Deutsche Heilpraktiker-Zeitschrift 2019; 14(06): 68-73
DOI: 10.1055/a-1007-1193
Magazin
Reportage
© Karl F. Haug Verlag in Georg Thieme Verlag KG

Vielleicht nicht retten, aber helfen!

Alphan Cicekten
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Publication Date:
09 October 2019 (online)

 

Summary

Ein Verein von Heilpraktikern setzt sich für die kostenfreie naturheilkundliche Behandlung von Menschen in Armut und Not ein.


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Abb. 1 Heike Goebel (vorne im Bild) in den Gemeinderäumen der St. Gertrud Kirche in Essen. Unermüdlich flitzt sie hin und her, koordiniert die Sprechstunden – angefangen vom Aufbau bis zur Zuteilung der Patienten an die Behandelnden. Foto: Stefan Fercho

Heike Goebel und ihre Heilpraktiker-Kollegen von NATURHEILPRAXIS OHNE GRENZEN tun ihr Möglichstes, um von Obdachlosigkeit und Armut betroffene Menschen zu behandeln.

ES RIECHT nach Frischgekochtem. Kein Geruch, den man gewöhnlich in einer Kirche erwarten würde. Hinter der verschlossenen Tür zu den Gemeinderäumen der St. Gertrud Kirche in Essen sind Stimmen zu hören, Schritte – etwas klappert. Eine Frau öffnet die Tür, sagt nichts und schaut so fragend, dass man gar nicht umher kann, als sich augenblicklich zu erklären: Dass man einen Termin mit Heike Goebel, der Gründerin von Naturheilpraxis ohne Grenzen, habe und die man heute bei ihrer Arbeit begleiten wolle. „Heike, für Dich!“, ruft sie und verschwindet hinter der nächsten Tür. Einen Schritt hinein ins Gemeindezentrum und man steht in einem schlauchartigen, L-förmigen Flur. Augenblicklich erscheint am anderen Ende des linken Ganges eine junge Frau und hält einen Kochtopf weit ausgestreckt von sich. Die Frau, klein und drahtig, rauscht vorbei und grüßt lächelnd: „Hallo, ich bin Heike! Ich stell‘ das ab und bin sofort zurück.“ Das also ist die Heilpraktikerin Heike Goebel. Sie geht durch eine Tür, es klappert ein letztes Mal, und dann ist Heike wieder zurück, der freundliche Blick genauso bestätigend wie ihr Händedruck. „Sorry“, sagt sie, „heute ist hier noch ein anderer Verein, die geben den Obdachlosen um 19 Uhr unten Essen aus. Denen habe ich kurz geholfen.“

Naturheilkunde für Menschen in Not

Heike ist Vorsitzende von Naturheilpraxis ohne Grenzen e.V., ein junger gemeinnütziger Verein, er existiert gerade mal seit September 2018. Sein Ziel ist es, Menschen, die von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind, ehrenamtlich und kostenfrei naturheilkundliche Hilfe anzubieten. Heike ist hauptberuflich Ingenieurin. Sie wurde Heilpraktikerin, um obdachlosen Menschen helfen zu können.

Vor einigen Jahren nahm Heike an einem Führungskräfteseminar teil. Alle Teilnehmer mussten ein einwöchiges soziales Praktikum absolvieren. Heike machte ihres beim Arztmobil in Essen, das Obdachlose, Suchtkranke und Straßenkinder versorgt – und fühlte sich berufen. Sie wollte Menschen in Not weiter medizinische Hilfe anbieten. „Mach doch eine Heilpraktikerausbildung“, meinte einer der Ärzte, „das ist etwas Seriöses.“ Also paukte Heike fleißig neben dem Beruf an der Heilpraktikerschule und wurde Heilpraktikerin. Danach arbeitete sie vier Jahre lang beim Arztmobil in Wuppertal, erarbeitete sich die Zuneigung und Anerkennung der Patienten und der ärztlichen Kollegen. Es hätte eigentlich so weitergehen können, doch irgendwann war das für Heike nicht mehr genug. Auf einem Arztmobil steht die schulmedizinische Hilfe mit Medikamenten, Wundversorgung etc. notwendigerweise im Vordergrund. Was fehlt, ist die Zeit, Patienten ganzheitlich zu betrachten und zu behandeln, zum Beispiel auch psychologisch zu beraten oder ihnen auch mal eine wohltuende Berührung zu spenden. Dinge, die Heikes Erfahrung nach sozial benachteiligten Menschen dringend fehlen, insbesondere wenn sie zudem ohne Obdach sind: „Da war meine Idee geboren: Ich wollte diesen Menschen ganzheitlich helfen.“


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Was aber bedeutet ganzheitlich?

Ganzheitlichkeit ist ein hoher Anspruch, den Heike für die Belange des Vereins pragmatisch herunterzubrechen weiß. Bei einem Hilfsangebot, das sich an Menschen richtet, denen es am Notwendigsten fehlt, muss auch die Naturheilkunde zunächst das Notwendigste leisten. Da bleibt dem Verein zum Beispiel für komplexe irisdiagnostische Befunde oder langwierige Behandlungsprozesse mit Entgiftung, Ausleitung, Aufbau etc. – ganz abgesehen von den fehlenden Ressourcen – schlichtweg keine Zeit. Also hat Heike das Behandlungskonzept der Naturheilpraxis ohne Grenzen auf drei Säulen fokussiert: naturheilkundliche innere Medizin, manuelle Verfahren und psychologische Beratung. Hinzu kommt medizinische Fußpflege, die ist bei der körperlich meist vernachlässigten Klientel unerlässlich.


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Aus Aufenthaltsraum wird Praxis

Alle Behandlungen sollen in einem 60 qm großen Gemeinderaum stattfinden. Mittendrin steht eine lange Buchenholz-Tischreihe, an der etwa 24 Personen bequem Platz haben müssten. Die Wände sind von einem gutgemeinten hellen Gelb, das ebenso in die Jahre gekommen ist wie der graumelierte Linoleumboden. Man kann sich gut vorstellen, wie hier soziale Familien-Mittagstische stattfinden oder Bastelnachmittage. Aber keine Ahnung, wie hier ein Behandlungsraum entstehen soll. „Es ist hier natürlich nicht so schön, aber es ist freundlich, und es kostet uns nichts“, kommentiert Heike. Doch das ist nicht der einzige Grund, warum sie ihre Praxis für drei Stunden in der Woche in der Kirche hat. Nach der Gründung des Vereins suchte Heike in Essen Räumlichkeiten, wo sie nahe bei den obdachlosen Menschen sein konnte. „Wenn man Menschen in Armut und Not helfen will, muss man zu ihnen rausgehen“, sagt sie und ihre Stimme wird noch eine Spur fester. „Denn sie werden nicht kommen, wenn man in seiner schicken Praxis auf sie wartet.“ Heike wusste, dass der andere Verein in der St. Gertrud Kirche dreimal die Woche Menschen mit Essen versorgt. Auch Menschen, die auf der Straße leben, halten sich hier regelmäßig auf, wissen, dass ihnen hier Gutes widerfährt. „Also habe ich die Pfarrei gefragt, ob sie für mich einen Raum hätten – kostenlos. Und die Antwort war: ‚Ja, haben wir‘.“ Daraufhin machte Heike Goebel ihren Verein auf Facebook bekannt. Seitdem rufen im Wochentakt Heilpraktiker bei ihr an und wollen mitmachen – wie Heike auch ehrenamtlich. Seitdem empfangen Heike und ihre Kollegen jeden Mittwoch von 18 bis 20 Uhr Patienten im Gemeinderaum.

Heike hat schon mit dem Aufbau der improvisierten Praxis begonnen, als ihre Kollegen kurz nacheinander eintrudeln und gleich mitanpacken. Innerhalb kürzester Zeit werden Plastikbehälter aus den Oberschränken gehievt, Tische auseinander und in anderer Formation wieder zusammengerückt, Stühle getragen, Behandlungsliegen und Paravents für den Sichtschutz aufgestellt. Es dauert keine Viertelstunde und der Gemeinderaum hat sich in eine zweckmäßige Großraumpraxis verwandelt: mit einer Station für die Anamnese und Diagnose, einem Bereich für die psychologische Beratung und zwei Behandlungsplätzen für die manuelle Therapie. Es gibt sogar einen Tisch mit Kaffee, Tee und Wasser für die Patienten. Der Wartebereich – aus fünf Stühlen und einem kleinen Tisch aufgebaut – befindet sich im Flur.

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Was gibt es Neues vom Verein?

Diese Reportage ist entstanden, als der Verein Naturheilpraxis ohne Grenzen e. V. sich noch in seinen Anfängen befand. Mittlerweile hat sich viel getan: Heike Goebel und ihre Kollegen haben mithilfe der Stadt Essen eigene Praxisräume bezogen sowie Praxen in Düsseldorf und Köln eröffnet.

Weitere Infos unter: www.naturheilpraxis-ohne-grenzen.de/

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Abb. 2 Henriette Huth (rechts im Bild) steht häufig bei Patienten und unterhält sich mit ihnen. Das ist für die Patienten genauso wichtig wie die Behandlungen selbst: dass sie gesehen, gehört und gemocht werden. Foto: © Stefan Fercho

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Das Gefühl, willkommen zu sein

Eine wichtige Sache muss noch erledigt werden, bevor die ersten Patienten empfangen werden können: Heike öffnet eine große leere Blechdose und befüllt sie randvoll mit Schoko-Doppelkeksen. Es sind nämlich Kaffee und Kekse, die das ganzheitliche Konzept der Naturheilpraxis ohne Grenzen abrunden – mit Koffein, Zucker und dem wertvollen Gefühl, nicht nur Patient, sondern auch gern gesehener Gast zu sein. „Hauptsache mit viel Schokolade – und bloß kein Bio. Einmal hatte ich gesunde Haferkekse aus dem Bioladen, da gab es hier fast einen Aufstand“, sagt Heike und lacht.


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Sie werden niemanden retten können

Neben Heike und ihren Kollegen – zwei Frauen, ein Mann – sind heute gleich zwei neue Heilpraktikerinnen mit dabei, die zum Probearbeiten gekommen sind. Beide haben noch nie mit obdachlosen Menschen gearbeitet. In einem Erstgespräch haben sie von Heike erfahren, worauf es dabei ankommt. „Zu Anfang stelle ich gleich klar: Wir werden keinen retten. Wir werden keinen von der Straße holen!“, sagt Heike mit Nachdruck und in ihre Stimme mischt sich etwas zwischen Trotz und Hilflosigkeit. Erst letzte Woche hat sie einen Patienten verloren. Er hat unter einer Rampe vor einem Supermarkt gelebt und wurde dort tot aufgefunden. Es ist sehr schwer, das auszuhalten.

Auch müssen Heilpraktiker, die bei Naturheilpraxis ohne Grenzen mitarbeiten wollen, darauf gefasst sein, dass sie nicht so therapieren können, wie sie es von der eigenen Praxis gewohnt sind. Ausführliche Anamnesen zum Beispiel funktionieren bei den Patienten des Vereins nicht. Heike erklärt: „Die Patienten sagen ‚Knie tut weh’ – und dann ist gut. Du kannst sie nicht nach Befindlichkeiten fragen. Damit können sie nichts anfangen und fühlen sich nicht ernst genommen.“ Für Heike ist es wichtig, dass ihre Kollegen die Patienten dort abholen, wo sie stehen – und auch wirklich verstehen, was das bedeutet: dass die Patienten nach einem Behandlungstermin keine Nahrungsergänzungsmittel nehmen oder Übungen machen werden, sondern weiterhin harten Alkohol trinken, rauchen, Drogen nehmen, obwohl sie sehr genau wissen, dass das ihnen schadet. Dass sie sich nicht gesund ernähren und schon gar nicht Biogemüse essen, denn dazu haben sie keinen Zugang. Heike klärt bei jedem Erstgespräch mit interessierten Kollegen auch die eine heikle Frage: „Sind Sie bereit, dass die Menschen, die zu uns kommen, teilweise auch riechen, manchmal auch aggressiv sind?“

Hat ein Heilpraktiker die Hürde des Erstgesprächs genommen, folgt das Probearbeiten. Dabei beobachtet Heike, wie die Behandelnden mit den Patienten umgehen und wie die Patienten die Behandelnden annehmen. Das müssen Letztere können: auf die Patienten zu- und mit ihnen auf Augenhöhe gehen.


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Wenn jeder das einbringt, was er gut kann

Der Chiropraktiker Frank Molnar lehnt an der Behandlungsliege, die Beine überkreuz, und unterhält sich mit seiner Osteopathiekollegin Henriette Huth. Seine Stimme sonor und wie gemacht, um nervöse Patienten zu beruhigen; ihre leicht rau, warm, vertrauenseinflößend – passend zu dem strahlenden Lächeln, dass ihr immer wieder über die Lippen huscht. Helke Wieners, Heilpraktikerin für Psychotherapie, hat sich bereits hinter den Paravent begeben, der den Bereich für die psychologische Beratung abtrennt. Sie sortiert Unterlagen, macht Notizen und wirkt dabei so gewissenhaft und konzentriert, als säße sie nicht hinter einem Paravent, sondern unter einer Glasglocke, die sie vom Rest des Raums und den Gesprächsfetzen um sie herum abschottet.

„Die sind alle viel besser als ich, haben jahrelang Berufserfahrung“, schwärmt Heike über ihre Kollegen und setzt fort: „Ich organisiere und koordiniere alles. Das ist das, was ich hauptsächlich einbringe.“ Sie alle haben wie Heike den Wunsch, Menschen mit den ihnen zu Verfügung stehenden Mitteln zu helfen. Henriette bringt es auf den Punkt: „Ich glaube, dass viel geholfen ist, wenn jeder etwas in die Gesellschaft gibt, was er gut kann.“

15 bis 20 Stunden in der Woche arbeitet Heike für den Verein, die Feierabende gehen drauf, der ganze Samstag und zum Teil auch der Sonntagvormittag. Das liegt auch daran, dass sie momentan noch weitere Standortpraxen eröffnen möchte, zum Beispiel eine in Düsseldorf für Senioren in Armut und eine in Köln für Alleinerziehende und ihre Kinder. „Danach wird es entspannter“, hofft Heike und fügt schmunzelnd hinzu: „Meinem Mann habe ich versprochen: Drei Tage Verein, vier Tage Ehe.“

„Ich glaube, dass viel geholfen ist, wenn jeder etwas in die Gesellschaft gibt, was er gut kann.“


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Der Stress, dranzukommen

Die erste Patientin hört man, noch bevor man sie sieht. Aus dem Treppenhaus hallt ein wiederkehrendes dumpfes Schlagen, begleitet von einem hellen Klackern. Das typische Geräusch eines Rollkoffers, der über eine Treppe gezogen wird. Und tatsächlich: Am Ende des Ganges erscheint eine Frau um die 50 in einem bundeswehrgrünen Parka und zieht einen riesigen schwarzen Koffer hinter sich her. Sie hat eine große Einkaufstasche geschultert und trägt eine zum Bersten vollgestopfte Plastiktüte. Heike hatte sie schon angekündigt: „Katja (Name von der Redaktion geändert) kommt immer mit ihrem gesamten Hausrat. Wenn sie einen nicht kennt, darf man sie erst mal nicht ansprechen und am besten auch nicht anschauen. Sonst kann es sein, dass sie aggressiv wird.“ Heike geht Katja auf halber Strecke im Flur entgegen und begrüßt sie herzlich. Sie hilft der Frau, ihr Hab und Gut im Flur zu verstauen und führt sie dann in den Wartebereich. Sie informiert Katja darüber, dass heute jemand hier ist und bei der Arbeit zuschaut. Katja scheint die Information gut aufzunehmen, außer einem prüfenden Blick zeigt sie keine weitere Reaktion. Ihre stahlgrauen Augen sind auch aus der Distanz bemerkenswert stechend.

Ganz anders Eduards Augen: wasserblau, glasig, freundlich. Der 62-Jährige (Name und Alter von der Redaktion geändert) ist kurz nach Katja eingetroffen und steht bei Frank und Henriette. Mit den Händen in den Jackentaschen und den hochgezogenen Schultern wirkt er irgendwie jungenhaft. Plötzlich steht Katja da. „Ich bin vor ihm dran, ich war vorher da“, ruft sie aufgeregt. Henriette beruhigt die Situation, noch bevor sie eskalieren kann: „Ja, du bist die Erste. Du kannst gleich mit mir kommen“, sagt sie und führt Katja zu dem Behandlungsplatz ganz hinten im Raum. Später wird sie erklären: „Es kann schon mal passieren, dass sich Patienten darüber streiten, wer als nächstes an der Reihe ist. Sie wollen alle nach Möglichkeit vor der Essensausgabe behandelt werden, weil sie sonst Angst haben, nicht mehr dranzukommen.“

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Abb. 3 Frank Molnar (links im Bild) behandelt Patienten chiropraktisch – und ohne Berührungsängste. Für viele Patienten sind das die ersten Berührungen seit langem. Foto: © Stefan Fercho

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Keine Berührungsängste

Eduard sitzt jetzt vor Frank, und seine Schultern beginnen sich unter dessen Händen zu entspannen. Sein Körper kennt Franks Berührungen gut, er ist schon seit Monaten bei ihm in Behandlung. Berührt zu werden ist etwas, woran sich die meisten Patienten hier zunächst gewöhnen müssen. Das hat auch viel mit Scham zu tun, denn viele von ihnen haben tagelang nicht geduscht, riechen oder haben eine Alkoholfahne, und sie wissen darum.

Frank wird nach der Behandlung beschreiben: „Man merkt, wie wenig diese Menschen angefasst werden. Viele zucken im ersten Moment sogar richtig zurück. Man merkt auch, wie hoch die muskuläre Anspannung teilweise ist, wenn man mit den Händen über den Körper geht.“ Bis jetzt erlebte Frank jedoch jedes Mal einen Vorher-nachher-Effekt: Gibt man Patienten genügend Zeit und lässt sie merken, dass man keine Berührungsängste hat, können sie entspannen und nach und nach loslassen. Die meisten kommen dann beim nächsten Mal viel offener in die Behandlung, äußern Wünsche.

Eduard suchte den Verein damals wegen Schmerzen und Bewegungseinschränkungen in Schulter und Nacken auf, die so heftig waren, dass der behandelnde Arzt sogar von Operation sprach. Doch zu seiner Erleichterung sollte Eduard von einer Operation verschont bleiben. Denn nach drei Monaten bei Frank konnte er Schultern und Nacken wieder weitestgehend schmerzfrei bewegen. „Frank hat alles wieder gut gemacht“, sagt Eduard in gebrochenem Deutsch und streckt den Daumen nach oben. Er kommt nur noch zur Behandlung, wenn es in Schulter und Nacken etwas ziept. Wie heute.

Berührt zu werden ist etwas, woran sich die meisten Patienten hier zunächst gewöhnen müssen.

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Abb. 4 Helke Wieners bei der Arbeit: Trotz der Geräuschkulisse schafft sie es, sich ganz auf die Patienten zu konzentrieren – fast so, als ob sie die Patienten mit unter eine Glasglocke nehmen würde. Foto: © Stefan Fercho

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Abb. 5 Ein Patient muss von einem Arzt untersucht werden. Das beschließen Heike und Henriette, nachdem sie sich beraten haben. Foto: © Stefan Fercho

Dass hier Menschen berührt werden, ganz egal ob sie riechen, schmutzig oder alkoholisiert sind, hat sich herumgesprochen. Das ist etwas, was die Patienten des Vereins sonst nirgendwo bekommen. Heike glaubt, dass das einer der Hauptgründe war, weswegen Naturheilpraxis ohne Grenzen innerhalb kürzester Zeit mehr als 100 Patienten gewonnen hat. Das und die psychologische Beratung.


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Ein offenes Ohr für alle

„Ich bin hier für Gespräche und habe ein offenes Ohr“, beschreibt Helke ihre Rolle hier, nachdem ihre erste Patientin gegangen ist. „Das ist auch schon das Wichtigste und etwas, das unsere Patienten lange nicht hatten.“ Den Patienten, die zu ihr kommen, fehlt es an Zuneigung, Wertschätzung, Respekt und an jemandem, der ihnen zuhört. „Ich muss hier nicht viel Methodenwissen auspacken, sondern es geht hier erst mal darum, den Patienten zu nehmen, wie er ist, und eine Beziehung aufzubauen.“ Weil alle Behandlungen in einem Raum stattfinden und ein Paravent keine Wand ersetzen kann, fehlt es oft an der notwendigen Ruhe, um mit den Patienten ins Detail zu gehen. Eine erste Anlaufstelle zu sein und Halt zu bieten, funktioniert jedoch immer. Für die Patientin von eben war Helke seit langer Zeit die erste Person, mit der sie ihre Probleme besprechen konnte.


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Heike ist überall

Die Station für die Anamnese und Diagnose – eine L-förmige, zur Wand abgeschlossene Tischinsel – ist Heikes Revier. Hier befragt und untersucht sie Patienten, verabreicht gegebenenfalls Arznei- und Nahrungsergänzungsmittel und weist ihren Kollegen Patienten zu. Diese kommen in der Regel wegen Krankheiten, die auch in jeder normalen Heilpraktikerpraxis anzutreffen sind: zum Beispiel Erkältungen, Schmerzen des Bewegungsapparats oder psychische Beschwerden.

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Abb. 6 Für viele Patienten ist der Verein ein Ort der emotionalen Zuflucht geworden. Foto: © Stefan Fercho

Auch heute versuchen die meisten Patienten, in der ersten Stunde dranzukommen, um nicht zu spät zur Essensausgabe zu kommen. Für Heike bedeutet das, eng getaktet zu befragen, zu inspizieren, zu palpieren, Blutdruck zu messen, auszukultieren, homöopathische Ohrtropfen, Augentropfen und andere Mittel zu verabreichen etc. Die neuen Kolleginnen springen gleich ins kalte Wasser und übernehmen auch jeweils einen Patienten, während Heike schon den nächsten herzlich begrüßt. Gleichzeitig scheint sie stets im Blick zu haben, welcher Patient bei welchem Kollegen behandelt wird und wer an der Reihe ist. Einige Male flitzt sie im Behandlungsraum umher und koordiniert: „Helke, als nächstes ist Silvia dran … Frank, wie lange brauchst Du noch, kann Holger in fünf Minuten zu Dir (Patientennamen von der Redaktion geändert)?“.

Bei ihrer Anamnese beweist Heike nicht nur Routine, sondern auch, dass sie das Credo, Patienten nicht zu beschämen, in den vielen Jahren der Arbeit mit Obdachlosen verinnerlicht hat. Sie fragt sie nie explizit nach Drogen oder Wohnsituation, denn das sind verständlicherweise die wunden Punkte. Nur einmal, als eine Patientin von sich aus über einen erfolglosen kalten Alkoholentzug berichtet, fragt sie wie beiläufig: „Nimmst Du sonst irgendetwas?“


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Kooperation mit Ärzten und Co.

Ein Patient mit leicht gestauten Zungen- und Halsvenen muss ärztlich untersucht werden, entscheidet Heike, nachdem sie sich mit Henriette beratschlagt hat. Sie verweist ihn zum Arztmobil in Essen in der Hoffnung, dass er hingehen wird. Denn das Problem: Die meisten der Patienten sind seit Jahren aus dem Gesundheitssystem raus. Manche von ihnen haben auch Angst vor Ablehnung und wollen am liebsten keine Ärzte oder Einrichtungen aufzusuchen. Sobald sie zum Beispiel das Wort Krankenhaus hören, ergreifen sie die Flucht. „Sie kommen aber zu uns, haben gegenüber uns weniger Berührungsängste. Und wir müssen es aushalten, dass wir manchmal gar nicht direkt helfen können“, erklärt Heike. Deswegen arbeitet der Verein eng mit verschiedenen Institutionen, Ärzten und Krankenhäusern zusammen, klärt die Patienten über Hilfsangebote auf und versucht, Vorurteile bei den Patienten abzubauen. Ohne diese Kooperation würde auch die Naturheilpraxis ohne Grenzen schnell an ihren Grenzen stoßen.


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Weg von der Straße

Ab 19 Uhr fällt der Stresspegel ab, denn unten ist Essensausgabe, und nur noch vereinzelt tröpfeln Patienten herein, gegen Ende der Essensausgabe werden es wieder mehr werden. Dafür kommen nun wie üblich Freunde des Vereins zu Besuch. Das sind Mitarbeiter der Kirche, Ehrenamtliche von der Essensausgabe und auch ehemalige Patienten, zum Beispiel ein muskelbepackter Koloss von Mann. Stolz zeigt er seinen Trainerschein, den er erst vor kurzem gemacht hat, erzählt vom Bodybuilding und seiner neuen Wohnung, die er mithilfe einer Sozialarbeiterin gefunden hat, alle gratulieren ihm. Naturheilpraxis ohne Grenzen mag niemanden direkt von der Straße retten, aber ganz unbeteiligt waren Heike und ihre Kollegen an der Heilungsgeschichte dieses Mannes sicher nicht.

Möchten Sie Naturheilpraxis ohne Grenzen e. V. unterstützen?

Heike Goebel und ihre Kollegen haben noch viel vor, möchten unter anderem weitere Praxen in ganz Deutschland gründen für Menschen in Armut und Not. Sie möchten sich gerne sozial engagieren und im Verein als Heilpraktiker mitarbeiten?

Weitere Infos unter: www.naturheilpraxis-ohnegrenzen.de/mitmachen

Alle Behandelnden des Vereins stellen ihre Dienste ehrenamtlich zur Verfügung. Der Betrieb der Praxen muss jedoch finanziert werden. Sie möchten gerne mit einer Spende helfen?

Weitere Infos unter: www.naturheilpraxis-ohnegrenzen.de/spenden

Dieser Artikel ist online zu finden: http://dx.doi.org/10.1055/a-1007-1193


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Abb. 1 Heike Goebel (vorne im Bild) in den Gemeinderäumen der St. Gertrud Kirche in Essen. Unermüdlich flitzt sie hin und her, koordiniert die Sprechstunden – angefangen vom Aufbau bis zur Zuteilung der Patienten an die Behandelnden. Foto: Stefan Fercho
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Abb. 2 Henriette Huth (rechts im Bild) steht häufig bei Patienten und unterhält sich mit ihnen. Das ist für die Patienten genauso wichtig wie die Behandlungen selbst: dass sie gesehen, gehört und gemocht werden. Foto: © Stefan Fercho
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Abb. 3 Frank Molnar (links im Bild) behandelt Patienten chiropraktisch – und ohne Berührungsängste. Für viele Patienten sind das die ersten Berührungen seit langem. Foto: © Stefan Fercho
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Abb. 4 Helke Wieners bei der Arbeit: Trotz der Geräuschkulisse schafft sie es, sich ganz auf die Patienten zu konzentrieren – fast so, als ob sie die Patienten mit unter eine Glasglocke nehmen würde. Foto: © Stefan Fercho
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Abb. 5 Ein Patient muss von einem Arzt untersucht werden. Das beschließen Heike und Henriette, nachdem sie sich beraten haben. Foto: © Stefan Fercho
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Abb. 6 Für viele Patienten ist der Verein ein Ort der emotionalen Zuflucht geworden. Foto: © Stefan Fercho