physiopraxis 2019; 17(10): 46-47
DOI: 10.1055/a-0991-9992
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Kieferschmerzen beurteilen – Strukturierte Untersuchung bei CMD

Kay Bartrow

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Publication Date:
21 October 2019 (online)

 

Eine kraniomandibuläre Dysfunktion äußert sich oftmals nicht nur durch Kieferschmerzen, sondern auch in Symptomen im Augen-, Ohren- oder Mundbereich. Umso wichtiger ist daher eine strukturierte Diagnostik. Im Artikel und in einem Webinar erklärt Kieferexperte Kay Bartrow, wie Therapeuten im Befund vorgehen.


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Eine strukturierte physiotherapeutische Diagnostik ist wegweisend für eine multimodale Therapie, und man sollte sich an den dafür geltenden Gütekriterien orientieren. Diese stehen für eine qualitative Auswahl der bestmöglichen Untersuchungstools und erleichtern es, die Symptomatik im Kontext zu klinischem und theoretischem Hintergrundwissen individuell zu beurteilen.

Beginnend mit der Anamnese, in der auch eine Abklärung von Kontraindikationen, einzuhaltender Vorsichtsmaßnahmen und einer bestehenden Flaggenproblematik (z. B. psychosoziale Beurteilung) erfolgen muss, ist eine körperliche Untersuchung bei Patienten mit kraniomandibulärer Dysfunktion (CMD) standardisiert aufgebaut. Hierin erhebt man alle therapierelevanten Daten, die nötig sind, um die Interventionen planen und durchführen zu können. Nur so kann die multimodale Physiotherapie mit effektiven Maßnahmen, Eigenaktivität und Training des Patienten und einer eventuell erforderlichen Patientenedukation diesem gerecht werden.

Bei einer CMD ist im klinischen Alltag mit vielfältigen Symptomen zu rechnen, die sich nicht alle auf nur eine Körperregion beziehen müssen. Es kommen Symptome im Gesichts- oder Hirnschädel, den Zähnen, des kranialen Nervensystems, der Augen oder Ohren sowie im Mund-, Rachen- und Halsbereich vor. Umso wichtiger erscheint eine strukturierte Diagnostik. Je einheitlicher diese geplant und durchgeführt wird, desto durchgängiger, zielgerichteter und individueller lässt sich die Behandlung und das erforderliche Gesamtmanagement des Patienten gestalten.

Subjektive und objektive Untersuchung

Die physiotherapeutische Diagnostik bei CMD kann in eine subjektive und eine objektive Untersuchung unterteilt werden ([ABB].). Beide Bestandteile liefern wichtige Daten, um den Therapieplan zu gestalten.

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ABB. Physiotherapeutische DiagnostikkaskadeAbb.: Thieme Gruppe

Eine nach der Anamnese evaluierte Hypothese bezüglich der Problematik des Patienten, inklusive möglicher Ursachen und beitragender Faktoren, ist die Grundlage der Therapie. In der körperlichen Untersuchung werden Belege für die Hypothesen gesucht. Findet man diese, erfolgt die Behandlung. Muss die Hypothese aus Mangel an Beweisen verworfen werden, geht es zurück zur Diagnostik.

Inspektion

Bei Patienten mit CMD ist es wichtig, Symmetrie und Proportionen zu beurteilen. Die Inspektion beinhaltet die intraoralen Befunde (z. B. Abrasionen, Rezessionen oder Impressionen an Zunge oder Wange, Zahnstellungen, Aufbisssituation) und den extraoralen Sichtbefund. Mit ihm checkt man die Symmetrie der Schädelknochen (z. B. Konvergenz- oder Divergenzstellung) und die Gesichtsproportionen über die Drittel-Einteilung (horizontal und vertikal) der Gesichtsfelder.


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Aktive Bewegungsprüfung

In der aktiven Bewegungsprüfung zeigt der Patient, wie weit er bereit ist, die betroffene Körperregion zu bewegen und zu belasten. Dies misst der Therapeut und vergleicht es mit Normwerten.


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Neurologische Untersuchung

Eine neurologische Untersuchung ist stets eine „Wenn-nötig-Untersuchung“. Sie wird dann gebraucht, wenn Patienten neurologische Symptome aufweisen. Dann unterscheidet man die Konduktionstests (Mandibularreflex, Lidschlussreflex, Sensibilität des N. trigeminus und die Kraftentwicklung der Kaumuskulatur) von einer Untersuchung der neurodynamischen Mobilitätsanpassung des N. trigeminus und der Mechanosensitivität der mechanischen Kontaktstellen (mechanical interfaces) der Nerven mit dem umliegenden Gewebe.


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Passive Bewegungsprüfung

Die passive Bewegungsprüfung beurteilt vor allem die elastische Reserve im endgradigen Bewegungsbereich und die Bewegungsanpassung der elastischen Strukturen (Führungsbänder, Faszien, Gelenkkapsel) im Kontext zu den Symptomen. Sie kann auf neurofasziale und muskuläre Strukturen ausgeweitet werden.


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Palpation

Der Tastbefund sollte intra- und extraorale Strukturen ([TAB].) umfassen. Dabei lassen sich lokale Veränderungen an der Muskulatur, den kranialen neuralen Strukturen, den kranialen Nervenaustrittstellen und den bindegewebigen/ligamentären Strukturen lokalisieren und beurteilen. Häufig sind lokale Druckdolenzen, Schwellungsneigungen oder Restriktionen/Limitationen in der Verschieblichkeit von bindegewebigen Hüllstrukturen (faszial und neural) zu finden.

TAB. Zu palpierende Strukturen bei Patienten mit CM

intraorale Strukturen

extraorale Strukturen

  • Kiefergelenk

  • Gelenkkapsel

  • Mundschleimhaut

  • Kaumuskulatur

  • suprahyoidale Muskulatur

  • Mandibula

  • Maxilla

  • Gaumen

  • Zähne

  • Kiefergelenk (inkl. Kapselanteile)

  • Kau-, mimische Muskulatur

  • Mundboden

  • kraniale Nerven

  • neurale Austrittspunkte am Gesichtsschädel

  • Schädelknochen

  • infrahyoidale-, Subokzipitalmuskulatur

  • neurale Austrittspunkte der okzipitalen Region

  • HWS, BWS, Schultergürtel


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Muskelfunktionstest

Der Muskelfunktionstest beurteilt die Funktionsbereiche der Muskulatur, den bestehenden Synergismus der einzelnen Muskeln und hilft dabei, funktionsmotorische Defizite zu lokalisieren. Man testet die Kommunikation zwischen Nerv und Muskel, Kontraktion, Ermüdungswiderstandsfähigkeit und kontrollierte Relaxation.


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Diagnostikkaskade im Auge behalten

Solange Patienten mit derselben Diagnose unterschiedliche Symptome zeigen, sind differenzierte Untersuchungstechniken unerlässlich, um den individuellen Beschwerden gerecht zu werden. Auch in der Behandlung sind folglich differenzierte Maßnahmen erforderlich. Mit dem im Webinar (OPTICA-WEBINAR) vorgestellten Grundschema einer physiotherapeutischen Diagnostik können CMD-assoziierte Beschwerden einfach analysiert, bewertet und beurteilt werden. Halten Therapeuten die Untersuchungskaskade in Bezug auf Befund und Wiederbefund konsequent ein, können sie im gesamten Verlauf der Therapie stets klinisch fundierte Aussagen über die Effektivität der jeweiligen Behandlungstechnik und der Eigenübungen machen.

Kay Bartrow


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Optica-Webinar – Kieferpatienten standardisiert untersuchen

Webinar mit Direktkontakt zu Kay Bartrow für Ihre Fragen,

Experten-Chat am 13.11.2019 um 17 Uhr Referenten: Kay Bartrow (Physiotherapeut), Angelika Mettlach (Optica-Schulungsreferentin) Dauer: ca. 60 Minuten Preis: 49,– € zzgl. MwSt. (39,– € für Optica-Kunden)

Inhalte:

  • Inspektionskriterien, aktive und passive Bewegungsprüfung

  • Messung der Unterkiefermobilität, Muskelfunktionstest

  • Palpation der klinisch wichtigen Strukturen (extra- und intraoral)

www.optica.de/kiefer-untersuchen


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Checkliste – Zahnarztverordnungen richtig abrechnen

Seit 2017 gilt für Vertragszahnärzte eine neue Heilmittelrichtlinie. Was Sie als Therapeut beachten sollten, hat Optica in einer kostenlosen Checkliste zusammengefasst. Download unter: www.thieme-connect.de/products/physiopraxis > „Ausgabe 10/19“.

Impressum

Der Artikel erscheint außerhalb des Verantwortungsbereichs der Redaktion der Zeitschrift physiopraxis.

Eine Sonderpublikation von Optica Abrechnungszentrum Dr. Güldener GmbH, Marienstr. 10, 70178 Stuttgart

Für Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Jeder Benutzer ist angehalten, durch sorgfältige Prüfung der Beipackzettel der verwendeten Präparate und ggf. nach Konsultation eines Spezialisten festzustellen, ob die dort angegebenen Empfehlungen für Dosierung und die Beachtung von Kontraindikationen gegenüber der Angabe in diesem Artikel abweichen. Eine solche Prüfung ist besonders wichtig bei selten verwendeten Präparaten oder solchen, die neu auf dem Markt sind. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzers.

© 2019 Georg Thieme Verlag KG, 70469 Stuttgart


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ABB. Physiotherapeutische DiagnostikkaskadeAbb.: Thieme Gruppe