Unser psychologisches Verständnis – in der Alltagspsychologie wie in den Verhaltenswissenschaften
– ist ein „dispositionales“: Denn das zu verstehende Verhalten erscheint uns als Manifestation
von Dispositionen – von Verhaltensbereitschaften, die im Organismus angelegt sind.
Um die damit einhergehende Zuschreibung von psychologischen Eigenschaften wie Charakter,
Trieben, Gewohnheiten, Strategien und mentalen Zuständen nicht ins Kraut der Beliebigkeit
sprießen zu lassen, müssten wir diese in konstitutiven physiologischen Mechanismen
verankern, so die Argumentation des I. Teils. Da sich dies als schwierig, wenn nicht
gar als undurchführbar erweist [1], werde ich im Folgenden einen alternativen Weg beschreiten und die psychosoziale
bzw. pragmatische Dimension unseres „Verhaltensdispositionalismus“ unter die Lupe
nehmen.
Operationalismus
“I feel that I have created a Frankenstein, which has certainly gotten away from me.
I abhor the word operationalism or operationism, which seems to imply a dogma or at
least a thesis of some kind.”
Percy W. Bridgman [2]
Verhaltensdispositionen sind hypothetischer Natur. Wir erkennen und bestimmen sie
anhand ihrer Manifestationen, die allerdings nicht ständig, sondern nur unter bestimmten
Umständen auftreten. Verhaltensdispositionen lassen sich somit nur anhand ihrer situativen
Manifestationen erkennen und definieren. Das Lieblingsbeispiel der philosophischen
Dispositionsdiskussion – das Prädikat „löslich“ – zeigt auf, wie sich Dispositionsbegriffe
anhand von Manifestationsbedingungen definieren lassen: X ist „löslich“ bedeutet,
dass X sich auflöst, wenn X (unter normalen Bedingungen) in Wasser gelegt – also einer
bestimmten Prozedur unterzogen – wird. Um Verhaltensdispositionen genauer zu definieren,
müssen wir deren Definitionen also an eindeutige Mess- bzw. Test-Operationen binden,
so die Idee. Mit „Verhaltensdisposition A“ ist demnach gemeint, was ein valides A-Mess-Verfahren
misst. Intelligenz etwa ist, was anerkannte Intelligenztests messen. Persönlichkeit
ist, was bewährte Persönlichkeitsinventare messen und so weiter.
Die ursprünglich auf den Physiker und Nobelpreisträger Percy W. Bridgman zurückgehende
Idee des „Operationalismus“ hat ihren Siegeszug in der Psychiatrie vergleichsweise
spät angetreten. Dies geschah in einer Phase, in der unübersehbar geworden war, dass
die, den phänomenologischen und psychodynamischen Traditionen entlehnten Terminologien
relativ willkürlich und damit wenig reliabel verwendet wurden. Seit der 3. Auflage
des „Diagnostical and Statistical Manual of Mental Disorders“ von 1980 gelten deshalb
operationale Definitionen psychischer Störungen als Maßstab: Wir verwenden Listen
operational definierter Kriterien, um psychische Störungen zu definieren und entsprechend
zu diagnostizieren. Eine „Major Depression“ etwa ist demnach eine Verhaltensepisode
von mindestens 2 Wochen, die eine Mindestanzahl an operational definierten Merkmalen
aufweist – darunter „depressive Verstimmung“ oder „Verlust an Interesse oder Freude“
zuzüglich mindestens 4 weiterer Symptome [3].
Aus einer philosophisch informierten Perspektive erscheint dieser „Goldstandard“ der
nosologiebasierten Forschung merkwürdig. Denn der logische Empirismus, die Wissenschaftsphilosophie,
die sich für operationale Definitionen stark gemacht hatte, hat das Projekt bereits
vor Jahrzehnten aus Gründen offensichtlicher Erfolglosigkeit aufgegeben[
1
]. Der entscheidende Einwand besagte: Es ist abwegig, die operationale Definition
eines Begriffs mit dem Referenten des Begriffs – „der Sache selbst“ – gleichzusetzen.
Die erfüllten Kriterien der „Major Depression“ oder der Score, den wir mit dem Beck-Depressions-Inventar
erheben, ist offenkundig nicht „die Depression“ des Patienten Müller. Vielmehr sind
die Daten, die wir mittels operationaler Verfahren gewinnen allenfalls theorie- bzw.
verfahrensvermittelte Indikatoren für einen (!) punktuellen Zustand der Sache. Da
es den logischen Empiristen um die „empirisch objektive“, allein durch neutrale Beobachtung
oder Messung festgelegte Bedeutung deskriptiver Begriffe ging, ist ein zweiter Einwand
von Belang: Es gilt heute als ausgemacht, dass sich die Bedeutung deskriptiver Begriffe
nicht kontextfrei operational definieren lässt. Denn diese Begriffe beziehen sich
nicht auf einzelne „theoriefreie Ereignis- oder Merkmalsatome“, sondern erhalten bzw.
entfalten ihre Bedeutung stets in einem Kontext – im Kontext von Sätzen, im Kontext
von Modellvorstellungen und Paradigmen und vor allem im Kontext etablierter wissenschaftlicher
Praktiken. Die Operationalisierung abstrakter Begriffe wie „löslich“, „Neurotizismus“
oder „Depression“ kann die tatsächlichen Eigenschaften der endlos vielen, konkreten
Exemplare, für die die genannten Konzepte stehen sollen, nicht erschöpfen – weder
hinsichtlich der Vielgestaltigkeit der Eigenschaften noch hinsichtlich ihrer zeitlichen
und kontextabhängigen Wandelbarkeit. Der ganze Ansatz krankt an der abwegigen Vorstellung,
dass ein „semantischer Atomismus“ strikter Beobachtungs- und Messprozeduren in der
Lage sei, den „Atomen des physikalischen Verhaltens“ zu entsprechen.
Die Entschlossenheit, mit der die Psychiatrie im Gefolge der Verhaltenswissenschaften
gleichwohl an diesem „neo-positivistischen“ Programm festhält, bildet nach meinem
Dafürhalten eine maßgebliche Wurzel ihrer Sterilität und Stagnation. Unsere Forscher
produzieren einen endlosen, ständig anschwellenden Strom „statistisch signifikanter
Korrelationen“, die zwischen operational definierten Verhaltensparametern gefunden
wurden, ohne dass dies unser Verständnis der Zusammenhänge vertieft. Die Verhaltenswissenschaften
weisen, wissenschaftstheoretisch gesagt, keine „kummulative Theorieentwicklung“ auf.
Der Berg an Befunden lässt die infrage stehenden Zusammenhänge nicht kognitiv transparenter
werden: Wir finden weder die „Gesetze des Verhaltens“ noch die „physiologischen Mechanismen“,
die eine kohärente Theorie des Verhaltens ergeben könnten. Angesichts ständig neuer
wissenschaftlicher Erfolgsmeldungen wird leicht übersehen, dass es sich um korrelative
Befunde handelt, die früher oder später als scheinbare, als irreführende oder als
nicht replizierbare Korrelationen erkannt bzw. die – weit überwiegend – einfach vergessen
werden. Besonders beunruhigend ist dabei, dass sich selbst die „absolut robusten“
Befunde als „deduktiv unfruchtbar“ erweisen: Die „Verhaltenssysteme“ etwa, die sich
in den Lehrbüchern der Psychobiologie dargestellt finden, ermöglichen keine quantitativen
Vorhersagen – weder was ihre Wechselwirkungen untereinander, noch was das Verhalten
des Individuums betrifft. Die bislang gehegte Hoffnung, dass aus einem immer dichter
geknüpften Netz „belastbarer“ Korrelationen ein „nomologisches Netzwerk“ erwächst,
das den Weg zur schrittweisen Elaborierung der konstituierenden kausalen Zusammenhänge
weist, erfüllt sich nicht. Was heute als „gesicherte Erkenntnis“ gilt, gleicht vielmehr
isolierten „Puzzleteilen“, die zu einem Puzzle gehören, dessen „eigentliche Gestalt“
sich nicht abzeichnet [4].
Verhaltensmessung
Der große und vielgestaltige Bereich des Messens, Detektierens und Beobachtens gehört
zu den wesentlichen Aktivitäten wissenschaftlichen Erkenntnisbemühens. Dabei wird
eine „empirische Domäne“ – eine Klasse von Phänomenen oder ein bestimmter Phänomen-Bereich
– mit bestimmten Methoden bzw. Instrumentarien untersucht, um exakte „Daten“ zu gewinnen.
Diese Daten werden unter Beachtung methodologischer Standards modelliert, um Annahmen
und Hypothesen über die „verborgenen Bedingungen“ der Domäne zu prüfen. – Betrachten
wir an einem Beispiel, in welchem Verhältnis Phänomene, Messung, Daten, Hypothesen
und Interpretationen zu einander stehen.
Hans ist ein kluger Mann, dessen „Intelligenz“ wir bestimmen wollen: Hans gilt als
klug, weil er sich in vielen „kognitiv fordernden“ Situationen als kompetent erwiesen
hat (phänomenale Domäne). Wir erklären diese Kompetenzen mit seiner „Intelligenz“
(Dispositionshypothese). Um seine Intelligenz zu messen, lassen wir ihn 2 verschiedene
Intelligenztests (Messverfahren) bearbeiten – A und B. Hans erreicht im Test A einen
IQ von 120, im Test B einen IQ von 105 (Daten). Was sagen diese Befunde über Hans’
Fähigkeit aus, sich in kognitiv fordernden Situationen zu bewähren? – Die folgenden
Fragen sollen einschlägige Probleme des verhaltenswissenschaftlichen Operationalismus
verdeutlichen.
Wenn Verhaltensdispositionen das sind, was die dispositionsdefinierenden Verfahren
messen, dann hätte Hans 2 unterschiedliche Formen der Intelligenz. Dies ist jedoch
unplausibel, weil es die realistische Intuition des dispositionsanalytischen Ansatzes
verletzt: Hans Intelligenz verdankt sich einer Disposition, die sich in unterschiedlichen
Situationen auf unterschiedliche Weisen manifestieren kann.
Selbst alle verfügbaren Intelligenztests zusammen sind nicht in der Lage, Hans’ Intelligenz
erschöpfend abzubilden. Denn Hans kann sich in sehr viel mehr Situationen als es Intelligenztest
sind, auf intelligente Weise bewähren. Dabei ist zu beachten, dass Hans’ Intelligenz
in einem verkörperten Können, einem „knowing how“ im Sinne einer vieldimensionalen
praktischen Kompetenz besteht. Dieses stillschweigende, sich im Handeln manifestierende
Können lässt sich bekanntlich nicht annähernd in der Form eines expliziten, in Sätze
gefassten propositionalen Wissens, einem „knowing that“, artikulieren. Intelligentes,
situativ angemessenes Handeln ist wie Fahrradfahren. Die Instruktion, „Setz Dich drauf!
Tritt in die Pedale. Und versuch, das Gleichgewicht zu halten!“, reicht nicht aus,
um dem Novizen das Fahrradfahren beizubringen. Dieser muss vielmehr so lange üben,
bis die erforderlichen sensomotorischen Kompetenzen in Fleisch und Blut übergegangen
sind. Dem entsprechend dürften die in der Psychiatrie beliebten Selbstadministrationsinstrumente,
die psychisches Befinden in der Form von „knowing that“ abfragen, wenig zur Erfassung
von handlungsleitenden Prozessen taugen.
Hans’ „intelligentes“ Verhalten wird durch sehr viel mehr als durch seine „Trait“-Intelligenz
bestimmt. Situative „State“-Variablen – etwa Verunsicherung oder Alkoholisierung –
können eine erhebliche „intelligenzmindernde“ Rolle spielen. Hinzu kommen Wechselwirkungen
zwischen den vielen verschiedenen Verhaltensdispositionen und der sich wandelnden
Umwelt, in der sich Hans zu bewähren versucht.
Die Schwierigkeiten, die diese Frage aufwirft, sind bereits im ersten Teil behandelt
worden [1]. Der entscheidende Punkt meiner Argumentation ist: Das operationalistische Vorgehen
versucht die offensichtlichen Unterschiede zwischen Phänomenen (Hans’ intelligentem
Handeln), theoriegeleiteter Methodenentwicklung (Operationalisierung), gemessenen
Daten (IQ-Messwerte), deren Modellierung und Interpretation zu einem „idiotensicheren
induktiven Verfahren“ zu verkürzen. Doch es gibt, wie gesagt, keine direkte, von wissenschaftlichem
Handeln unabhängige Entsprechung von „Verhaltensatomen“ und „Bedeutungsatomen“, aus
der sich über modellbegründete „latente Variablen“ auf das reale Geschehen schließen
lässt.
Operationale Beziehungen im Kontext DSM-basierter Forschung
Operationale Beziehungen im Kontext DSM-basierter Forschung
Überträgt man die letztgenannten Beobachtungen auf die operationalen Definitionen
psychischer Störungen, so stellen sich u. a. folgende 2 Fragen:
Die Idee, dass es sich beim Abfragen operationaler Kriterien um eine neutrale und
zuverlässige Messoperation handelt, ist abwegig. Betrachten wir dazu das Beispiel
„Denkstörungen“: Denkstörungen, so die DSM-5, werden anhand der Rede des Patienten
erschlossen [3]. Das bedeutet, dass der Diagnostiker über umfassendes normatives Wissen verfügen
muss, um das Kriterium abzuprüfen – über ein grammatisches, semantisches und pragmatisches
Wissen, dass die DSM nicht ausweist. Dies deutet an, dass wir konkrete Psychopathologien
nicht Symptom für Symptom anhand eindeutig unterscheidbarer Verhaltensmerkmale analysieren.
Vielmehr erfassen wir hervorstechende Anomalien im Zusammenhang eines umfassenderen
Verständnisses des situierten Handelns einer Person. Dabei sind praktische Relevanzeinschätzungen
von entscheidender Bedeutung.
Um den stillschweigenden „Holismus“ der Beurteilung von Denkstörungen zu verdeutlichen,
mögen folgende Beobachtungen hilfreich sein: Denkstörungen finden sich, wohin man
schaut – etwa bei so genannten „Persönlichkeitsstörungen“, „Angststörungen“ oder „Essstörungen“.
Laut DSM-5 ist „Wahn“ – eine prominente Form der Denkstörungen – eine „feste Überzeugung,
die trotz gegenteiliger Evidenz nicht verändert werden kann“ [3]. Doch nicht nur bei psychisch kranken Personen, sondern weit darüber hinaus finden
sich häufig abwegige Denkinhalte und willkürliche Inferenzen, die „gegenteiliger Evidenz“
trotzen. Warum werden diese Überzeugungen nicht als „Wahnsymptome“ bzw. als Merkmale
einer „psychotischen Störung“ gewertet? Der Grund liegt auf der Hand: Wir verstehen
und verwenden psychopathologische Konzepte nicht „atomistisch“, indem wir etwa die
notwendigen und hinreichenden Bedingungen des Konzepts abprüfen; wir verwenden sie
„prototypisch“ und „ganzheitlich“. Der klinische Novize lernt, Konzepte wie „Schizophrenie“
anhand von klaren Fällen zu gebrauchen. So werden prototypische Wissensstrukturen
erworben, die es ermöglichen „holistische“ Zusammenhänge unter Salienz- und Relevanzaspekten
zu erkennen und zu bewerten: Im Falle der „Schizophrenie“ greifen auffälliges Sozialverhalten,
verschiedene Formen kognitiver Störungen, der Grad der Funktionsbeeinträchtigung und
die Konsequenzen für das Leben des Betroffenen und seiner Umwelt ineinander. Dank
dieser prototypischen Wissensstrukturen lassen sich kontextrelative „Gestalten“ erkennen
und auf den Begriff bringen [5].
-
Was sind die Symptome, Syndrome oder Störungen, die à la DSM-5 operationalisiert werden,
ontologisch gesehen? Handelt es sich um wahrnehmbare Phänomene, gemessene Daten, statistische
Modellierungen oder reale Dispositionen?
In der aktuellen Forschung geht der „semantische Atomismus“ des operationalistischen
Vorgehens mit ontologischen Annahmen einher, die ich pauschalierend „Isomorphie-Annahmen“
nennen möchte: Die Symptome, die sich bei Patienten finden, entsprechen den operational
definierten Merkmalen, die wir abprüfen, weil die operationale Beziehung ihre „Gleichgestaltigkeit“
garantiert: Das detektierte Phänomen bzw. „Verhaltensatom“ ist so, wie die Sache selbst
ist. Die Annahme einer grundsätzlichen „Gleichgestaltigkeit“ setzt sich fort, wenn
wir Syndrome – typische Gruppen gemeinsam auftretende Symptome – in den Blick nehmen:
Denn die regelhafte Kovariation von Symptomen in der Form von wiedererkennbaren Syndromen
spricht für eine gemeinsame kausale Ursache. Somit lautet die nächste Isomorphieannahme:
Es besteht eine grundsätzliche, allerdings bislang undurchsichtige „Gleichgestaltigkeit“
zwischen Syndrom und Ätiopathogenese. Da das Nervensystem wie alle anderen Organsysteme
auch nicht etwa erratisch, sondern vielmehr regelhaft arbeitet, müssen spezifische
Funktions- bzw. Strukturanomalien für das Auftreten der einschlägigen Syndrome verantwortlich
sein. Wenn bestimmte Verhaltensdispositionen gestört oder pathologische Verhaltensdispositionen
aktiviert werden, dann kommt es zu prinzipiell vorhersagbaren klinischen Störungsbildern.
Doch wie „isomorph“ sind die unbestreitbaren Gehirn-Geist-Korrespondenzen? Was, wenn
verschiedene Gehirne „schizophrene“ Syndrome auf variable bzw. äquifinale Weise „generieren“?
Angesichts der „explanatorischen Lücke“, die zwischen Geist und Gehirn klafft, sollten
wir mit unseren ontologischen Annahmen vorsichtig sein. Für eine solche Vorsicht spricht
die Beobachtung, dass sich die Anthropomorphismen, die wir auf das Nervensystem projizieren,
ebenso wie viele psychologischen Universalien, die sich lange als lehrbuchwürdige
Gewissheiten behauptet haben, mit der Zeit in Luft auflösen.
Reliabilismus
Ist dies nicht alles etwas spitzfindig, mag sich der erfahrene Kliniker fragen. Die
Zuschreibung von Verhaltensdispositionen ist doch offensichtlich nützlich: Wir können
uns innerhalb akzeptabler Fehlergrenzen auf ihre instrumentelle Rolle verlassen. Die
Feststellung eines „ausgeprägten Neurotizismus“ oder einer „Minderbegabung“, wie gut
oder schlecht diese auch operationalisiert sein mögen, erlaubt es doch, eine Person
einzuschätzen und hinreichend verlässliche Vorhersagen über ihr Verhalten zu machen
– und dass, obwohl wir die kausalen Rollen dieser Dispositionen kaum etwas wissen.
Diese pragmatische, die Reliabilität von Dispositionen betonende Sicht der Dinge ist
Common Sense. Wir verlassen uns im Alltag wie in der Klinik auf die „Stabilität“ und
die „berechenbare Nützlichkeit“ vieler mutmaßlicher Dispositionen – und dies durchaus
erfolgreich. Allerdings wird leicht übersehen, was diesen praktischen Erfolg begründet.
Die Kunst, Verhaltensdispositionen zu erkennen und instrumentell zuverlässig zu nutzen,
ist weniger eine Frage der Bestimmung autochthoner „kausalen Potenzen“, die das Verhalten
der anderen Person „von innen“ her bestimmen mögen. Sie ist vielmehr eine Sache der
sozialen Interaktion bzw. des effektiven Nutzens „relationaler“ sozio-kognitiver Fähigkeiten.
Unsere praktische Fähigkeit, das Erleben und Verhalten anderer Personen mental „nachzubilden“,
übersteigt die Möglichkeiten streng wissenschaftlicher Erklärungsansätze bei Weitem.
Wie ist diese interaktionsgestützte Fähigkeit, das verborgene Fremdpsychische zu erfassen,
zu erklären? M. E. sind 2 Dimensionen unserer interpersonellen Fähigkeit, Verhaltensdispositionen
zu erkennen und instrumentell zu nutzen, maßgeblich. Zudem eröffnet die interaktionistische
Perspektive Möglichkeiten („Tricks“), die der methodisch kontrollierten Forschung
nicht zur Verfügung stehen [6]:
Grundlage der Fähigkeit, das Seelenleben anderer zu verstehen, ist zunächst das „mimetische
Mentalisieren“. Menschen sind in starkem Maße zur „interpersonellen Resonanz“ befähigt:
Sie „schwingen“ gewissermaßen mit, wenn andere in „Schwingung“ geraten. Gefühle sind
nicht nur ansteckend, wie das Sprichwort behauptet. Übertragene Gefühle lassen sich
auf diesem Weg auch qualitativ identifizieren. Die „kausalen Potenzen“, die den Reaktionen,
Gesten, Handlungen und Stimmänderungen der anderen Person zugrunde liegen mögen, übertragen
sich auf den „mitfühlenden“ Beobachter, ohne dass ihm dies bewusst sein muss. Das
Talent, das Fremdpsychische gewissermaßen „direkt“ interpersonell nachzubilden, scheint
auf einer Passung von wahrgenommenen (fremden) und selbst gebildeten (eigenen) sensomotorischen
Routinen zu beruhen. Wir erkennen am Anderen unmittelbar bzw. „zwischenkörperlich“,
was wir von uns selber kennen. Ein entsprechendes Repertoire an „sensomotorischen
Erfahrungsmustern“ vorausgesetzt, ist es möglich, ein breites Spektrum an Verhaltensdispositionen
im Verhalten des Anderen auszumachen.
Die zweite Dimension des Dispositionen-Verstehens wird auf der Grundlage der ersten
maßgeblich sozial erlernt. Ich nenne sie „propositionales Mentalisieren“, weil sie
die wahrgenommenen Verhaltensweisen auf den konventionellen Begriff bzw. Satz zu bringen
erlaubt. Wer propositional mentalisiert, der erkennt beobachtbare Verhaltensepisoden
als Handlungen aufgrund (unbeobachtbarer) mentaler Prozesse eines bestimmten, sprachlich
fassbaren Inhalts. Wenn wir auf diese Weise Wünsche und Überzeugungen, Charaktereigenschaften,
Denkstile und Bewältigungsstrategien am Werke sehen, dann spielen wir über die Bande
konventioneller psychologischer Diskurse: Wir verwenden die Alltagssprache in der
Form geläufiger, intersubjektiv verständlicher Erklärungsmuster, um das Fremdpsychische
zu verstehen. Wenn Hans etwa erklärt, er wolle sich zur Ruhe setzen, dann lassen sich
viele plausible Szenarien bemühen, um zu verstehen, warum er vorzeitig in den Ruhestand
geht oder was er sich von diesem Schritt erhofft. Den Stoff, aus dem diese Szenarien
gemacht sind, liefert eine immense virtuelle Matrix aus möglichen Verhaltensdispositionen,
einschlägigen „Handlungsregeln“ und narrativen Ressourcen, die dem Interpreten endlose
inferenzielle Möglichkeiten eröffnen. Wer etwa unseren Hans näher kennt, der wird
seine Intelligenz deswegen nicht als nur „eine Disposition“, sondern als ein zusammenhängendes
System aus Überzeugungen und Fähigkeiten, einem bestimmten Denk- bzw. Inferenzstil
und diversen psychischen („Persönlichkeit“), sozialen („Beziehungen“) und institutionellen
Besonderheiten (Beruf, Status, Leistungen, Rollen) und vielem mehr verstehen. Zusammen
mit den „mimetischen Eindrücken“ aus unmittelbaren Interaktionen ermöglicht dieses
System „propositionaler Wissensmarken“ ein dynamisches „Framing“ des psychologischen
Geschehens: Informationen unterschiedlicher Arten und Quellen werden kontextsensitiv
gewichtet, fortlaufend aktualisiert und über längere Beobachtungszeiträume getestet,
um möglichst kohärente Hypothesen zu generieren. Diese Form der abduktiven „inference
to the best explanation“ unterscheidet sich in verschiedener Hinsicht grundlegend
vom wissenschaftlichen Vorgehen, wie die folgenden „Tricks“ zeigen mögen [7].
Der erste „Trick“ besteht in der Rolle fortlaufender Interaktion: Ich, der psychologisierende
Beobachter, bin Teil der Situation. Ich gestalte diese mit, was es ermöglicht, die
Verhaltensdispositionen des Anderen fortlaufend „experimentell“ zu sondieren. Meine
„Messungen“ sind nicht punktförmig, sondern prozessartig. Die resultierenden Dispositionshypothesen
basieren auf ökologisch valideren „Daten“, weil sie fortlaufend „upgedated“ und revidiert
werden und dank „kontextsensibler Testung“ präziser sein können. Ich bin nicht auf
die „Schnappschuss-Ontologie“ punktueller Messoperationen und nicht auf wenige operationalisierte
Variablen beschränkt, sondern kann das mentale Geschehen des Anderen als Prozess nachbilden.
Der zweite „Trick“ besteht in der Flexibilität der Interpretation. Wenn sich meine
Vorhersagen aufgrund bisheriger Interaktionserfahrungen als zu ungenau erweisen, kann
ich ad hoc Zusatzhypothesen einführen oder den Interpretationsrahmen wechseln. Anders
als der Verhaltenswissenschaftler „testet“ der intuitive Psychologe viele Hypothesen
gleichzeitig, um ein möglichst kohärentes Gesamtergebnis zu erreichen. Spezifische
Einzelthesen, die es empirisch-kritisch zu testen gilt, sind seine Sache nicht.
Zum Dritten schließlich finden meine dispositionsbasierten Verhaltensvorsagen oft
im Rahmen interpersoneller Aushandlungsprozesse statt. Wir können uns im Gespräch
darüber verständigen, was Sache ist. Insofern kann meine Zuschreibung und Abschätzung
von Dispositionen durch die Angaben des Betroffenen erleichtert oder gar bestätigt
werden. Wenn ich und der andere dahingehend übereinstimmen, was Präsident Trump oder
Boris Johnson für „Typen“ sind, dann verknüpfen sich unsere „Überzeugungssysteme“
auf eine Weise, die die weitere Verhaltenskoordination in verschiedener Hinsicht erleichtern
kann. Das Bemerkenswerte an diesem „unwissenschaftlichen“, auf interpersonelle Verständigungs-
und Aushandlungsprozesse abstellenden Ansatz ist m. E., dass dieser Hinweise zur Lösung
der diskutierten Probleme des Verhaltensdispositionalismus liefern kann:
Das Problem des Doktors aus Molières Stück ist in der lebensweltlichen Praxis praktisch
keines [1]: Die problematisierte Phänomen-Trait-Ambiguität „verschwindet“ in der Unschärfe
des interpersonellen Verständigungsprozesses. Die hartnäckigen Schwierigkeiten, Verhaltensdispositionen
auf die Aktivität bestimmter physiologische Mechanismen oder „Rechenprozesse in kognitiven
Architekturen“ zurückzuführen, betreffen den Alltagspsychologen ebenfalls nicht [1]. Dieser beschränkt sich auf ein „externalistisches“ Vorgehen, in dem er das beobachtete
Verhalten mental nachbildet und das verborgene mentale Geschehen fortlaufend simulierend
approximiert. Dies geschieht – anders als in den Verhaltenswissenschaften – auf der
Grundlage einer normativen, d. h. arbiträren Matrix „plausibler Handlungserklärungen“.
Der Reliabilismus dieser alltagspsychologischen Dispositionsanalysen vermeidet die
Sackgasse des Operationalismus. Die Daten bestehen nicht in operationalisierten „Punkt-Messungen“,
sondern in fortlaufenden Interaktions- und Simulationsprozessen. Sie betreffen nicht
eine Eigenschaft oder Dimension des Verhaltens, sondern alle, die dem Beobachter zugänglich
sind. M. E. zeigt die Rekonstruktion des Reliabilismus den Weg einer potentiell fruchtbareren,
die Fähigkeiten kompetenter Alltagspsychologen rekonstruierender Forschung auf.