physiopraxis 2019; 17(11/12): 52-53
DOI: 10.1055/a-1023-2007
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Wenn die Motoneuronen verschwinden – Spinale Muskelatrophie als Ursache für Skoliosen

Markus Fischer
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Publication Date:
26 November 2019 (online)

 

Skoliosen sind meist idiopathisch, nur in zehn Prozent der Fälle sind sie eine Folge von Fehlbildungen, Traumata und Erkrankungen von Muskulatur oder Nervensystem. Eine der Ursachen solcher sekundärer Skoliosen kann die spinale Muskelatrophie sein. Häufig entwickeln die Patienten die Symptome hierbei schleichend und langsam, weshalb die Erkrankung lange Zeit unerkannt bleiben kann.


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Die typischen Symptome einer spinalen Muskelatrophie können in allen Bereichen des Körpers auftreten. Abb.: Thieme Gruppe

Die erblich bedingte spinale Muskelatrophie (SMA) ist eine seltene neuromuskuläre Erkrankung, bei der ein Defekt des Gens SMN1 dazu führt, dass Motoneuronen im Rückenmark untergehen. Dies verursacht eine progrediente Schwäche und Atrophie der Muskulatur mit fortschreitendem Verlust motorischer Fähigkeiten – bei normaler Entwicklung der Intelligenz und Kognition. In Deutschland sind schätzungsweise 1.500 Menschen betroffen.

Manifestationsalter und Schweregrad der Symptomatik variieren. Bei der schwersten Verlaufsform (infantile SMA) sind bereits Säuglinge motorisch erheblich beeinträchtigt und haben ohne kausale Therapie eine Lebenserwartung unter zwei Jahren. Bei milderen Verläufen tritt die Erkrankung erst im weiteren Verlauf des Kindesalters in Erscheinung, in einigen Fällen auch erst bei Jugendlichen oder Erwachsenen. SMA verläuft immer progredient – unabhängig von Symptombeginn und Schweregrad.

Manche Patienten verlieren die Gehfähigkeit im Krankheitsverlauf, mit entsprechenden Einschränkungen der Mobilität und Selbstständigkeit. Auch die Rumpfmuskulatur atrophiert, weshalb sich teils starke Skoliosen entwickeln. Insbesondere bei Patienten, die nicht frei sitzen können, kommt es auch zu Hüftgelenksluxationen.

Frühe Diagnose ermöglicht optimale Therapieeffekte

Während es für Patienten mit SMA lange Zeit nur symptomatische Therapien und palliative Maßnahmen gab, existieren seit einiger Zeit kausale Therapieansätze, die den langfristigen Verlauf günstig beeinflussen können. Das Ausmaß, in dem eine Therapie Einfluss auf den Langzeitverlauf hat, hängt ganz entscheidend vom Zeitpunkt des Behandlungsbeginns ab. Wie aktuelle Studien belegen, ist eine möglichst frühe Erkennung der Erkrankung für die optimale Versorgung einer SMA essenziell, ebenso wie ein früher Zugang zur kausalen Therapie [1].

Bei Patienten mit frühem Erkrankungsbeginn wird die Diagnose SMA meist schon im Säuglingsalter gestellt. Bei später einsetzender Erkrankung hingegen führt die langsamere, oft uncharakteristische Symptomentwicklung und der geringe Bekanntheitsgrad der Erkrankung oft zu einer stark verzögerten Diagnose.

In die Physiotherapie können daher Patienten kommen, die nichts von ihrer SMA-Erkrankung wissen, und solche, bei denen zwar eine neuromuskuläre Erkrankung vermutet wird, aber noch keine eindeutige Diagnose gestellt worden ist.

1.500
Menschen sind Schätzungen zufolge in Deutschland an einer spinalen Muskelatrophie erkrankt.


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Skoliosen bei Patienten mit SMA

Patienten mit SMA entwickeln eine Skoliose meist im Wachstumsalter: Über 50 Prozent der Kinder mit SMA sind betroffen, insbesondere die rollstuhlgebundenen, nicht gehfähigen. Symptome einer später einsetzenden SMA sind neben der Skoliose, die als Folge der atrophischen Rumpfmuskulatur entsteht, eine symmetrische und meist proximale betonte Muskelschwäche sowie ein reduzierter Muskeltonus. Gehfähige Patienten haben unter anderem Schwierigkeiten, Stufen zu steigen. Die untere Extremität ist von der Muskelschwäche stärker betroffen als Schultergürtel und Arme. Dennoch können auch Schwierigkeiten beim Armheben und zunehmende Einschränkungen der Handfunktion auf eine SMA hinweisen [2], [3].


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Therapie von Skoliosen

Skoliosen und Gelenkkontrakturen sollten möglichst frühzeitig im Wachstumsalter behandelt werden, um die Plastizität des noch wachsenden Achsenskeletts zu nutzen und das Ausmaß der Deformationen zu begrenzen. Neben physiotherapeutischer Übungsbehandlung stehen Stabilisierung und Unterstützung der Körperhaltung mittels Stützkorsett und gegebenenfalls Gelenkorthesen im Vordergrund [4], [5]. Sind diese Maßnahmen nicht ausreichend, kommen chirurgische Korrekturen in Betracht. Die Entscheidung darüber wird anhand von Geometrie und Ausmaß der Wirbelsäulenverkrümmung und deren Einfluss auf die Atemfunktion getroffen. Zudem müssen Alter und Knochenreife des Patienten berücksichtigt werden [3], [6]. Oft werden bei den Patienten Metallimplantate eingesetzt, um die betroffenen Wirbelsäulensegmente aufzurichten und zu stützen.


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Skoliosen bei Kindern und jungen Erwachsenen: Ist es SMA?

Die SMA ist eine seltene, aber schwerwiegende Ursache für Skoliosen. Bei jüngeren Patienten mit Muskelschwäche, fortschreitenden motorischen Dysfunktionen und Verschlechterung einer Wirbelsäulendeformation sollten auch Physiotherapeuten daran denken, dass es sich um Symptome einer SMA handeln könnte. Je frühzeitiger man die Erkrankung erkennt und je mehr Funktionen noch erhalten sind, desto besser sind die Erfolgsaussichten.

Ein kostenfreier molekulargenetischer Test sichert die Diagnose zweifelsfrei und kann von niedergelassenen Ärzten veranlasst werden. Physiotherapeuten können Patienten, bei denen der Verdacht aufkommt, auf diese Möglichkeit hinweisen und an einen Allgemeinmediziner oder Spezialisten verweisen.


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Versorgung in neuromuskulären Zentren

Die Betreuung und Therapie von Patienten mit SMA erfolgt in spezialisierten neuromuskulären Zentren. Hier ist eine optimale multidisziplinäre Versorgung durch spezialisiertes Personal gewährleistet. Denn neben der kausalen und symptomatischen Medikation sind unter anderem spezifische Physiotherapie, orthopädische Versorgung und Atemtherapie wichtig. Eine Liste solcher Spezialzentren für die Behandlung von Patienten mit SMA ist auf der Website der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke (DGM e. V.) verfügbar: bit.ly/SMA-DGM.

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  • Literaturverzeichnis

  • 1 Sansone D. et al Eur J Neurol. 2019; 26 (Suppl. 01) 83
  • 2 von Gontard A, Zerres K, Backes M. et al Intelligence and cognitive function inchildren and adolescents with spinal muscular atrophy. NeuromusculDisord 2002; 12: 130-136
  • 3 Battista V, Schroth MK, Apon S. et al Understanding Spinal Muscular Atrophy (SMA); Cure SMA Care Series. Stand August 2016
  • 4 Wang CH, Finkel RS, Bertini ES. et al Participants of the International Conference on SMA Standard of Care. Consensus statement for standard of care in spinal muscular atrophy. J Child Neurol 2007; 22: 1027-1049
  • 5 National Organization for Rare Disorders Werdnig-Hoffman Disease. 2012 Im Internet: https://rarediseases.org/rare-diseases/werdnig-hoffmann-disease/ LetzterZugriff am 9.01.2017
  • 6 Spinal Muscular Atrophy Clinical Research Center Physical/occupational therapy. Im Internet: http://columbiasma.org/pt-ot.html Updated March 14, 2013. Letzter Zugriff am 18.04.2016

  • Literaturverzeichnis

  • 1 Sansone D. et al Eur J Neurol. 2019; 26 (Suppl. 01) 83
  • 2 von Gontard A, Zerres K, Backes M. et al Intelligence and cognitive function inchildren and adolescents with spinal muscular atrophy. NeuromusculDisord 2002; 12: 130-136
  • 3 Battista V, Schroth MK, Apon S. et al Understanding Spinal Muscular Atrophy (SMA); Cure SMA Care Series. Stand August 2016
  • 4 Wang CH, Finkel RS, Bertini ES. et al Participants of the International Conference on SMA Standard of Care. Consensus statement for standard of care in spinal muscular atrophy. J Child Neurol 2007; 22: 1027-1049
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Die typischen Symptome einer spinalen Muskelatrophie können in allen Bereichen des Körpers auftreten. Abb.: Thieme Gruppe