Schlüsselwörter
Chronischer Tinnitus - TMNMT - Anwenderbefragung - Evidenz - App-basierte Therapie
Key words
Chronic tinnitus - tailor made notched music training - TMNMT - user survey - evidence
- app-based therapy
Einleitung
Tinnitus beschreibt ein Phantomgeräusch ohne externe Quelle und ist die am weitesten
verbreitete, chronische Hörstörung [1]. Die wahrgenommenen Geräusche können sehr unterschiedlich sein, von z. B. relativ
spezifischen Tönen (tonaler Tinnitus) zu Rauschen, Brummen, Klingeln. Sehr häufig
wird dieses Symptom von affektiven (Depression, Angst) und somatoformen Symptomen
begleitet [2]. Die Komorbidität ist sehr hoch und ist deutlich erhöht bei schwerem Tinnitusgrad
[z. B. [3], [4], [5], [6], [7], für einen aktuellen Review siehe [2]]. Neben dieser komorbiden Symptomatik kommt es auch zu kognitiven Veränderungen
im Bereich der Aufmerksamkeit, den exekutiven Funktionen und dem Sprachverständnis
[für Reviews: [8], [9], [10], [11]]. Die Belastung für die Patienten sowie die Gesellschaft inkl. Kostenträgern sind
als sehr hoch einzustufen. Die jährlichen Kosten für die EU werden auf 117–325 Milliarden
Euro pro Jahr geschätzt [12]. Trotz dieser erheblichen Belastung für das Individuum und die Gesellschaft gibt
es nur relativ wenige evaluierte Behandlungsverfahren. Basierend auf der Literatur
sprechen sich die S3-Leitlinien für eine Behandlung mit kognitiver Verhaltenstherapie
(KVT) aus [13]. Dieser Ansatz wurde im Rahmen von klinischen Studien, auch für internetbasierte
Versionen, evaluiert [[14], [15], [16], [17], [18], für einen systematischen Review siehe [19], für internetbasierte Versionen: [5], [20], [21], [22], [23], [24], [25]]. Als problematisch sehen jedoch viele Patienten, dass sich die KVT gemäß der S3
Leitlinien als Ziel nur den verbesserten Umgang mit dem Phantomgeräusch setzt und
nicht das Symptom per se. In einem interdisziplinärem Therapiesetting des Tinnituszentrums
an der HNO Klinik Jena äußerten 35 % der Patienten, dass sie Habituation an das Phantomgeräusch
als alleinige Zielsetzung nicht akzeptieren [26]. Was sind Alternativen, für die es in der Fachliteratur erste Evidenz gibt?
Als eine neuere Möglichkeit wird das „tailor-made notched music training“ (TMNMT)
diskutiert, bei der die individuelle Frequenz eines tonalen Tinnitus aus zu hörender
individuell zusammengestellter Musik herausgefiltert wird (sog. Notchfilter). Das
Verfahren beruht auf der Überlegung, dass fehlende laterale Inhibition auf Grund eines
peripheren Hörverlusts zu einer Dysbalance von Erregung und Hemmung führt, was wiederum
eine kortikale Reorganisation tonotoper Repräsentation zur Folge hat [27]. Inhibitionsinduzierte Plastizität auch durch Musik mit einem Notch wurde zuerst
an normalhörenden Probanden gezeigt [28], [29], [30] und in Folge an Tinnituspatienten [31], [32], [33]. Nach einem Jahr TMNMT zeigten Patienten, die mit TMNMT behandelt wurden im Vergleich
zu einer Placebogruppe (bei dieser Gruppe lag der Notchfilter nicht an der Stelle
der Tinnitusfrequenz, sondern springt zu anderen Frequenzen] ein verändertes neurophysiologisches
Muster. Sie gaben mit Hilfe einer visuellen Analogskala (VAS) auch an, dass sich die
wahrgenommene Lautstärke des Tinnitus verringert hat. Dieser Verhaltenseffekt konnte
in einer kürzlich veröffentlichten klinischen Studie repliziert werden [34]. Es zeigten sich jedoch keine signifikanten Veränderungen auf dem üblichen Maß für
Tinnitusbelastung, dem Tinnitus Questionaire [25].
Basierend auf den vielversprechenden Ergebnissen der Münsteraner Gruppe um Prof. Pantev,
die die meisten Studien mit genotchter Musik durchgeführt hatten, brachte die Firma
Sonormed GmbH, Hamburg, das Programm Tinnitracks auf den Markt.
Hierbei wird zunächst in einer HNO-ärztlichen Eingangsuntersuchung die Tinnitusfrequenz
und -lautstärke und ggf. der Hörverlust ermittelt (Modul 1). Die Patienten erhalten
dann eine Bescheinigung mit den Angaben zum Tinnitus sowie einen Code, mittels dessen
die App-gestützte Anwendung Tinnitus auf dem patienteneigenen Smartphone aktiviert
werden kann (www.tinnitracks.com). Der Patient wir angehalten, täglich für mindestens
90 Minuten entsprechend seines Tinnitus gefilterte, von ihm gewünschte Musik zu hören.
Insgesamt finden 5 HNO-ärztliche Kontrolluntersuchungen statt (Module 2a–e). Nach
einem guten Jahr findet eine ärztliche Abschlussuntersuchung statt (Modul 3). In der
Vergangenheit wurde die TMNMT, zu der mittlerweile weitere Apps vorliegen, kritisiert
[36]. Neben der insgesamt schwachen Evidenz im Hinblick auf die Ergebnisse der Fragebogenmaße
der Therapie wurde dabei hervorgehoben, dass die genaue Frequenzfindung als Therapievoraussetzung
für die Patienten schwierig sei, und dass primär ein häufig geschädigtes Innenohr
für die Schallperzeption benutzt werde, wobei die bestehenden Hördefizite auch die
kortikale inhibitorische Regulation beeinflusse [36].
Die Behandlung mit Tinnitracks ist zwar nicht Bestandteil des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes
(EBM) und gehört somit nicht zum Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenkassen.
Sie wird aber von vielen gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen unterstützt,
die ärztliche Tätigkeit wird gesondert vergütet (pro Modul 19 bis 30 €). Umso erstaunlicher
ist, dass es bisher keine umfassenden Evaluierungsstudien zu dieser neuen Therapieform
gibt. In der vorliegenden Arbeit möchten wir als ersten Schritt in diese Richtung
die Ergebnisse einer Anwenderbefragung bei Tinnitracks-anbietenden HNO-Kolleginnen
und -Kollegen präsentieren. Ziel der vorliegenden Arbeit war es auch, anhand der Ergebnisqualität
der Befragung auf die dringende Notwendigkeit einer systematischen Untersuchung zur
Wirksamkeit von Tinnitracks hinweisen zu können.
Methoden
Am 28.05., 11.06. und 25.06.2018 wurden die 457 Tinnitracks-anbietenden HNO-Kolleginnen
und -Kollegen mittels E-Mail um Teilnahme an einer Umfrage auf einer internetbasierten
Plattform (surveymonkey.de) gebeten. Der Text der E-Mail findet sich in [
Abb. 1
]. Im Rahmen der Umfrage wurden folgende Fragen gestellt:
Abb. 1 Aufforderung zur Umfrage per E-Mail.
-
Seit wann bieten Sie Tinnitracks in Ihrer Praxis an?
-
Wie vielen Patienten haben Sie bisher diese Therapiemöglichkeit angeboten?
-
Wie viele Patienten führen tatsächlich diese Therapie bei Ihnen regulär durch?
-
Wie viele Patienten haben die Therapie bisher regulär beendet?
-
Wieviel Prozent aller Patienten wollten die Therapie nach dem regulären Ende fortsetzen?
-
Wie erfassen Sie die subjektive Belästigung des Tinnitus?
-
Wieviel Prozent der Patienten machen folgende Angaben zur
-
Tinnituslautstärke?
-
Tinnitus gleichbleibend in der Lautstärke
-
Tinnitus schlechter in der Lautstärke
-
Tinnitus leiser in der Lautstärke
-
Tinnitusfrequenz?
-
Tinnitusfrequenz wird höher
-
Tinnitusfrequenz bleibt gleich
-
Tinnitusfrequenz wird niedriger
-
Empfindung des Tinnitus?
-
Therapie selbst?
-
Würden Sie bei sich selbst oder einem Angehörigen – eine Eignung vorausgesetzt – einen
Tinnitus mittels Tinnitracks behandeln?
-
Wie finden Sie die Durchführung von Tinnitracks mit allen Formalien?
Die Antworten wurden in der Datenbank von surveymonkey.de erfasst und anschließend
in eine Excel-Tabelle exportiert. Mit diesem Programm erfolgte auch die statistische
Darstellung und Auswertung der Ergebnisse. Die Daten zur Tinnituslautstärke, Tinnitusfrequenz
und Empfindung des Tinnitus wurden arcsin transformiert. Dies ist ein übliches Verfahren
um Prozentwerte zu transformieren, um sie mit inferenzstatistischen Verfahren zu analysieren.
Die entstandenen Werte wurden anschließend mit einfaktoriellen ANOVAs ausgewertet;
t-Tests dienten zur weiteren Analyse der Effekte und wurden mit der Bonferroni-Methode
korrigiert. Vor der Analyse wurden die Daten auf Einzelfallebene überprüft. Wenn nicht
auszuschließen war, dass Prozentangaben mit absoluten Werten verwechselt wurden, wurden
die Werte von der Analyse ausgeschlossen. Weiterhin wurden nur Fälle in die Analyse
genommen, wenn angegeben wurde, dass Behandlungen bis zum Schluss durchgeführt wurden.
Diese Auswertungen inkl. der Transformation erfolgten mit IBM SPSS Statistics 25.
Ergebnisse
Insgesamt antworteten 117 (25,6 %) der 457, zum Zeitpunkt der Befragung Tinnitracks-anbietenden
HNO-Kolleginnen und -Kollegen. Die zeitliche Verteilung der Rückläufe zeigt [
Abb. 2
]. Die Antworten zu den Fragen 1 bis 5 zeigt [
Tab. 1
]. Durchschnittlich wurde die Therapie in den teilnehmenden Praxen seit 1,26 Jahren
angewendet (SD ± 0,14 Jahre, Median 1,34 Jahre, Frage 1). Die durchschnittliche Erfahrung
der antwortenden Ärzte liegt damit über der standardisierten Therapiedauer. Insgesamt
wurde die Therapie 5.121 Patienten angeboten, davon nahmen 1.764 (34,4 %) tatsächlich
das Behandlungsangebot mit Tinnitracks an, 646 (36,6 % der behandelten Fälle) haben
die Therapie bisher regulär beendet. Die Minimalanzahl der Patienten, denen die Therapie
angeboten wurde (Frage 2) lag bei 0, das Maximum bei 300 Fällen. Die Minimalanzahl
der Fälle, bei denen die Behandlung durchgeführt wurde (Frage 3) lag bei 0, das Maximum
bei 100 Fällen. Abhängigkeiten des Antwortverhaltens von der Betreuungsgröße fanden
sich nicht.
Abb. 2 Verteilung der Rückläufer der Umfrage.
Tab. 1 Antworten zu den Fragen 1 bis 5 (alles absolute Zahlen bis auf Frage 5).
Frage
|
MW
|
SD
|
MD
|
1. Quartil
|
2. Quartil
|
1. Seit wann bieten Sie Tinnitracks in Ihrer Praxis an? (Angabe in Jahren)
|
1,26
|
0,14
|
1,34
|
0,72
|
1,60
|
2. Wie vielen Patienten haben Sie Tinnitracks bisher in Ihrer Praxis angeboten
|
44,5
|
57,2
|
30
|
10
|
50
|
3. Wie viele Behandlungen führen Sie tatsächlich durch?
|
15,2
|
18,8
|
8,5
|
3
|
20
|
4. Wie viele Patienten haben die Therapie bisher regulär beendet?
|
5,6
|
10,6
|
1,0
|
0
|
5,6
|
5. Wie viel Prozent aller Patienten wollten die Therapie nach dem regulären Ende fortsetzen?
|
6,5 %
|
17,9 %
|
0 %
|
0 %
|
3 %
|
Abkürzungen: MW (Mittelwert), SD (Standardabweichung), MD (Median)
|
|
|
|
|
|
Mindestens bei keinem und maximal bei 80 Fällen wurde angegeben, dass die Behandlung
regulär beendet worden sei (Frage 4). Hinsichtlich der Erfassung der Belästigung der
Patienten durch den Patienten (Frage 6) benutzten 8,5 % eine visuelle Analogskala,
16,2 % einen standardisierten Fragebogen (z. B. Mini-TF-12 nach Hiller und Goebel
[37]), 71,0 % zogen rein anamnestische Angaben hierzu hinzu, 0,9 % erfassten diese Angabe
nicht und 3,4 % machten zu dieser Frage keine Angaben. Die Angaben zur Veränderung
des Tinnitus hinsichtlich der Lautstärke, der Frequenz und des Therapiekomforts (Frage
7) finden sich in [
Tab. 2
], die Ergebnisse zu den übrigen Fragestellungen in [
Tab. 3
].
Tab. 2 Antworten zur Frage 7a–c.
Tinnitus
|
lauter/höher/unangenehmer
|
gleichbleibend
|
leiser/tiefer/angenehmer
|
keine Angabe
|
7a Lautstärke
|
5,1 %
|
37,7 %
|
33,3 %
|
23,9 %
|
7b Frequenz
|
12,3 %
|
55,6 %
|
15,1 %
|
17,0 %
|
7c Empfindung
|
6,8 %
|
36,0 %
|
39,3 %
|
17,9 %
|
Tab. 3 Angaben zur Therapieempfindung, Durchführung, Selbstbehandlung und dem Therapieformalismus.
7d Welche Angaben machen die Patienten zur Therapie selbst?
i. Die Therapie ist
|
angenehm
|
unangenehm
|
keine Antwort
|
49,6 %
|
6,0 %
|
44,4 %
|
ii. Die Durchführung ist
|
einfach
|
schwierig
|
keine Antwort
|
45,3 %
|
21,4 %
|
33,5 %
|
8. Würden Sie bei sich selbst oder einem Angehörigen – eine Eignung vorausgesetzt –einen
Tinnitus mittels Tinnitracks behandeln?
|
ja
|
nein
|
weiß ich nicht
|
68,5 %
|
15,3 %
|
16,2 %
|
9. Wie finden Sie die Durchführung von Tinnitracks mit allen Formalien?
|
einfach
|
kompliziert
|
weiß ich nicht
|
64,3 %
|
31,3 %
|
4,4 %
|
Die ANOVA für Lautstärke zeigte einen hochsignifikanten Effekt (F(2,88) = 29,857;
p < 0,001; partielles Eta-Quadrat 0,404). Der Effekt kommt zustande, weil seltener
berichtet wurde, dass die Lautstärke schlechter (M = 5 %; SD = 9) wird im Vergleich
zu „leiser“ (M = 44 %; SD = 28; p < 0,001) oder „gleich“ (M = 53 %; SD = 27 p < 0,001).
Zwischen „leiser“ und „gleich“ gab es keinen Unterschied (p = 0,813). Die Analyse
der Frequenzänderung zeigte ebenso einen hochsignifikanten Effekt (F(2,88) = 32,307;
p < 0,001; partielles Eta-Quadrat 0,423), der dadurch zustande kam, dass häufiger
angegeben wurde, dass die Frequenz gleich geblieben ist (M = 68 %; SD = 39), im Gegensatz
zu „höher“ (M = 15 %; SD = 21; p < 0,001) oder „niedriger“ (M = 19 %; SD = 24; p < 0,001).
Die Häufigkeit der Angaben zu „höher“ und „niedriger“ unterschied sich nicht voneinander
(p = 0,602). Die Analyse der Angenehmheit des Tinnitus zeigte einen hochsignifikanten
Effekt (F(2, 90) = 28,920; partielles Eta-Quadrat 0,391), der dadurch zustande kam,
dass weniger häufig berichtet wurde, dass der Tinnitus „unangenehm“ (M = 6 %; SD = 11)
im Vergleich zu „angenehmer“ (M = 53 %; SD = 29; p < 0,001) oder gleich (M = 43 %;
SD = 28; p < 0,001) wurde. Zwischen den beiden letzten Antwortmöglichkeiten gab es
keinen signifikanten Unterschied (p = 0,143).
Diskussion
Die TMNMT ist eine vergleichsweise neuere Form zur Behandlung bei Tinnitus. Bisher
liegt nur eine Studie zur langfristigen Wirksamkeit vor, die direkte und indirekte
Wirkungen des Tinnitus prospektiv untersuchte [34]. Eine Anwenderbefragung ist definitionsgemäß mit einem niedrigen Evidenzgrad (5)
behaftet [38]. Gleichwohl ist die individuelle klinische Expertise, also das Können und die Urteilskraft,
die Ärzte durch ihre Erfahrung und klinische Praxis erwerben, ebenfalls ein wichtiges
Element ärztlichen Handelns und ergänzt die verfügbare, externe Evidenz [39]. Deswegen ist, gerade wenn Studien höheren Evidenzgrades fehlen, zur Einschätzung
einer neuen Methode die Befragung klinischer Anwender ein erster sinnvoller Schritt,
der zudem einfach und ohne große Kosten durchzuführen ist.
Die hier vorgestellte Studie Rücklauffrequenz von gut 25 % limitiert die Aussagekraft
grundsätzlich. Allerdings ist diese Rate für eine Befragung unter niedergelassenen
HNO-Ärzten eher relativ hoch. Bei der vor Jahren durchgeführten Befragung zu Evidenzlücken
im HNO-Gebiet kam es aus dem ambulanten Bereich nur zu einer Rücklaufquote von unter
20 % [40].
Tinnitus ist nicht auf eine einzelne Krankheit oder pathologische Veränderung zurückzuführen,
sondern nur ein Symptom, das für einige, aber nicht für alle Betroffenen belastend
ist [41]. Emotionale Faktoren, wie Depressionen, Angst- und somatoforme Störungen stellen
ernst zu nehmende Prädiktoren für eine schlechte Prognose der Tinnitusentwicklung
dar, entsprechend hoch ist die Rate an Komorbiditäten [Übersicht z. B. in [2]]. Die bisherigen Therapieansätze sind vielfältig [Übersicht z. B. in [42], [43]].
Am häufigsten wird ein Tinnitus mittels der Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT) behandelt
[44], [45], [46], [47]. Allerdings zeigen aktuellere Wirksamkeitsstudien mit einem kognitiv verhaltenstherapeutischen
Ansatz (KVT) signifikant bessere Ergebnisse in Bezug auf Tinnitus-relevanten Distress
als die TRT [18]. Dabei verbessert die KVT vor allem die Lebensqualität und komorbide Depressivität,
ohne dass eine Veränderung der Tinnituslautstärke ein erklärtes Ziel ist [48]. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es keine Korrelation einer aus Patientenperspektive
angenommenen Zunahme der subjektiven Tinnituswahrnehmung und einer Zunahme der messbaren
Lautheit gibt; dieses gilt auch für alle anderen psychoakustischen Parameter und subjektiven
Merkmale [2], [49]. Bei einer multimodalen Tinnitustherapie werden die vorgenannten Methoden zusammen
mit weiteren (z. B. Hörtraining, Entspannungsverfahren, Physiotherapie) kombiniert
[z. B. [11]]. In verschiedenen Studien wurde hierbei signifikante Verbesserungen hinsichtlich
Tinnitusdistress, Lebensqualität, Stress und Depressivität über Jahre nachgewiesen
[50], [51]. In diesem Sinne halten wir es für unabdinglich, dass Tinnitus interdisziplinär
und in einer Gesamtschau mit einer Berücksichtigung der individuellen Gegebenheiten
eines Patienten behandelt und untersucht wird. TMNMT könnte also in einem solchen
Ansatz eines von mehreren Behandlungsmodulen darstellen. Wie oben schon dargestellt
halten ca. ein Drittel der chronischen Tinnituspatienten in unserer Klinik [11] eine Habituation an den Tinnitus für kein ausreichendes Ziel und sie wünschen sich
eine deutliche Verringerung des Symptoms per se. Aktuell kann das auf Grundlage der
existierenden Literatur nicht als Ziel angeboten werden. Dies bringt Patienten und
Behandler in die missliche Situation, dass eine Deckung der Ziele nicht gegeben ist,
was als Grundlage für jedwede Therapie keine gute Ausgangsbasis ist. Diese Lage erfordert
bei Behandlern ausgeprägte kommunikative Fähigkeiten, die nicht unterschätzt werden
sollten. Es bleibt jedoch eine offene Frage, was zu tun ist, wenn eine Überstimmung
der Ziele nicht erreicht werden kann, d. h. der Patient will von dem Geräusch befreit
werden, und der Behandler hält das für kein sinnvolles Ziel.
Die hier erhobenen Daten der Anwenderbefragung zeigen, dass die TMNMT keinen negativen
Effekt auf Lautstärke oder Angenehmheit des Tinnitus hat. Die Tinnitusfrequenz wird
in der Regel, jedenfalls signifikant nicht verändert, wenn auch solche Veränderungen
vorkommen können. Die Erhebung zeigt allerdings auch, dass TMNMT nicht zu einer Verbesserung
der Situation im Vergleich zum „gleich bleiben“ führte, weder im Hinblick auf die
wahrgenommene Lautheit des Tinnitus noch auf die Angenehmheit. Einzelne Benutzer berichteten
davon, dass es im Einzelfall schwierig war, die Tinnitusfrequenz exakt zu bestimmen.
Dabei kam es nach Einzelberichten hierbei vor allem zu sog. Oktavverwechslungen; diese
Berichte waren der Inhalt zur Umfrage begleitend zugesandter E-Mails. Durch eine wie
auch immer geartete, falsche Bestimmung der Tinnitusfrequenz kommt es zwangsläufig
zu einer Fehlprogrammierung der Notches, die wiederum den therapeutischen Ansatz der
TMNMT konterkariert.
Da der Algorithmus von Tinnitracks nicht bekannt ist, kann nichts hinsichtlich des
verwendeten Filters gesagt werden. Dieser ist aber hinsichtlich der postulierten Wirkung
vermutlich ein relevanter Faktor. Hierzu sind weitere Studien erforderlich. Eine weitere
Frage ist, wie hörsensitive Patienten mit dem veränderten Stimulus umgehen. In unserer
Untersuchung wurde diesbezüglich nicht stratifiziert, dieses müsste in einer künftigen
Studie jedoch berücksichtigt werden. Die hier vorgestellte Anwenderbefragung kann
naturgemäß nur eine erste neutrale Tendenz hinsichtlich der Wirksamkeit der TMNMT
zu zeigen; zumindest scheinen die Anzahl der Fälle mit negativem Einfluss durch die
Therapie gering zu sein. Ein Wirksamkeitsnachweis von Tinnitracks wurde mit dieser
Studie ausdrücklich nicht erbracht, d. h. auch dass sich daraus keine Empfehlung ableiten
lässt. Künftige Studien sollten in jedem Fall anhand einer größeren Fallzahl prospektiv,
doppelblind und mittels standardisierter Verfahren die hier bereits untersuchten Aspekte
untersuchen.
Ein grundsätzliches Problem vieler bisherigen Studien – nicht nur zur TMNMT – zur
Therapiewirksamkeit beim Tinnitus ist, dass nur leicht und mittelschwer erkrankte
Probanden untersucht wurden, indem psychiatrische Komorbiditäten als ein ausschließendes
Kriterium definiert wurden. Dabei korrelieren der Schweregrad des Tinnitus und das
Niveau der neuropsychiatrischen Komorbiditäten [2]. Hinsichtlich künftiger Studien sollten daher nach Ansicht der Autoren unbedingt
schwer erkrankte Tinnituspatienten hinsichtlich der Wirksamkeit der verschiedenen
vorhandenen Therapieformen untersucht werden, weil bei diesen die Behandlungseffekte
viel stärker sein könnten. Dieses verkompliziert natürlich das wissenschaftliche Design.
Vollständigkeitshalber wollen wir noch alternative Verfahren in gebotener Kürze darstellen,
die in der Literatur zur Behandlung des Tinnitus diskutiert werden. Neurofeedback
hat zum Ziel, durch eine Elektroenzephalographie-vermittelte Selbstkontrolle der eigenen
Gehirnaktivität zu erreichen bzw. die eigene Gehirnaktivität gezielt zu beeinflussen.
Mit diesem, nicht routinemäßig verwendeten Verfahren konnte in verschiedenen Studien
eine positive Beeinflussung der Tinnitussymptomatik gezeigt werden [Übersicht in [52]. Auch wenn eine erste klinische Studie zur rekombinanten, vektorvermittelten Gentherapie
bei hochgradig schwerhörenden Patienten initiiert wurde, befinden sich regenerative
Therapien zur Behandlung einer Schwerhörigkeit und eines chronischen Tinnitus derzeitig
noch im Experimentalstadium [53]. Versuche an Tiermodellen lassen vermuten, dass bei allen therapeutischen Ansätzen
zur Tinnitustherapie, die versuchen, diesen über Anregungen von Neuroplastizitätsveränderungen
zu supprimieren, wahrscheinlich wiederholte Behandlungseinheiten erforderlich sind,
um zu verhindern, dass die durch Deafferenzierung ausgelöste Tinnitusaktivität wiederkehrt
[54]; dieses ist bei der Anwendung von Tinnitracks gegeben.
Bisherige Theorien und Untersuchungen zur Tinnitusentstehung gehen davon aus, dass
es sich beim chronischen Tinnitus um eine, den Betroffenen belastende Interaktion
des auditiv sensorischen Systems mit dem limbischen System handelt, die teilweise
mit Veränderungen der Cochlea und der zentralen Hörbahn, Auffälligkeiten der funktionalen
Gehirnkonnektivität in Ruhe, in audiologischen und aufmerksamkeits- bzw. emotions-
und gedächtnisrelevanten Strukturen und damit verbundener erhöhter Stressaktivität,
Aufmerksamkeitsfokussierung oder erhöhten Kortisolspiegel einhergeht [55], [56], [57], [58], [59], [60], [61], [62], [63], [64]. Demzufolge wäre es folgerichtig, wenn künftig systematisch untersucht würde, welchen
kurz- und langfristigen Einfluss entweder eine KVT oder TMNMT sowie die Kombination
beider Methoden bei der Behandlung eines chronischen Tinnitus haben.
Mit den Ergebnissen dieser Studie wollen wir dazu beitragen, dass eine großangelegte
multizentrische, systematische klinische Studie zum Nachweis der Wirksamkeit der TMNMT
durchgeführt wird. Die hier aufgeworfenen Fragen sind nur in einem systematischen
Ansatz und nicht einer kostenneutralen Studie tatsächlich zu klären, die weitere Kriterien
z. B. zum Ausschluss, Alter, der Hörminderung, Subtypen des Tinnitus, Anwender und
weitere Patientencharakteristika berücksichtig. Eine plazebokontrollierte Studie sollte
grundsätzlich gut realisierbar sein, weil die gefilterte Musik allenfalls für geschulte
Ohren von der Primärversion unterschieden werden kann. Nur bei einem positiven Wirksamkeitsnachweis
wäre es gerechtfertigt, wenn weiterhin gesetzliche Krankenkassen diese Therapie zu
Lasten der Solidargemeinschaft finanzierten. Umgekehrt könnte man auch fragen, warum
gesetzliche Krankenkassen eine Therapie ohne nachgewiesene Evidenz überhaut bezahlen.
Fazit für die Praxis
Tinnitracks ist eine Therapie des Tinnitus mittels TMNMT, deren Wirksamkeit bisher
noch nicht an einer größeren Patientenpopulation untersucht wurde. Die hier vorgestellt
Anwenderbefragung zeigte, dass die Therapie hinsichtlich der Tinnituslautstärke und
dessen Angenehmheit wenigstens keinen schädlichen Einfluss hat. Ein Nachweis für einen
positiven Effekt konnte nicht erbracht werden. Die Tinnitusfrequenz wurde nicht signifikant
beeinflusst. Negative Effekte waren selten und statistisch nicht signifikant. Eine
Wirksamkeit von Tinnitracks zur Behandlung eines Tinnitus ließ sich mit unseren Ergebnissen
ausdrücklich nicht nachweisen; somit kann auch keine Empfehlung ausgesprochen werden,
diese Therapie zur Behandlung eines chronischen Tinnitus anzuwenden.
Künftige Studien sollten diese Effekte unbedingt prospektiv, randomisiert und verblindet
und mittels definierter Messmethoden untersuchen, auch hinsichtlich einer langfristigen
Wirkung. Auch ein direkter Wirkungsvergleich zwischen einer TMNMT und KVT sowie einer
Kombination dieser beiden Behandlungsformen sollte künftig untersucht werden. In diese
Studien sollten auch Patienten mit schwerem chronischem Tinnitus und entsprechenden
Komorbiditäten einbezogen werden.