Neurologie up2date 2020; 3(04): 387-405
DOI: 10.1055/a-1011-7225
Kopfschmerz und andere Schmerzsyndrome

Neuropathische Schmerzen

Luisa Kreß
,
Nurcan Üçeyler

Neuropathische Schmerzen begegnen ÄrztInnen aufgrund ihrer vielfältigen Ätiologie und als mögliche Begleiterscheinung unterschiedlicher Krankheitsbilder in nahezu allen Fachbereichen. Zur adäquaten Therapie und Symptomkontrolle ist es wichtig, neuropathische Schmerzen als eigene Schmerzform zu differenzieren. Eine zielgerichtete Anamnese, die ausführliche klinische Untersuchung und ggf. eine erweiterte apparative Diagnostik ermöglichen die Abgrenzung neuropathischer Schmerzen von nozizeptiven und noziplastischen Schmerzen.

Fallbeispiel

Fall 2: Schmerzhafte diabetische Polyneuropathie


Eine 84-jährige Patientin stellte sich mit seit etwa 9 Jahren intermittierenden brennenden Schmerzen an den Zehen vor. Die Schmerzen hatten eine durchschnittliche Schmerzstärke von 5 /10 auf der NRS, bestanden vorzugsweise nachts und wurden von stundenweise schmerzfreien Episoden durchbrochen. Auslöser gab es keine. Behandlungsversuche mit Pregabalin bzw. Duloxetin hatten lediglich zu Nebenwirkungen ohne Symptombesserung geführt. Intermittierend bestanden zudem Kribbelparästhesien in den Zehen, Ablenkung half dagegen am besten. Seit etwa drei Jahren bemerkte die Patientin zusätzlich ein Taubheitsgefühl an den Zehen und Vorfüßen sowie eine ausgeprägte Gangunsicherheit, Lähmungen waren nicht aufgetreten, die Hände waren beschwerdefrei.


An Vorerkrankungen waren arterielle Hypertonie, Hypercholesterinämie, Arthrose und Osteoporose bekannt. Zudem bestand ein Diabetes mellitus Typ 2, der mit Lantus-Injektionen und Vildagliptin behandelt wurde. Der aktuelle HbA1c lag bei 7,1 %.


In der klinisch-neurologischen Untersuchung zeigten sich eine Hypästhesie für Berührung mit 40 % Restempfinden an den Füßen, eine Pallanästhesie an den Großzehengrundgelenken beidseits und eine Pallhypästhesie am Malleolus medialis beidseits mit 4 /8. Eine taktile Allodynie oder Hyperalgesie bestand nicht. Ferner imponierte eine sensible ataktische Gangstörung. Eine motorische Mitbeteiligung ließ sich in der klinischen Untersuchung nicht nachweisen, latente oder manifeste Paresen lagen nicht vor, die Muskeleigenreflexe waren beidseits inklusive Achillessehnenreflex erhältlich.


Elektrophysiologisch fand sich eine schwere axonale Neuropathie mit deutlicher Reduktion der Amplitude in den sensiblen und motorischen Neurografien des N. suralis und des Nn peroneus. Die Befunde der motorischen Neurografie des N. peronaeus rechts sind exemplarisch in [Abb. 2] dargestellt.

Zoom Image
Abb. 2 Reduzierte CMAP Amplitude bei distaler und proximaler Stimulation des N. peronaeus rechts als Hinweis auf axonale Schädigung (Ampl. = Amplitude; CMAP = Compound Muscle Action Potential; Lat. = Latenz; NLG = Nervenleitgeschwindigkeit; Temp. = Temperatur).

In der QST ergab sich eine paradoxe Hitzeempfindung am linken Fuß (Testareal), d. h. dass kalte Reize als heiß empfunden wurden, als Hinweis auf eine Beeinträchtigung der kleinen Nervenfasern.


Differenzialdiagnostisch wurde von einer schmerzhaften diabetischen Polyneuropathie ausgegangen.


Über eine möglichst optimale Blutzuckereinstellung als einzig kausal wirksame Therapie wurde mit der Patientin ausführlich gesprochen. In einem frühen Krankheitsstadium wäre möglicherweise durch eine Normalisierung der Blutzuckerwerte durchaus eine vollständige Rückbildung der Beschwerden zu erreichen gewesen.


Hinsichtlich der neuropathischen Schmerzen wurde die Einnahme von Amitriptylin initial 25 mg retard zur Nacht mit Möglichkeit zur Dosissteigerung bei guter Verträglichkeit auf 50 – 75 mg retard zur Nacht bzw. alternativ Gabapentin unter langsamer Eindosierung empfohlen.


Bei Wiedervorstellung berichtete die Patientin, dass unter Amitriptylin keine Besserung der Beschwerden eingetreten sei, und sie klagte weiterhin über bestehenden Fußschmerzen mit einer mittleren Schmerzstärke 7 /10 NRS, die v. a. nachts auftreten würden. Daraufhin schließlich ein Behandlungsversuch mit Gabapentin, worunter es zu einer deutlichen Reduktion der neuropathischen Schmerzen auf eine mittlere Schmerzstärke von 4 /10 NRS kam.

Kernaussagen
  • Neuropathische Schmerzen sind von nozizeptiven und noziplastischen Schmerzen abzugrenzen. Unterschiede bestehen hier sowohl in der Pathophysiologie, der klinischen Präsentation als auch in der Therapie der Schmerzen.

  • Eine ausführliche Anamnese inkl. Schmerzanamnese und körperliche Untersuchung helfen zur Differenzierung.

  • Häufige Begleiterscheinungen neuropathischer Schmerzen sind „Neuropathiesymptome“ mit Plus- oder Minussymptomen, autonome Symptome sowie psychische Begleiterkrankungen.

  • Die Genese neuropathischer Schmerzen ist sehr vielfältig, zeitweise bleibt sie jedoch auch nach ausführlicher Abklärung unklar.

  • Wichtig ist es, mögliche kausal behandelbare Ursachen dabei nicht zu übersehen.

  • Die Therapie neuropathischer Schmerzen ist häufig langwierig.

  • Neben der medikamentösen Therapie zur Reduktion der klinischen Beschwerden sind multimodale Therapieansätze hilfreich, Begleiterscheinungen zu behandeln und Alltagsaktivitäten und Lebensqualität der Patienten zu optimieren.



Publication History

Article published online:
09 November 2020

© 2020. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany