PiD - Psychotherapie im Dialog 2020; 21(04): 103
DOI: 10.1055/a-0987-6159
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Dress code

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(Quelle: Anna-Luise Vogel/Thieme Gruppe)

Vor vielen Jahren erlebte ich mein erstes Weihnachten im Krankenhaus. Eine elegante ältere Dame, Privatpatientin des Chefarztes, verbrachte, wie ich, die Feiertage auf Station – nur eben nicht arbeitend. Sie hatte wohl triftige Gründe, dies zu tun. Ebenso, wie sie auch triftige Gründe angab, als sie auf ihre festliche Kleidung am Heiligabend angesprochen wurde: „Seit ich denken kann, war das in unserer Familie so, und ich gedenke nicht, mich durch irgendetwas davon abhalten zu lassen“ war ihre bestimmte Antwort.

Nun soll es ja Menschen geben, denen Kleidung nicht wichtig ist. Ich gebe zu, ich gehöre nicht dazu. Sowohl bei mir selbst als auch bei anderen registriere ich Wunderschönes, farblich Besonders, aber auch Missgriffe in den Kleiderschrank, ohne mich dafür besonders anstrengen zu müssen. Für mich selbst schreibe ich dies gern dem Umstand zu, dass ich als Kind nichts mehr liebte, als auf dem Schneidertisch meines Großvaters zu sitzen. Das Erlebnis mit der Patientin beschäftigt mich darum immer wieder: Eigentlich war sie völlig unangemessen „overdressed“ – und doch beeindruckt mich bis heute ihre Einstellung, dass „Nachthemd“ selbst im Krankenhaus offenbar für sie an diesem Feiertag kategorisch nicht infrage kam.

Mit einer Mischung aus Neugier und Ambivalenz nehme ich Bemühungen wahr, dem zunehmend entstandenen „Anything goes“ in Sachen Klamotten mithilfe von Regeln Einhalt zu gebieten. Selbst das Internet wartet mit Do’s und Dont’s auf: Für Männer, die sich „smart casual“ kleiden wollen, sind Jackett, Blazer oder auch Cardigan und dunkle Schuhe zu wählen, als Dont’s werden Jeans, Shorts, T-Shirts und Flip Flops oder Sandalen benannt (die Liste ist selbstverständlich erheblich länger und natürlich auch für die Damenwelt verfügbar). Auf Reisen bin ich zudem immer wieder erleichtert, wenn sich das Ausmaß des „Fremdschämens“ in Grenzen hält, manchmal auch als Folge von klaren, auf Piktogrammen dargestellten Kleidungsvorschriften in Restaurants bekannter Ferienregionen.

So manches Mal habe ich diese tantenhafte Seite in mir schon mit einigem Erschrecken zur Kenntnis genommen und stelle mir dann regelmäßig die Frage, ob ich alt werde (was zweifellos der Fall ist) und mich in Richtung meiner Altvorderen entwickle (was nun nicht primär mein erklärtes Ziel wäre). Dennoch bin ich in diesen Momenten auch dankbar dafür, dass mein Auge vor Feinripp-Gewebe einer bekannten Unterwäschemarke mit ausgebeulten Jogginghosen oder schlabberigen, viel zu kurzen Sportshorts, kombiniert mit weißen Tennissocken in Badelatschen bewahrt wird …

Dr. Bettina Wilms, Querfurt



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Article published online:
20 November 2020

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