Eine betätigungsorientierte Therapie fordert die Klienten zwar stark, bringt ihnen
aber auch schneller Sicherheit im Alltag.
Abb.: Gina Sanders/stock.adobe.com (Symbolbild)
Seit geraumer Zeit ist die Ergotherapie im Umbruch: Der Paradigmenwechsel hin zur
betätigungsorientierten Therapie ist im vollen Gang. Immer mehr Therapeuten finden
es sinnvoller, die konkreten Alltagsanliegen des Klienten individuell anzugehen, anstatt
nach dem Gießkannenprinzip handwerklich oder computerbasiert zu arbeiten. Doch lässt
sich ein Vorteil der handlungsorientierten Therapieform belegen?
Ergotherapeutin Sarah Werner hat genau das versucht. In ihrer Fortbildung zur Fachtherapeutin
Psychiatrie stellte sie fest, dass es bei ihren Kollegen ganz unterschiedliche Herangehensweisen
gab, um beispielsweise Konzentrationsschwierigkeiten bei Menschen mit Depressionen
zu behandeln. Während einige Kollegen berichteten, in ihrer Praxis oder Klinik ausschließlich
betätigungsorientiert zu arbeiten, nutzte ein anderer Teil nur Computer-Trainingsprogramme,
dritte verfolgten einen gemischten Ansatz. Die Idee für eine Facharbeit war geboren:
Zusammen mit den Kursteilnehmern Kirsten Knieps, Simon Maas, Marc Kämmerer und Tim
Schmidt wollte sie untersuchen, von welcher Therapieform Klienten mit Depressionen
und kognitiven Einschränkungen am meisten profitieren.
Die Erhebung: 20 Personen machen mit
Die Erhebung: 20 Personen machen mit
In einer stationären Therapieeinrichtung erklärten sich insgesamt 20 Klienten mit
schweren Depressionen bereit, an der Erhebung teilzunehmen. Sie hatten aufgrund ihrer
Erkrankung Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen. Alltägliche Dinge wie Einkaufen,
Bus- und Bahnfahren oder Unterhaltungen trauten sie sich nicht mehr zu.
Zunächst führten die Therapeuten mit jedem Klienten ein Vorgespräch im Eins-zu-eins-Setting,
um die individuelle Belastbarkeit, das psychische und physische Befinden sowie die
Betätigungsanliegen herauszufinden. Dafür nutzten sie das Canadian Occupational Performance
Measure (COPM). Im Anschluss daran teilten sie die Klienten in zwei gleich große Gruppen,
die sich bezüglich Alter, Schweregrad der Erkrankung und Medikation ähnlich waren.
Zehn Klienten sollten gemeinsam im Gruppensetting mithilfe eines betätigungsorientierten
Ansatzes lernen, sich ihren Alltagszielen zu stellen, während die zehn übrigen mit
dem Programm RehaCom ein Aufmerksamkeitstraining am Computer absolvieren würden.
Bevor es losging, durchlief jeder Klient einen Test mit dem Programm RehaCom, das
einen Zahlenwert für seine kognitive Leistungsfähigkeit ermittelte. Nach Abschluss
der vierwöchigen Behandlungszeit sollte dieser Wert erneut gemessen werden, außerdem
sollten sämtliche Klienten mit einem Fragebogen Auskunft über ihre subjektiven Fortschritte
geben.
Computergestütztes Training im Eins-zu-eins-Setting
Computergestütztes Training im Eins-zu-eins-Setting
Die Probanden der computergestützten Therapie trainierten zusammen mit einem Therapeuten
aus der Gruppe der Kursteilnehmer täglich 30 Minuten lang mit dem Programm RehaCom.
Der Fokus lag dabei auf dem Modul „Aufmerksamkeitstraining“. Darin müssen die Klienten
zum Beispiel ein Referenzbild mit einer Gruppe von Abbildungen vergleichen und daraus
dasjenige Bild identifizieren, das mit dem Referenzbild übereinstimmt. Der Schwierigkeitsgrad
steigt mit dem Leistungsniveau.
Nach jeder Therapieeinheit besprach der Therapeut die Ergebnisse direkt mit dem Klienten.
„Das ist ein großer Vorteil des Programms: Der Klient bekommt sofort eine Rückmeldung
über seine Fortschritte“, sagt Sarah Werner. Gerade für schwer betroffene Klienten,
die sich gar nichts mehr zutrauen, sei die Arbeit mit dem Computerprogramm eine Hilfe.
So sehen sie: „Mensch, ich kann ja doch etwas leisten – und sogar mehr, als ich dachte.“
Ein weiterer Vorteil: Das Eins-zu-eins-Setting überfordert niemanden, Stress kommt
gar nicht erst auf.
Am Ende der vierwöchigen Behandlungszeit hatten sich alle zehn Klienten der Computergruppe
verbessert: Der durchschnittliche Anfangswert für die kognitive Performanz, ermittelt
durch RehaCom, lag bei -1,68, während der Endwert -0,78 betrug. Das entspricht einer
durchschnittlichen Verbesserung von 0,9 Punkten.
PC-Programme eignen sich gut für die Vorbe- reitung einer betätigungsorientierten
Therapie und zur Steigerung des Selbstwertgefühls.
Abb.: Pixel-Shot/stock.adobe.com (Symbolbild)
Bei der Selbsteinschätzung durch die Fragebögen gaben acht Klienten an, dass sich
ihre Konzentration verbessert habe, zwei hielten ihre Situation für unverändert. Auf
die Frage, ob das Training ihnen geholfen habe, alltägliche Aufgaben zu bewältigen,
waren sechs von acht Antworten positiv, darunter: „Fühle mich wacher“, „Es hat mein
Selbstwertgefühl gestärkt“, „Ich habe gelernt, dass ich auch kleine Schritte machen
darf“.
Betätigungsorientierte Therapie: aufwendig, aber wirkungsvoll
Betätigungsorientierte Therapie: aufwendig, aber wirkungsvoll
In der Vergleichsgruppe führte eine Therapeutin mit den Klienten zweimal wöchentlich
für jeweils 60 Minuten alltagsrelevante Tätigkeiten in der Gruppe durch. Dazu gehörte
zum Beispiel das Aussuchen von Rezepten, das Schreiben einer Einkaufsliste, einkaufen
gehen und dabei auf das Budget achten und kochen. Dazu sagt Sarah Werner: „Das Training
in der Gruppe war anfangs schwierig für die Klienten, denn sie sind hier ganz anders
gefordert. Sie müssen in verschiedenen Situationen angemessen reagieren, zum Beispiel
in der richtigen Tonlage miteinander reden, bitte und danke sagen, eigene Ideen einbringen
oder Kompromisse schließen. Aber nach den ersten Einheiten stellte sich ein Gefühl
von Sicherheit ein, und davon schienen sie sehr zu profitieren.“
In der betätigungsorientierten Gruppe verbesserte sich der Kognitionswert bei neun
von zehn Klienten. Während der Durchschnittwert für die gesamte Gruppe zu Beginn bei
-1,83 lag, betrug er nach Abschluss der Therapie -0,65 Punkte. Die durchschnittliche
Verbesserung betrug 1,18 Punkte und damit 0,28 Punkte mehr als in der RehaCom-Gruppe.
Sarah Werner, die regelmäßig mit RehaCom arbeitet, wertet dies als respektablen Abstand.
Interessant ist, dass die Klienten die alltagsorientierte Therapie subjektiv besser
bewerteten: Sämtliche Klienten gaben an, sich besser konzentrieren zu können, acht
davon sogar „sehr viel besser“. Auf die Frage, ob das Training geholfen habe, im Alltag
zurechtzukommen, wurden sechs ausschließlich positive Antworten gegeben, darunter:
„Ich bin selbstständiger geworden“, „Meine Aufmerksamkeit und Konzentration (…) sind
viel besser geworden“.
Was folgt für die Praxis?
Was folgt für die Praxis?
Die Ergebnisse legen nahe, dass die betätigungsorientierte Ergotherapie wirksam bei
Menschen mit Depressionen und kognitiven Defiziten ist. Im vorliegenden Fall verbesserten
sich die Klienten sowohl objektiv als auch subjektiv stärker als unter dem computergestützten
Aufmerksamkeitstraining. Auch was den Alltagstransfer angeht, scheint die betätigungsorientierte
Therapie überlegen zu sein – zumindest lassen sich die Antworten der Teilnehmer in
der anschließenden Befragung in diesem Sinn interpretieren. Sarah Werner, die die
beiden Gruppen zusammen mit Kirsten Knieps betreute, machte zusätzlich eine wichtige
Beobachtung: „Die Teilnehmer der betätigungsorientierten Gruppe konnten sich nicht
nur am Ende der Therapiezeit objektiv besser konzentrieren. Ich hatte den Eindruck,
dass sie auch schneller Fortschritte machten als die Vergleichsgruppe. Sie konnten
sich früher schon wieder eine Einkaufsliste merken oder sich unterhalten.“
Die Überlegenheit des betätigungsorientierten Ansatzes könnte darin liegen, dass die
Gruppentherapie die Sinne der Klienten umfassender anspricht und verschiedene Ressourcen
mobilisiert. Während man zum Beispiel gemeinsam eine Mahlzeit vorbereitet, fühlt,
riecht und schmeckt man die Lebensmittel, bewegt sich im Raum und redet miteinander.
Die Initiatoren der Erhebung finden, auch wegen der positiven Bewertungen auf den
Fragebögen, „dass die realen Erfahrungen, die einzelnen Schritte der Betätigung im
Alltag, der Umgang mit Menschen, die Nähe- und Distanzregulation, die sozialen Anforderungen
nicht durch ein PC-Programm zu ersetzen (…) sind“.
Allerdings stellen sie auch fest, dass der betätigungsorientierte Ansatz nicht nur
für Klienten, sondern auch für Therapeuten aufwendiger und komplexer ist: Sinnvolle
Betätigungswünsche müssen gefunden und gruppengerecht umgesetzt werden; in der Gruppenarbeit
muss der Therapeut permanent gut beobachten und angemessen eingreifen, sobald sich
jemand mit einer Aufgabe schwertut; er muss verständnisvolle Rückmeldungen geben und
Unterstützung anbieten – kurz: Er muss die Gruppe so anleiten, dass alle sich aufgehoben
fühlen und das Scheitern bei einer Aufgabe nicht als Katastrophe empfunden wird. Gelingt
dies, bietet das Gruppensetting ihrer Meinung nach eine Lernsituation, von der die
Klienten außerordentlich profitieren können: Weil sie sehr konkrete Unterstützung
für ihre Ziele erhalten, finden sie möglicherweise schneller in ihren Alltag zurück.
Der betätigungsorientierte Ansatz ist zwar aufwendiger, bietet aber konkretere Unterstützung
für Alltagsziele.
PC-Programme entsorgen?
Folgt daraus, dass die Programme jetzt entsorgt werden müssen? Hierzu kommt ein klares
Nein von den Ergotherapeuten des Fortbildungskurses. Sie sind der Meinung, dass PC-Programme
ihren berechtigten Platz in der Therapie haben. RehaCom sehen sie zum Beispiel als
„eine hilfreiche Vorbereitung für die alltagsorientierte Therapie“. Danach sollten
sie aber schnell zu einer betätigungsorientierten Therapie wechseln, insbesondere,
um den Transfer in den Alltag zu meistern. Zusätzlich könnten computerbasierte Tests
dazu beitragen, eine betätigungsorientierte oder kombinierte Therapie transparenter
zu machen. Denn standardisierte Tests zu Beginn und am Ende der Behandlung messen
Erfolge objektiv und machen sie dadurch sichtbar. Das ist nicht nur nützlich für die
Verhandlung mit Kostenträgern, sondern motiviert auch Klienten und stärkt ihre Compliance.
Eine Verbindung beider Maßnahmen – computerbasiert und betätigungsorientiert – scheint
den Kursteilnehmern daher, gerade bei Klienten mit schweren Depressionen und kognitiven
Einschränkungen, am sinnvollsten. Am Arbeitsalltag von Sarah Werner werden die Ergebnisse
der Erhebung nichts ändern: „Wir haben an meinem Arbeitsplatz auch bisher schon kombiniert
gearbeitet. Aber der Arbeitgeber einer meiner Kurskollegen, der bisher nur computerbasiert
gearbeitet hat, hat schon angekündigt, in Zukunft auch die betätigungsorientierte
Therapie anzubieten.“
Kontakt
Fragen, Anregungen, Interesse
Unterstützt wurde die Gruppe von Dr. Benigna Brandt. Wer Interesse an der Erhebung
hat, kann sie über Sarah Werner beziehen: sarah.w.1993@web.de