Einleitung
Aphasien sind Sprachstörungen, die nach erworbenen Hirnschäden, zumeist Schlaganfällen,
auftreten. Läsionen betreffen dabei das links lateralisierte Sprachnetzwerk. Dabei
erfolgte historisch eine Einteilung in sensorische und motorische Aphasien, denen
unterschiedlichen Symptomausprägungen und kortikale Schädigungsmuster zugeordnet wurden
[1 ], [2 ]. Früh wurde jedoch erkannt, dass auch Läsionen in subkortikalen Strukturen zu aphasischen
Störungen führen [3 ], [4 ]. Ein einflussreiches Modell beschreibt die Verbindung zwischen den anterioren und
posterioren Angelpunkten des Sprachnetzwerks über einen dorsalen Pfad, der vor allem
der auditorisch-motorischen Integration dient, und einem ventralen, der semantischen
Integration dienenden, Pfad [5 ]. Läsionen innerhalb der Pfade führen zu aphasischen Störungen, was die Bedeutung
subkortikaler Sprachnetzwerke unterstreicht [6 ]. Neben Läsionen in subkortikalen Fasertraktverbindungen sind auch aphasische Störungen
nach Thalamusläsionen bekannt. Diese werden nach ischämischen und hämorrhagischen
Thalamusläsionen, aber auch nach Tumoren und Abszessen im Thalamus beschrieben [7 ]–[9 ].
Neben der anatomisch-funktionellen Zuordnung sprachrelevanter Hirnprozesse ist die
patholinguistische Einteilung der Aphasien komplex. Der Begriff ‚thalamische Aphasie‘,
der anhand von Fallberichten und größeren Fallserien u. a. von Crosson und Bogousslavsky
geprägt wurde, folgt dabei keiner klassisch linguistischen oder syndromatischen Einteilung.
Obwohl verschiedene patholinguistische Muster auftreten können und der Einfluss weiterer,
nach Thalamusläsionen auftretender kognitiver Defizite berücksichtigt werden sollte,
wird von den meisten Autoren die semantisch-lexikalische Störung nach Thalamusläsionen
als zentral angesehen [10 ]. Beschrieben wird hier eine nur gering beeinträchtigte, flüssige Sprachproduktion
mit ungestörtem Nachsprechen bei deutlichen Benenn- und teilweise Verständnisstörungen
[11 ].
Welches Areal des Thalamus besonders relevant für Sprachprozesse sein könnte, ist
dabei nicht abschließend geklärt. Zahlreiche Einzelfallberichte und Fallserien zeigen
eine klare Häufung von aphasischen Störungen nach linksseitigen Läsionen [11 ]. Hinweise für eine linksseitige Lateralisation von Sprachfunktionen im Thalamus
ergeben sich auch aus Studien bei Patienten mit essenziellem Tremor, die spezifisch
während einer Stimulation links-thalamischer Kerngebiete, im Rahmen einer tiefen Hirnstimulation
(DBS, deep brain stimulation), Sprachstörungen zeigten [12 ], [13 ]. Eine Zuordnung bestimmter Kernregionen erscheint schwierig, da sowohl Läsionsstudien
als auch Stimulationsstudien häufig nicht nur den Effekt auf einzelne Kernregionen
darlegen können. Bogousslavsky et al. vermuteten schon in den 1980er-Jahren die Relevanz
des mit weitreichenden frontotemporalen Verbindungen ausgestatteten und unter anderem
mit dem Broca- und Wernicke-Areal assoziierten anterior-medial im Thalamus lokalisierten
Nucleus mediodorsalis [14 ]. In neueren Magnetresonanztomografie-(MRT) Studien zeigte sich mittels Traktografie
eine funktionelle Verbindung zwischen dem Broca Areal links frontal und den anterioren
Kerngebieten des Thalamus [15 ]. Ebenso zeigten funktionelle MRT-Studien (fMRT) eine linksseitige (oder beidseitige)
Aktivierung des anterioren Thalamus bei Aufgaben zur semantischen Abfrage [16 ]. Dies deutet auf eine mögliche Relevanz links-anteriorer Kerngebiete in thalamo-kortikalen
Sprachnetzwerken hin.
Im Folgenden wird der Fall eines Patienten geschildert, der nach einem isolierten
Thalamusinfarkt links anterior eine passagere Aphasie entwickelte. Während die Aphasie
sich innerhalb weniger Wochen zurückbildete, persistierten kognitive Defizite. Die
Diskussion bietet einen kurzen Überblick über die Konzepte zur ‚thalamischen Aphasie‘.
Fallbericht
Ein 72-jähriger Patient stellt sich vor, da seit etwa 4 Tagen eine Wesensveränderung
und Desorientiertheit bestünden. Der Patient selbst konnte nur wenige Angaben machen.
Die anwesende Ehefrau ergänzte, dass der Patient Schwierigkeiten habe, sich sprachlich
auszudrücken. Vorbekannt waren ein arterieller Hypertonus, eine Hyperlipoproteinämie
und ein Diabetes mellitus Typ 2, ein vorangehender Hirninfarkt war nicht bekannt.
Im neurologischen Aufnahmebefund zeigte der Patient eine aphasische Störung mit vorrangig
Wortfindungsstörungen sowie eine Desorientiertheit, eine Merkfähigkeitsstörung und
ideatorische Apraxie für komplexe Aufgaben. Die initiale zerebrale Computertomografie
(cCT) erbrachte den Verdacht auf einen linksseitigen, thalamischen, ischämischen Schlaganfall
([
Abb. 1
]). Am Folgetag bestätigte ein MRT einen Hirninfarkt im links-anterioren Thalamus
([
Abb. 2
]). Weitere Läsionen zeigten sich nicht. Der logopädische Befund mittels der Aphasie
Check Liste (ACL) vom Folgetag bestätigte die initial beobachtete Aphasie. Der Patient
zeigte eine verlangsamte, reduzierte, nicht flüssige Spontansprache, Wortfindungsstörungen
(WFS), semantische Paraphasien und vereinzelte Neologismen, die im Sinne des Aachener
Aphasie Tests (AAT) als „Amnestische Aphasie“ eingestuft wurden. Das Sprachverständnis
war, im Sinne einer expressiv betonten Aphasie, weitgehend unbeeinträchtigt.
Abb. 1 cCT-Bildgebung (WW). Darstellung der akuten Ischämie im linken anterioren Thalamus
hier hypodens (Pfeil). Schichtdicke 0,5 mm. (Quelle: Institut für Neuroradiologie,
Charité Universitätsmedizin Berlin)
Abb. 2 MRT-Bildgebung. DWI-Aufnahme (diffusion weighted imaging) mit hyperintenser Darstellung
der akuten Ischämie im linken, anterioren Thalamus (Pfeil). 3-Tesla. Schichtdicke:
2,5 mm. (Quelle: Centrum für Schlaganfallforschung Berlin/Center for Stroke Research
Berlin, Charité Universitätsmedizin Berlin)
Im Rahmen der stationären, logopädischen Verlaufsevaluation besserte sich die aphasische
Symptomatik. Bei Entlassung in die stationäre Rehabilitation am Tag 6 nach Aufnahme
(Tag 10 nach Symptombeginn) bestanden noch vereinzelte WFS sowie Paraphasien. Eine
Folgeuntersuchung, 5 Wochen nach der Entlassung aus unserer Klinik, zeigte eine weitere
Verbesserung der Aphasie auf Basis des AAT. Trotz eines relativ guten Ergebnisses
im Token-Test (alterskorrigiert 3 Fehler) bestanden weiterhin Defizite im Zugriff
auf das semantische Lexikon bei erhaltenem Sprachverständnis. Die Erhebung des MMST
erbrachte zudem den Verdacht auf weitere, kognitive Defizite im Sinne einer „leichten
kognitiven Beeinträchtigung“ (MCI; Mini-Mental-Status-Test 22/30 Punkte). Da diese,
laut Ehefrau, im Vorfeld nicht bestanden hatten, ist von einer Assoziation mit dem
Thalamusinfarkt auszugehen. Während die aphasische Symptomatik 5 Wochen nach Beginn
der Behandlung nahezu vollständig rückläufig war, zeigte der Patient bei Entlassung
aus der Rehabilitation weiterhin eine Aufmerksamkeitsstörung sowie vereinzelte, mnestische
Defizite.
Diskussion
Wir berichten über einen Fall von Aphasie nach einem unilateralen, isolierten Hirninfarkt
im Thalamus. Der Patient zeigte eine „typische“ thalamische Aphasie mit einer vorrangingen
Störung semantisch-lexikalischer Fähigkeiten mit einer deutlichen Tendenz zur Besserung
zum Zeitpunkt der Entlassung [10 ], [14 ].
Die Rolle des Thalamus in Sprache beschäftigt die Forschung seit mindestens einem
halben Jahrhundert. Während seine Bedeutung für Sprachfunktionen relativ eindeutig
im Rahmen eines thalamo-kortikalen Sprachnetzwerks gesehen wird, sind Ergebnisse bezüglich
spezifischer Pathomechanismen, patho-linguistischer Muster sowie involvierter Kerngebiete
weiterhin uneindeutig [17 ]. Die Hauptaufgabe des Thalamus, als Relaisstation sensueller und somatosensibler
Afferenzen, wird in der Selektion und Weiterleitung dieser sensorischen Informationen
zum Kortex gesehen [18 ]. Jedoch ist auch eine efferente Funktion des Thalamus, vor allem in Bezug auf die
Beeinflussung von Wachheit und Schlafstadien, bekannt [19 ]. Durch thalamische Oszillationen aufrechterhaltene Schlafstadien werden durch Afferenzen
aus dem Mittelhirn unterbrochen und ein Wechsel zu tonischer Aktivität thalamischer
Nuclei ermöglicht den Informationstransfer sensorischer Informationen in den Kortex
[20 ]. Der Thalamus kontrolliert somit Ein- und Ausgang kortikaler Informationen [21 ]. Neben den verschiedenen Funktionsstadien sind auch die weitreichenden afferenten
sowie efferenten Verbindungen zu kortikalen Arealen und dem limbischen System die
Grundlage für die aktive Monitorfunktion, die dem Thalamus zudem in der Verarbeitung
emotionaler Reize und bei zielorientiertem Handeln zugesprochen wird [22 ].
Eine ähnliche Monitorfunktion des Thalamus wird für Sprache vermutet. Crosson und
Nadeau wie auch Ojemann et al. vermuten eine primär integrative Dysfunktion als Grundlage
der aphasischen Symptome bei Thalamusinfarktpatienten. Sie postulierten, dass der
Thalamus, genauer die Nuclei retiuclaris und centromedianus, als Teil einer frontalen,
thalamo-kortikalen Schleife, relevanten fronto-parieto-temporalen Kortexareale bei
Sprachaufgaben „selektiv rekrutiert“. Ein ähnliches Modell beschreibt die Aufgabe
des Thalamus in Sprachfunktionen als kontrollierende Instanz, die die Integration
semantischer mit lexikalischer Sprachinformation ermöglicht [4 ], [23 ].
Bildgebungsstudien liefern Hinweise für die Hypothese eines thalamo-kortikalen Sprachnetzwerks.
Mittels fMRT konnte eine simultane Aktivierung des linken Thalamus und linken Gyrus
temporalis superior und inferior während Spracherkennungsaufgaben gezeigt werden [26 ]. Zudem wurde eine gleichzeitige Aktivierung des Thalamus sowie des präfrontalen
und parieto-temporalen Kortex während semantischer Sprachaufgaben beobachtet [27 ]. Wie bereits beschrieben, stützen auch intraoperativen EEG-Aufzeichnungen im Rahmen
von DBS-Elektrodenimplantation bei Patienten mit essenziellem Tremor die These einer
simultanen Aktivität des linken Thalamus mit links-kortikalen Arealen während Sprachaufgaben.
So beschrieben Slotnick et al. eine simultane, signifikante Reduktion der alpha power
im Thalamus sowie in kortikalen Arealen während semantischer Tasks [28 ]. Dies lässt auf eine integrative Funktion des Thalamus bei Sprachprozessen schließen.
Eine ischämische Läsion könnte folglich zu einer funktionellen Diachisis relevanter
kortiko-kortikaler und kortiko-subkortikaler Sprachverbindungen führen und somit die
aphasische Symptomatik auslösen.
Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass aphasische Symptome nach subkortikalen
Infarkten mit einer gleichzeitigen Hypoperfusion kortikaler Areale assoziiert sein
können. Hillis et al. zeigten bei Patienten mit Caudatus-Infarkten, dass die Art der
auftretenden Sprachstörung typisch für das jeweils minderperfundierte, kortikale Areal
war [29 ]. Ähnliches könnte auch für thalamischen Ischämie zutreffen. So beschrieben Sebastian
et al. eine links-temporale, kortikale Hypoperfusion bei gleichzeitiger links-thalamischer,
ischämischer Läsion und konsekutivem, aphasischen Syndrom, konnten dies aber nicht
für die gesamte, untersuchten Stichprobe bestätigen [30 ]. Die rasche Rückbildung thalamischer Aphasien könnte mit der zugrunde liegenden
und im Verlauf reversiblen, kortikale Hypoperfusion assoziiert sein. Ebenfalls für
eine ursächliche metabolische Entkoppelung thalamischer Kerngebiete mit kortikalen
Zentren sprechen Studien, die eine reduzierte Glukoseaufnahme im links-frontalen Kortex
und eine verminderte Fraktionale Anisotropie (FA) der link-frontalen, subkortikalen
Strukturen nach einer links-anterioren, thalamischen Läsion zeigten [31 ], [32 ]. Dies suggeriert eine zuvor bestehende und durch die Läsion unterbrochene metabolische
wie auch strukturelle Verbindung zwischen dem links-anterioren Thalamus und dem linken
Kortex.
Welche Areale des Thalamus für Sprachprozesse relevant sind bleibt letztlich uneindeutig.
Unser Patient zeigte eine aphasische Störung nach einem links-anterioren Thalamusinfarkt.
Während andere Fallberichte auch Aphasien nach Infarkten in anderen thalamische Lokalisationen
beschrieben, ergibt sich, wie eingangs beschrieben, gerade für eine linksseitige Lateralisierung
von Sprachfunktionen im Thalamus viel Evidenz. In Studien an Patienten, die zur Behandlung
eines essenziellen Tremors eine tiefe Hirnstimulation der thalamischen Nucleus ventralis
intermedius (VIM) bzw. Nucleus ventralis lateralis (VL) erhielten, zeigten Syntaxstörungen
nach Stimulation des linken, nicht jedoch des rechten Thalamus [12 ], [13 ]. Aktivitätsmessungen an den links platzierten Elektroden zeigten zudem eine signifikante
Änderung, wenn Patienten mit semantischen oder Syntaxfehlern konfrontiert wurden [33 ]. Aus früheren Studien an Parkinson-Patienten, die eine Thalamotomie in der VL-Region
erhielten ist bekannt, dass diese zum Teil zu Wortfindungsstörungen und Paraphasien
führte, ohne dass das Sprachverständnis beeinflusst war [34 ]. Ähnliche Symptome sahen wir auch bei unserem Patienten.
Da anteriore Infarkte des Thalamus auch zu kognitiven Beeinträchtigungen wie Apathie,
Aufmerksamkeitsstörungen und Amnesie führen können, muss ein möglicher Einfluss dieser
Defizite auf Sprache berücksichtigt werden [35 ]. Das neuropsychologische Screening unseres Patienten legte den Verdacht auf eine
neue „milde kognitive Störung“ nahe, die im Zusammenhang mit dem links-anterioren
Thalamusinfarkt gesehen werden muss. Relevant erscheint uns, dass die sprachlichen
Symptome im Verlauf nahezu vollständig regredient waren, während Aufmerksamkeitsstörung
und mnestischen Defizite zum Teil fortbestanden. Die Sprachstörung kann somit nicht
nur auf kognitive Defizite reduziert werden.
Aphasische Symptome treten auch nach isolierten thalamischen Infarkten auf. Die vermutliche,
ischämische Störung eines thalamo-kortikalen Sprachnetzwerks unterstreicht die Rolle
subkortikaler Zentren in Sprachfunktionen. Gerade auf eine möglicherweise assoziierte,
kortikale Minderperfusion sollte bei klinischer Präsentation gedacht werden. Trotz
der seltenen Präsentation sollte an die Möglichkeit einer Aphasie bei Patienten mit
Thalamusinfarkt gedacht werden.