, die kurz vor dem
Eintritt in die reguläre Berentung stehen, hinsichtlich
gesundheitsrelevanter Aspekte in der Vergangenheit, so befinden sich Personen,
die z. B. aufgrund gesundheitlicher Belastungen vorzeitig aus dem
Betrieb ausgeschieden sind, nicht mehr in der Stichprobe. Folglich wird die
betriebliche Realität nur eingeschränkt aus Perspektive der bis
zum regulären Ruhestandsalter Beschäftigen erfasst.
Sowohl prospektive Kohortenstudien (Evidenzstufe IIb) als auch retrospektive
Fall-Kontrollstudien (Evidenzstufe IIb) sind sogenannte
Beobachtungsstudien , bei denen Forscher nicht aktiv in das Geschehen
eingreifen, sondern lediglich Merkmalsausprägungen erfassen, die sich so
in natürlichen Lebens- und Versorgungssituationen ergeben
(epidemiologische Studiendesigns). Hier ist die Gefahr des verzerrenden
Einflusses von konfundierenden Variablen hoch. Konfundierende Variable
bedürfen deswegen einer systematischen Berücksichtigung bei der
Studienplanung und -auswertung. Gegenüber querschnittlichen
Korrelationsstudien (Evidenzstufe III), in denen das gemeinsame
Auftreten von Merkmalen zu einem Messzeitpunkt analysiert wird, haben diese
jedoch den Vorteil, dass die Zeitperspektive berücksichtigt wird und
somit zeitliche Entwicklungen valider abgebildet werden können.
Querschnittsstudien, prospektive Kohortenstudien und retrospektive
Fall-Kontrollstudien sind geeignet, die natürlichen Verhältnisse
und Entwicklungen darzustellen und zu analysieren. In solchen Studien
können Ursache-Wirkungsbeziehungen aufgrund der beschriebenen Probleme
der internen Validität jedoch nicht zweifelfrei nachgewiesen werden.
Um bei der Sichtung von Studienergebnissen die Qualität der Evidenz
bewerten und einordnen zu können, sollten standardisierte Leitlinien
angewendet werden. Beispielsweise formulieren die GRADE-Leitlinien [21 ] Kriterien zum Vertrauen in die
Größe, Eindeutigkeit und Reliabilität des Wirkeffekts
sowie zur Unabhängigkeit der Befunde von Konfundierungen
(Bias-Risiko).
Beispiel: Anwendung von Studiendesigns zur Analyse gesundheitsrelevanter
Effekte des Ernährungsverhaltens
In einer Studie zum Effekt vegetarischer Ernährung bei Patienten mit
koronarer Herzerkrankung (KHK-Patienten) soll der kausale Einfluss des
Ernährungsverhaltens (Ursache) auf Gesundheitsparameter
(z. B. Blutfettwerte; Wirkung) untersucht werden. Um einen kausalen
Effekt nach den Kriterien der Evidenzbasierung nachweisen zu können,
muss eine Interventionsstudie in Form eines RCTs durchgeführt
werden. Studienteilnehmer müssten per Zufall (Randomisierung) einer
der Bedingungen (unabhängige Variable) „vegetarische
Ernährung“ (Interventionsgruppe) vs.
„übliche Ernährung“ (Kontrollgruppe)
zugewiesen werden. Die Randomisierung führt dazu, dass sich die
beiden Untersuchungsgruppen zu Beginn der Studie nicht systematisch in Bezug
auf irgendein studienrelevantes Merkmal unterscheiden (Vermeidung von
Konfundierungen). Die Bluttfettwerte (Zielgröße) sollten vor
und nach der Intervention sowie z. B. 6 Monate nach der Intervention
erhoben werden (Prä-Post-Follow-up-Design). Verändern sich
die Blutfettwerte in der Interventionsgruppe der sich vegetarisch
ernährenden Rehabilitanden statistisch signifikant besser als in der
Kontrollgruppe der sich nicht vegetarisch ernährenden
Rehabilitanden, so kann es als nachgewiesen gelten, dass die
Ernährungsform einen kausalen Wirkeffekt auf die Blutfettwerte
hat.
Soll untersucht werden, ob sich vegetarische Ernährung im Kindes- und
Jugendalter (Ursache) auf die körperliche Gesundheit im
Erwachsenenalter (Wirkung) langfristig auswirkt, so wäre es kaum
möglich, dies im Rahmen eines kontrollierten Interventionsdesigns
umzusetzen. Sowohl ethisch wie auch praktisch können Menschen nicht
dazu verpflichtet werden, sich über viele Jahre hinweg an einen,
durch eine Studie vorgegebenen Ernährungsplan zu halten. Eine solche
Fragestellung, bei der eine langfristige Zeitperspektive zentral ist,
könnte in einer prospektiven Kohortenstudie oder einer
retrospektiven Fall-Kontrollstudie analysiert werden. Da jedoch beide keinen
eindeutigen Nachweis der kausalen Beeinflussung bzw. keine unverzerrte
Schätzung der Stärke eines kausalen Zusammenhangs der
vegetarischen Ernährung auf die körperliche Gesundheit
ermöglichen, ist die Evidenz für die Wirksamkeit auch bei
hypothesenkonformen Ergebnissen nicht eindeutig.
In einer prospektiven Kohortenstudie wird für eine Stichprobe von
Kindern und Jugendlichen zu Studienbeginn der Gesundheitszustand
dokumentiert. In den folgenden Jahren würde erhoben, wer sich
vegetarisch bzw. nicht vegetarisch ernährt. Im Erwachsenenalter
(z. B. im Alter von 25 Jahren) wird der Gesundheitszustand erneut
erfasst. Dann kann bestimmt werden, wie stark der Zusammenhang der
Gesundheitsmerkmale im Alter von 25 Jahren bzw. die Veränderung des
Gesundheitszustands von Studienbeginn bis zum Studienende
(Zielgröße) mit dem Ernährungsverhalten in
Zusammenhang steht. In einer retrospektiven Fall-Kontrollstudie
würden z. B. 25-Jährige mit kritisch
ausgeprägten Gesundheitsmerkmalen (Fälle; z. B.
Übergewicht, erhöhte Blutfettwerte) mit 25-jährigen
mit unkritischen Gesundheitsmerkmalen verglichen. Die Studienteilnehmer
werden zu ihrem Ernährungsverhalten in ihrer Kindheit und Jugend
befragt. Unterschiede im erinnerten Ernährungsverhalten zwischen
Gruppen werden als mögliche Ursachen für die
Gesundheitsproblematik analysiert.
Für prospektive Kohortenstudien und retrospektive
Fall-Kontrollstudien ist in diesem Beispiel besonders kritisch, dass die
Heranwachsenden selbst entscheiden, wie sie sich ernähren. Es
resultieren möglicherweise Verzerrungen, weil das
Ernährungsverhalten wahrscheinlich mit anderen Merkmalen des
Lebensstils (Konfundierungen, z. B. Geschlecht, körperliche
Konstitution, soziale Schicht, soziales Umfeld, Bewegungsverhalten,
Alkohol-/Drogenkonsum) assoziiert ist.
Varianten des klassischen RCT-Designs
Für die Grundform des RCTs wurden verschiedene Designvarianten
entwickelt, die für spezifische Anwendungsfragen und -szenarien ggf.
eine bessere Praktikabilität gewährleisten. Diese Varianten
ermöglichen es, die Studienanlage des RCTs anzupassen. [Tab. 1 ] gibt einen Überblick über
wichtige Designvarianten, die trotz der Anpassungen aufgrund der weiterhin hohen
internen Validität gesicherte Evidenz für die Wirksamkeit
liefern. So können die erforderlichen Fallzahlen durch stratifizierte
Randomisierung [22 ], Minimisierungsstudien [23 ] und adaptive Designs [24 ], Cross-Over- [25 ] und N =
1-Studien [26 ] ohne Einbußen der internen
Validität deutlich reduziert werden [27 ].
Faktorielle Designs [28 ] erlauben die kombinierte
und damit ökonomischere Untersuchung mehrerer Wirkhypothesen. In
clusterrandomisierten Studien [29 ]
[30 ] und Stepped-Wedge-Designs [31 ] werden Rehabilitandengruppen (z. B.
gemäß Versorgungseinheiten) statt einzelner Rehabilitanden den
Bedingungen zugewiesen, sodass die Applikation der Behandlungsalternativen
erheblich einfacher und praktikabler organisiert werden kann und
Treatmentkontaminationen vermieden werden können. In pragmatischen
Studien [32 ] wird die Beibehaltung der
natürlichen Versorgungssituation angestrebt, sodass durch die
Studiendurchführung die üblichen Versorgungsroutinen
weitestgehend unverändert bleiben. Der Solomon-Vier-Gruppen-Plan [6 ] und Zelen-Designs [33 ] erhöhen die Aussagekraft von Studien, in dem
Erwartungseffekte und die Bedeutung der Präferenz für eine
Behandlungsalternative gezielt mit untersucht werden.
Tab. 1 Designvarianten des klassischen RCTs zum
Wirksamkeitsnachweis
Merkmale
Besondere Eigenschaften
Stratifizierte RCTs
[23 ]
Die randomisierte Zuteilung erfolgt innerhalb von Teilgruppen
(z. B. Altersgruppen, Indikationsgruppen).
Geeignet bei heterogenen Populationen, in denen viele
konfundierende Variablen kontrolliert werden müssen,
und aufgrund der Stichprobengröße nicht
erwartet werden kann, dass die Randomisierung
Strukturgleichheit gewährleistet.
Minimisierung
[24 ]
Die Gruppenzuteilung erfolgt per Algorithmus so, dass
zusätzlich zum Grundprinzip der randomisierten
Zuteilung die Gleichverteilung erhobener konfundierender
Variablen besonders berücksichtigt wird.
Cluster-randomisierte Studien (CRT)
[30 ]
[31 ]
Rehabilitandengruppen (z. B. Stationen,
Schulungsgruppen) werden anstatt einzelner Rehabilitanden
den Untersuchungsbedingungen randomisiert zugewiesen.
Behandlung in Gruppensettings kann valide untersucht
warden
Vermeidung von Treatmentkontaminationen
Große Anzahl von Gruppen erforderlich (N
> 50)
Stepped-Wedge-Designs
[32 ]
Die Intervention wird zeitlich versetzt in
Untersuchungsgruppen eingeführt, sodass alle
Rehabilitanden die Intervention erhalten, aber zu
verschiedenen Zeitpunkten. Die Gruppen, bei denen das
Treatment noch nicht eingeführt wurde, dienen in den
jeweiligen Untersuchungsintervallen als Kontrollgruppen.
Vermeidung von Treatmentkontaminationen. Langfristige Effekte
können nur eingeschränkt geprüft
werden. Die Randomisierung der Implementierungsreihenfolge
garantiert i. d. R. nicht die Strukturgleichheit der
Gruppen. Die Untersuchung mehrerer Gruppen kompensiert aber
ggf. den Nachteil der eingeschränkten
Strukturhomogenität.
Cross-Over-Studien
[26 ]
Rehabilitanden erhalten entweder erst das Treatment und
anschließend die Kontrollbehandlung (AB) oder sie
durchlaufen die Bedingungen in umgekehrter Reihenfolge
(BA).
Geeignet bei schnell eintretenden Effekten, die nur in der
Treatmentphase auftreten (z. B.
Medikamenteneffekte).
N = 1-Studien
[27 ]
Spezielle Form einer Cross-Over-Studie, bei der die
Reihenfolge der Bedingungen für einzelne
Rehabilitanden randomisiert bestimmt wird.
Zur Verallgemeinerung von Effekten müssen die Befunde
mehrerer N = 1-Studien aggregiert werden.
Faktorielle Designs
[29 ]
Der Effekt mehrerer UVs wird simultan untersucht
(z. B. UV 1: Patientenschulung (ja vs. nein), UV 2:
internetbasierte Nachsorge (ja vs. nein)). Die
Rehabilitanden werden also 4 Gruppen randomisiert zugeteilt.
Geringere Fallzahlen erforderlich als wenn die UVs in
separaten Studien untersucht würden.
Interaktionseffekte, die durch die Kombination von
Treatments resultieren, können bestimmt
werden.
Adaptive Designs
[25 ]
In Studien mit mehreren UVs wird das Design angepasst, wenn
bereits in Zwischenauswertungen einzelne Wirkhypothese als
nicht gültig abgelehnt werden können.
Da frühzeitig als falsch erkannte Hypothesen nicht
weiterverfolgt werden, kann das Design insbes. bzgl. der
Stichprobenkomposition im Verlauf optimiert werden.
Pragmatische Trials
[33 ]
Die naturalistische Abbildung der Routineversorgung ist
zentral. Es wird zwar randomisiert zugewiesen, jedoch werden
methodische Aspekte (z. B.
Ein-/Ausschlusskriterien; Testungen) weniger streng
umgesetzt.
Die Analyse der Effektivität in der Versorgungspraxis
steht im Mittelpunkt.
Solomon-Vier-Gruppen-Plan
[7 ]
Die Merkmalstestung vor der Treatmentphase wird als UV
eingeführt (UV 1: Treatment (ja/nein); UV 2:
Pretest (ja/nein); AV: Posttest)
Es wird geprüft, ob die Kenntnis der Studienmerkmale,
die im Pretest abgefragt werden, die Wirksamkeit beeinflusst
(Erwartungseffekte).
Zelen-Designs
[34 ]
Nur die Rehabilitanden, die keine Präferenz
für das Treatment oder die Kontrollbehandlung haben,
werden randomisiert. Diejenigen, die eine Präferenz
angeben, werden in der gewünschten Bedingung
untersucht.
Es wird geprüft, ob die Präferenz für
eine Behandlungsalternative die Stärke des
Behandlungseffekts beeinflusst.
Der Evidenzbegriff dies- und jenseits des kontrollierten
Wirksamkeitsnachweises
Randomisierte kontrollierte Wirksamkeitsstudien sind geeignet nachzuweisen, dass
eine Behandlungsmaßnahme unter Studienbedingungen wirksam ist. Diese
Evidenzinformation wird gemäß der eingangs zitierten Definition
der Evidenzbasierung nach Sackett et al. [1 ] als
„externe wissenschaftliche Evidenz“ bezeichnet. Die Definition
betont jedoch zusätzlich die Notwendigkeit des
„vernünftigen Gebrauchs“ dieser Information, die
zusätzliche „Integration individueller klinischer
Erfahrung“ und die Orientierung an der individuellen Situation der
Rehabilitanden. Dies steht im Einklang mit dem Anspruch in der Rehabilitation,
Behandlungsentscheidungen partizipativ (Behandelnde und Rehabilitanden
kommunizieren auf Augenhöhe) zu treffen, die den individuellen
Bedürfnissen des Rehabilitanden entsprechen.
Deswegen ist der Nachweis der Wirksamkeit von Maßnahmen zwar die
notwendige Basis, um eine evidenzbasierte Behandlung in der Versorgungspraxis
umsetzen zu können. Jedoch bedarf es eines erweiterten, umfassenderen
Verständnisses von Evidenzbasierung, um rehabilitative
Behandlungsprozesse charakterisieren zu können. Wissenschaftliche
Studien sollten sich deswegen auch mit folgenden Fragen auseinandersetzen, um
evidenzbasierte Rehabilitation in der Praxis rehabilitandenorientiert
umzusetzen:
Welche theoretischen Grundlagen zur Erkrankung und zur
Veränderung von Erkrankungsmerkmalen liegen einer
Behandlungsmaßnahme zugrunde? (Theorieaspekt,
Konzeptionsaspekt)
Welche strukturellen Voraussetzungen in der Behandlungspraxis
müssen gegeben sein, damit die Maßnahme wirksam sein
kann? (Strukturaspekt)
Wieso wirken Maßnahmen? Wodurch werden Maßnahmen wirksam?
Welche Prozesse bewirken die angestrebten Veränderungen?
(Prozessaspekt, Wirkungsaspekt)
Wie muss eine als wirksam nachgewiesene Behandlungsmaßnahme in
der Routineversorgung implementiert werden, damit diese
„implementierte Intervention“ wirksam ist?
(Implementierungsaspekt)
Korrespondieren die Behandlungseffekte mit den individuellen
Bedürfnissen der Rehabilitanden? (Nutzenaspekt)
Wie kann gewährleistet werden, dass der individuelle Rehabilitand
für sich ein angemessenes Behandlungsverständnis
entwickelt, sodass er diese in seinen Umgang mit dem Gesundheitsproblem
angemessen in seinem Verhalten berücksichtigt?
(Nutzungsaspekt)
Um diese Aspekte evidenzbasierter Behandlungen in der
gesundheitswissenschaftlichen Forschung methodisch angemessen
berücksichtigen zu können, sind verschiedene Modellvorstellungen
entwickelt worden [34 ]
[35 ]
[36 ]
[37 ]. Diese Modelle orientieren sich an Konzepten
der Evaluation [6 ]
[38 ]
[39 ]
[40 ], die Forschungsprozesse als mehrphasige
Prozesse und Interventionsmaßnahmen als „komplexe
Interventionen“ auffassen. Interventionen werden als komplex bezeichnet,
wenn diese aus mehreren Teilkomponenten bzw. Behandlungselementen bestehen, die
additiv oder interagierend den Interventionserfolg bestimmen, und aufeinander
abgestimmt angewendet werden. In der Regel werden sie durch
multi-/interdisziplinär zusammenarbeitende Behandelnde
umgesetzt.
[Abb. 2 ] zeigt die 4 Phasen, die bei der
Entwicklung, Prüfung und praktischen Anwendung von
Rehabilitationsmaßnahmen berücksichtigt werden sollten, um
solide Evidenzgrundlagen für die praktische Versorgung in der
Rehabilitation schaffen zu können [41 ].
Abb. 2 Kumulatives Modell aufeinander aufbauender Phasen zur
Evaluation komplexer Interventionen [35 ]
[41 ].
Dieses Modell betont – zusätzlich zur Notwendigkeit des
Wirksamkeitsnachweises – die Bedeutung der Theorieorientierung und
Anwendungsperspektive für die evidenzorientierte Gestaltung von
Forschungsstudien und die evidenzbasierte Handlungspraxis. Jede evidenzbasierte
Behandlungsmaßnahme sollte auf Basis einer klaren Theoriegrundlage
erfolgen. Theorien oder theoretische Modelle repräsentieren die Merkmale
und Beziehungen zwischen den Merkmalen, die für das zu behandelnde
Gesundheitsproblem von Bedeutung sind. In allen Phasen des Evaluationsmodells
sollte ein klarer Bezug zu dem der Evaluation unterliegenden theoretischen
Modell hergestellt werden. Das theoretische Modell selbst wird ggf. aufgrund der
im Studienverlauf gewonnenen empirischen Befunde erweitert, modifiziert oder
angepasst.
Das in [Abb. 2 ] abgebildete Evaluationsmodell
unterscheidet die Bereiche Interventionsdesign (Phase 1: Entwicklung; Phase 2:
Machbarkeit und Pilotierung), Phase 3: Wirkungs- und Wirksamkeitsforschung,
Phase 4: Implementierungsforschung. Im Interventionsdesign werden
zunächst literaturbasiert theoretische Referenzmodelle und Befunde
empirischer Forschung identifiziert. Diese bilden in der Entwicklungsphase
gemeinsam mit dem Expertenwissen und Informationen aus der
Rehabilitandenperspektive die Grundlage für das zu entwickelnde
Interventionskonzept. In der Entwicklungsphase sollten nach dem Modell von
Colquhuon et al. [42 ] alle von der geplanten
Intervention Betroffenen (Stakeholder) mit einbezogen werden, eine systematische
Problemanalyse erfolgen und mögliche Interventionskomponenten
identifiziert werden. Zudem sollte eine Veränderungstheorie (Theory of
Change) für den Forschungsgegenstand formuliert werden, in der die
für die Entstehung und die Veränderung des Gesundheitsproblems
als relevant postulierten Merkmale integriert systematisiert werden.
Einflussreiche Rahmenbedingungen (z. B. personelle Ausstattung,
Spezifika der begleitenden Versorgungsroutinen, Indikationsbereiche), die den
Ausgangszustand und Wirkprozesse beeinflussen, sollten mitberücksichtigt
und modelliert werden. Die Theory of Change repräsentiert das
Verständnis der Forschenden, weshalb welche Veränderungsprozesse
unter welchen Umständen wie ablaufen. Hierdurch werden insbesondere die
„Stellschrauben“ explizit kenntlich, an denen Interventionen
ansetzen sollten, um positive Entwicklungen zu forcieren. In Phase 2:
Machbarkeit und Pilotierung steht die praktische Umsetzbarkeit sowohl der
Intervention als auch des Forschungsdesigns im Mittelpunkt: Die Intervention
sollte passgerecht für die Praxis konzipiert werden, damit sie in der
Behandlung der Rehabilitanden angewendet werden und optimal wirksam sein kann
(Implementierungsaspekte in der Konzeptionsphase). Das Forschungsdesign sollte
so gestaltet werden, dass die Untersuchung angemessen umgesetzt werden kann
(z. B. Schaffung von Akzeptanz bei allen an der Studie Beteiligten,
Manualisierung der Intervention, Schulung der Behandelnden, Identifikation und
Vermeidung von Implementierungsbarrieren, Herstellung valider Interventions- und
Kontrollbedingungen, aussagekräftige, valide Datenerhebung).
In der Phase des Interventionsdesigns bestehen Forschungsziele zumeist darin,
Informationen und Wissen zum Gegenstandbereich zu identifizieren, zu
ergänzen, zu vertiefen, zu modifizieren und zu systematisieren
(induktive, Theorie generierende Forschungsausrichtung). Es kommen sowohl
qualitative als auch quantitative empirische Forschungsmethoden zum Einsatz, die
eher offen für neue Informationen, deskriptiv, exploratorisch und
informationsidentifizierend ausgerichtet sind [6 ]
[7 ]
[43 ]
[44 ], wie z. B.:
Qualitative Interviews [45 ]
[46 ] mit Experten (z. B.
Delphi-Prozess) und Rehabilitanden
Strukturlegetechniken, Concept Mapping
Beobachtungsverfahren (z. B. teilnehmende Beobachtung)
Standardisierte Fragebögen und Checklisten
(Ist-Stands-Beschreibung)
Statistische Prüfung der Struktur von Assessmentinstrumenten
[47 ]
Statistische Identifikation typischer Merkmalsprofile (z. B.
clusteranalytische Ansätze)
Statistische Testung theorierelevanter Hypothesen
Prüfungen von Strukturgleichungsmodellen, die die zugrunde
liegende Theorie abbilden.
Charakteristisch ist bei diesen Methodenanwendungen, dass die Befunde genutzt
werden, um die Theoriegrundlagen auf empirischer Basis anpassen zu
können oder die Plausibilität der Theorieannahmen empirisch
überprüfen zu können. Es wird ein Zustand der
theoretischen Vollständigkeit und Stabilität angestrebt: Alle
empirischen Befunde sollen im Einklang mit den Theorienannahmen stehen und die
Theorie soll im Einklang mit der Empirie stehen [43 ].
In Phase 3 sollte gemäß den oben dargestellten Kriterien die
Wirksamkeit der entwickelten Intervention intern valide nachgewiesen werden.
Solche Studien werden auch als Efficacy-Studien bezeichnet. Efficacy
(absolute Wirksamkeit) entspricht dem Effekt einer Intervention unter gut
kontrollierten und damit in der Regel unter optimalen Anwendungsbedingungen.
Wurde die Wirksamkeit der Maßnahme im Sinne der Efficacy belegt, so
sollte in der folgenden Phase 4 beforscht werden, wie die Intervention in der
Routineversorgung optimal implementiert werden kann [2 ]. Kontrollierte Studien in dieser Phase werden als
Effektivitätsstudien bezeichnet. Effektivität
(relative Wirksamkeit) entspricht dem Effekt einer Intervention unter
natürlichen Anwendungsbedingungen. Da Interventionen in der
Routineversorgung an die spezifischen Rahmenbedingungen in den
Rehabilitationseinrichtungen angepasst werden müssen, besteht die Gefahr
der „Verwässerung“ der Interventionseffekte aufgrund
unzureichender Implementierungsqualität bzw. Mängeln der
Interventionsintegrität. Mangelhafte Interventionsintegrität
liegt vor, wenn sich wesentliche Merkmale der „implementierten
Intervention“ von denjenigen der in Phase 3 geprüften
Intervention unterscheiden. Um solche Probleme vermeiden zu können,
sollte ein Implementierungskonzept entwickelt werden, das geeignete
Maßnahmen (z. B. Manualisierung des Interventionskonzepts,
Schulung der Behandelnden, Sicherstellung der strukturellen, materiellen und
personellen Voraussetzungen) zur Verankerung der Intervention in der Praxis
formuliert. Zudem sollte die Implementierung qualitätsgesichert
erfolgen: Es sollten klare Struktur-, Prozess- und Ergebniskriterien formuliert
werden, die für eine angemessene Implementierung in der Praxis
erfüllt sein sollten. Die Einhaltung der Kriterien sollte kontinuierlich
überprüft werden, sodass Implementierungsdefizite erkannt und
unmittelbar behoben werden können (PDCA-Zyklus).
Im Implementierungskonzept sollte insbesondere festgelegt werden, welche
Merkmale der Intervention (a) unverändert in der praktischen Umsetzung
beigehalten werden müssen, damit es sich tatsächlich um das als
wirksam geprüfte Interventionskonzept handelt, und (b) ggf. hinsichtlich
institutionsspezifischer Strukturen und Ressourcen angepasst werden
können. Hier ist der Theoriebezug von zentraler Bedeutung, da
insbesondere die Elemente der Theory of Change durch die
Implementierungsumstände nicht negativ beeinflusst werden
dürfen. Anpassungen der Intervention an den spezifischen Kontext in der
Rehabilitationseinrichtung können deren Wirksamkeit ggf. auch
unterstützen, da die Praktikabilität gefördert bzw.
gewährleistet wird, wenn die Intervention in die etablierten Strukturen
und Prozesse der Rehabilitationseinrichtung passgenau integriert werden.
Implementierungsforschung ermittelt systematisiertes empirisches
Wissen dazu, welche Struktur- und Prozessmerkmale sowie Rahmenbedingungen von
Rehabilitationseinrichtungen für die Wirksamkeit der
„implementierten Intervention“ entscheidend sind und wie
optimale Voraussetzungen zur angemessenen Umsetzung der Intervention
unterstützt und hergestellt werden können [48 ]. Prinzipien einer qualitätsorientierten
Implementation werden im RE-AIM Framework unter den Punkten Reach (Erreichen der
Zielpopulation), Effektivität und Efficacy, Adoption (Anwendung im
Setting, der Institution und durch die Behandelnden), Intervention (Konsistenz
und Kosten) sowie Maintainance (langfristige Aufrechterhaltung der Effekte)
festgelegt [49 ].
Alle diese Anforderungen an eine angemessene Implementierung sollten empirisch
untersucht werden, um die Evidenz für die Effektivität der
Intervention in der Versorgungspraxis zu gewährleisten. Empirische
Erkenntnisse zu Determinanten und Moderatoren einer angemessenen
Implementierungsqualität sind essenziell, um die evidenzbasierte
Versorgung in der Rehabilitationspraxis zu unterstützen. Als
Forschungsmethoden kommen hier prinzipiell dieselben Methoden wie in der Phase
des Interventionsdesigns zur Anwendung: Offene, exploratorische Ansätze
werden eingesetzt, um die Implementierungskonzepte optimal an die
Anwendungspraxis anpassen zu können. Theorie- und
hypothesenprüfende Verfahren sind geeignet, die Zusammenhänge
von implementationsrelevanten Merkmalen zu bestimmen und die Effekte konkreter
Gestaltungsmaßnahmen und Implementierungskonzepte zu prüfen.
Pragmatic trials, die die Effektivität der „implementierten
Intervention“ nachweisen, ermöglichen die Bestimmung der
Wirksamkeit des Implementierungskonzepts in der Versorgungspraxis. Zudem kann
die Effizienz der Maßnahme, also die durch die Intervention
ursächlich bedingte Veränderung der Zielgröße
(z. B. Gesundheitszustand) bzw. der Nutzen für die
Rehabilitanden im Verhältnis zum erforderlichen Ressourcenaufwand,
bestimmt werden (ökonomische Evaluation [50 ]). Die ökonomische Evaluation liefert dabei die
Basis zur Beurteilung der Wirtschaftlichkeit der Behandlungsmaßnahmen in
der Rehabilitation. Das Ziel der Implementierungsforschung besteht darin, ein
theoretisch gut begründetes, an Methoden der Qualitätssicherung
orientiertes und empirisch geprüftes Implementierungskonzept zur
Verfügung zu stellen, das die Wirksamkeit der Intervention vor dem
Hintergrund der Implementierungsnotwendigkeiten fördert.
Diese Anforderungen stehen z. B. im Einklang zu den Forderungen von Raspe
& Hüppe [14 ], die den Stand der
Evidenzbasierung von Rehabilitationsmaßnahmen bei chronischen
Rückenschmerzen zusammenfassen. Dort wird betont, dass sowohl fehlende
Nachweise der absoluten Wirksamkeit als auch unzureichende Konzepte zur
nachhaltigen Verankerung positiv evaluierter komplexer Rehabilitationsprozesse
in der Routineversorgung zentrale Mängel in der
rehabilitationswissenschaftlichen Forschung darstellen. So wird kritisch
eingeschätzt, dass eher spezifische, wissenschaftlich motivierte
Fragestellungen untersucht werden. Wünschenswert ist eine
übergreifende Sichtweise auf komplexe Rehabilitationsprozesse. Dies
würde jedoch ein besonderes Forschungsinteresse der Leistungs- und
Kostenträger oder institutionsübergreifender Forschergruppen
erfordern. Der Komplexität rehabilitativer Versorgung in der Praxis
steht somit keine entsprechende Forschungsinfrastruktur gegenüber. Die
Nutzung von Evidenz in der Versorgungspraxis bedarf zudem einer höheren
Bereitschaft, Behandlungs-, Verwaltungs- und Organisationsroutinen auf Basis
evidenzbasierter Grundlagen umzugestalten. Eine engere Verzahnung der
Forschungsinhalte bzw. -befunde mit einer flexibleren Gestaltung der
Rehabilitationspraxis sind als Voraussetzungen für die Realisierung
evidenzbasierter Rehabilitation wünschenswert.
Es liegen jedoch auch positive Beispiele für umfassend evidenzbasierte
Rehakonzepte vor, die in mehrphasigen Forschungsprozessen sorgfältig
entwickelt, geprüft und in der Anwendungsroutine erfolgreich
implementiert wurden. So basiert die „Medizinisch-beruflich orientierte
Rehabilitation“ auf expliziten theoretischen und empirische Grundlagen,
und es liegen vielfältige Nachweise der relativen Wirksamkeit
(effectiveness-Studien) mittels randomisiert-kontrollierter Studien vor. Zudem
wurde deren Implementierung in unterschiedlichen rehabilitativen
Versorgungssettings evaluiert [21 ]. Für
Patientenschulungen haben sich ebenfalls anspruchsvolle Standards der
theorieorientierten und der evidenzbasierten Konzeption, Evaluation und
Implementierung etabliert [18 ].
Evidenzbasierung der Rehabilitation durch Wirksamkeitsnachweise,
Theorieorientierung und Implementierungsqualität
In diesem Beitrag wurde verdeutlicht, dass eine evidenzbasierte
Rehabilitandenversorgung verschiedene Facetten des Konzepts
„Evidenzbasierung“ berücksichtigen muss. Der Kern
evidenzbasierter Behandlungen besteht darin, dass Behandlungsverfahren
eingesetzt werden, deren Wirksamkeit (Efficacy) möglichst eindeutig
nachgewiesen wurde. Wirksamkeit bedeutet, dass die Behandlungsmaßnahme
kausal die Verbesserung des Gesundheitszustands bzw. der Fähigkeit zur
Teilhabe der Rehabilitanden bewirkt. Die Logik der Evidenzstufen beruht im
Wesentlichen auf der internen Validität des Forschungsdesigns. RCTs
besitzen die höchste interne Validität und sind geeignet, diesen
Wirksamkeitsnachweis zu erbringen, weil die Verzerrung von
Effektschätzungen zwischen Interventions- und Kontrollgruppe durch
konfundierende Variablen per Design vermieden werden können.
Die der Behandlung unterliegende Theorie des Gegenstandsbereiches und der
Veränderungsprinzipien (Theorie of Change) bilden eine wichtige
Voraussetzung, damit evidenzbasierte Behandlung realisiert werden kann: Erstens,
weil jede Intervention im Einklang mit einem expliziten theoretischen Modell des
Gegenstandsbereiches begründet und gestaltet werden sollte. Zweitens,
weil die Behandelnden ein solides Verständnis der
Interventionsgrundlagen erlangen, um in der konkreten Behandlungssituation im
Sinne der Interventionsprinzipien handeln zu können. Partizipative
Entscheidungsfindung in der Rehabilitation ist erst valide möglich, wenn
ein angemessenes Verständnis der Wirkprinzipien und Wirkdeterminanten
(„Wieso und unter welchen Voraussetzungen wirkt die Maßnahme
wie?“) vorliegt und dies dem Rehabilitanden angemessen kommuniziert
werden kann. Drittens, weil der Rehabilitand individuell und
situationsangemessen handeln muss, um die Prinzipien der Intervention
selbstverantwortlich in sein alltägliches Verhalten integrieren zu
können. Dies gilt umso mehr, je wichtiger eine partizipative
Behandlungsgestaltung, Gesundheitskompetenz, selbstständiges
Gesundheits- und Krankheitsmanagement sowie Lebensstiländerungen
für die langfristig erfolgreiche Behandlung einer chronischen Erkrankung
entscheidend sind. Ferner muss darauf geachtet werden, dass die
Behandlungsmaßnahme so in der Routineversorgung eingesetzt wird
(„implementierte Intervention“), dass die
Interventionsprinzipien tatsächlich in der konkreten
Behandlungssituation wirksam werden (Interventionskonzept). Hierfür
bedarf es gesicherten empirischen Wissens, wie eine als wirksam nachgewiesene
Behandlungsmaßnahme in der rehabilitativen Versorgungspraxis valide
umgesetzt werden kann (Interventionsintegrität,
Implementierungsqualität). Entsprechend stellt der Wirksamkeitsnachweis
mittels RCTs zwar die obligatorische Grundlage jeglicher evidenzbasierter Praxis
dar. Um evidenzbasierte Behandlungen in der Rehabilitation gewährleisten
zu können sind jedoch zusätzlich empirische Studien
erforderlich, die Wissen zu theoretischen Grundlagen, Wirkprinzipien und
Möglichkeiten, die Intervention konzeptgetreu anwenden zu
können, verfügbar machen.