Nervenheilkunde 2019; 38(7): 450–473
Der Nervenheilkunde ist zu danken, dass sie dem Thema „Arbeit und psychische Erkrankungen“
ein Schwerpunktheft widmet. Dies ist ein wichtiges Thema für die Betroffenen, die
Psychiatrie und Psychotherapie, die Arbeitswelt und die Gesellschaft. Wir möchten
ergänzend noch 2 Aspekte hervorheben, die uns besonders wichtig erscheinen: Nebenwirkungen
und Kontextadjustierung.
Nebenwirkungen
Der Grundtenor vieler fachlicher und vor allem auch politischer Äußerungen ist, dass
Arbeit zu Stress führen kann, moderne Arbeit besonders viel Stress macht und dass
dies zu einer Zunahme von psychischen Krankheiten führt, weshalb psychischen Belastungen
vorgebeugt werden müsse. Aus psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht hat diese wesentlich
auf soziologischen Hypothesen basierende Annahme und die daraus abgeleitete Ergänzung
des § 5 des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) durchaus relevante Negativfolgen:
Eine onkologische Krankenschwester kommt zur arbeitsmedizinischen Routineuntersuchung
und wird gefragt, ob es belastend sei Patienten sterben zu sehen, ob sie Schichtdienst
mache, ob alle Stellen besetzt seien, ob sie Stress habe und abends erschöpft sei
(was auch sonst?). Alle Fragen werden mit Ja beantwortet und der völlig gesunden Krankenschwester
ein Reha-Aufenthalt empfohlen, was natürlich erzwingt, ihr auch eine psychische Diagnose
zu geben. Als sie dort eintrifft erwägt sie bereits ernsthaft, ihren Job aufzugeben,
da dieser ja Stress bedeutet. Nach dieser Lesart darf niemand mehr onkologische Patienten
pflegen.
Ein Mann mit Herzinfarkt wird im Rahmen der psychokardiologischen Betreuung gefragt,
wo er den Herzinfarkt bekommen habe und ob er Stress hatte. Der Patient berichtet,
dass er in seinem Büro saß und als Manager ständig Stress habe (was auch sonst?).
Als unmittelbare Folge dieser Beratung hat er einen Rentenantrag gestellt, da sein
Beruf Stress beinhaltet und kardiologisch gefährlich sei.
Ein depressiver Patient klagt über Insuffizienzerleben am Arbeitsplatz (was auch sonst?).
Therapeutenseitig wird diskutiert, ob der Arbeitsplatz Ursache der Depression sein
könnte. Der Patient zieht daraus die Schlussfolgerung, seine Lebenszeit-Verbeamtung
zu kündigen. Danach ist er weiterhin depressiv, aber kein Beamter mehr.
Im Rahmen eines betrieblichen Gesundheitsmanagements wird ein Seminar zu Stress, der
pathogenen Wirkung von Stress und der Wichtigkeit der Stressvermeidung gehalten. Eine
Patientin mit hypochondrisch-somatoformer Störung lässt sich daraufhin krankschreiben.
Derartige Beispiele ließen sich noch viele nennen. Die öffentliche Diskussion um die
Pathogenität von Arbeit ist in der Gefahr, zu dysfunktionalen Konsequenzen zu führen.
Dazu gehört auch, dass Arbeitgeber oder Vorgesetzte von Arbeitsgruppen angeschuldigt
und unter Stress gesetzt werden, wenn in ihren Bereichen hohe Arbeitsunfähigkeitszahlen
beobachtet werden. Nach diesem Verständnis müssten Behörden, Ministerien, der öffentliche
Dienst insgesamt und die dort verantwortlichen Chefinnen die schlimmsten Arbeitgeber
der Welt mit den höchsten „Gratifikationsdefiziten“ sein, da dort die höchsten Arbeitsunfähigkeitsraten
gefunden werden.
Wie in einem der Beiträge korrekt angemerkt, sprechen aber alle Daten gegen eine Zunahme
von psychischen Erkrankungen über die letzten Jahrzehnte hin, was aber zu erwarten
wäre, wenn die vorgenannten Kausalitätsannahmen tragen würden. Die Zahl der Arbeitnehmer,
die sich am Beruf überlastet fühlen ist zudem deutlich niedriger, als die epidemiologische
Grundrate psychisch kranker Menschen in der Vergleichsbevölkerung, was dafür spricht,
dass die arbeitenden Menschen gesünder sind als nicht berufstätige, und es gibt durchaus
Hinweise, dass Arbeit sogar eine psychisch protektive Wirkung hat. Die von den Krankenkassen
in stetiger Wiederholung vorgelegten Zahlen mit der Behauptung einer Zunahme psychischer
Erkrankungen zeigen zunächst einmal nur, dass die einschlägigen Diagnose-Codes häufiger
verwendet werden, woraus nicht einmal abgeleitet werden kann, dass sich die Zahl der
klinisch erkannten Fälle erhöht hätte [3]. Aus psychiatrischer Sicht ist es zudem eher erstaunlich, dass die Anzahl der ICD-F-Codes
über die letzten zwei Jahrzehnte hin nicht noch deutlich stärker angestiegen ist.
Es gab und gibt immerhin seit Jahren intensive Anti Stigma Bemühungen bzgl. psychischer
Erkrankungen. Es wurden ganze Fußballstadien gefüllt, im Radio und der Presse Werbung
gemacht und Lehrer, Feuerwehrleute und die Öffentlichkeit geschult. Dennoch ist der
Anteil der psychischen Diagnosen an der Gesamtzahl der Arbeitsunfähigkeitsfälle weiterhin
deutlich zu gering. Zufriedenstellend wäre, wenn sich diese Zahl um 500 % erhöhen
würde, da es immer noch eine erhebliche Rate der Nichterkennung und Nichtbehandlung
psychischer Störungen gibt. Die Zunahme der ICD-F-Nummern in den Krankenkassenstatistiken
ist also kein Grund zur Klage, sondern zur Freude. Sie sind schon gar kein Grund,
zu behaupten, dass die moderne Arbeitswelt flächendeckend krank mache.
Kontextadjustierung und Person-Environment-Fit
Wenn von Belastungen am Arbeitsplatz gesprochen wird, dann muss berücksichtigt werden,
dass es im Gegensatz zu physikalischen MAK-Werten (maximale Arbeitsplatzkonzentration)
keine absolut bestimmbare psychische Belastung gibt, sondern nur eine relative. Als
Beispiel sei auf einen weltweit von ca. 80 Millionen Menschen ausgeübten Beruf verwiesen,
der verlangt, dass man mit 50 kg auf dem Rücken auf den Knien durch unwirtliches Gelände
robben muss, kilometerweit zu Fuß laufen muss, von Vorgesetzten herumkommandiert wird,
in Hitze und Regen übernachten muss, nur aus Dosen ernährt wird, keinen Kontakt zu
seiner Familie hat und obendrein in Lebensgefahr schwebt. Das ist der Soldatenberuf.
Trainierte Soldaten können das leisten, während viele Behördenmitarbeiter schon nach
kurzer Zeit mental und körperlich zusammenbrechen würden. Es geht also um die Relation
von Anforderungen einerseits und Fähigkeiten einer Person andererseits, d. h. den
„Person-Environment-Fit“ oder nach der ICF [4] um eine „Kontextadjustierung“ [1], [2].
Dies hat unmittelbar Bedeutung für den Zusammenhang zwischen psychischer Krankheit
und Arbeit. Schizophren Kranke konnten Kartoffel lesen, solange es noch Handarbeit
gab. Mit der Maschinisierung der Arbeitswelt wurden sie arbeitsunfähig, da niemand
einen schizophren Kranken auf einen Kran lassen würde. Der Kran macht aber nicht krank,
sondern erleichtert die Arbeit, ggf. sogar für Rollstuhlfahrer, nicht aber für schizophren
Kranke. Seit etwa 10 Jahren gibt es unter Computereinsatz eine verschärfte Qualitätssicherung
in der Arbeitswelt. Es macht nicht krank, wenn von Verkäuferinnen im Supermarkt unter
Serviceaspekten erwartet und kontrolliert wird, dass sie freundlich zu Kunden sind,
an der Wursttheke stehend die Kunden bedienen oder an der Kasse zügig arbeiten. Die
Folge ist allerdings, dass Menschen mit hirnorganischen Störungen, Depression, Angststörung,
somatoformen Störungen oder Persönlichkeitsstörungen nicht mehr als Verkäuferin arbeiten
können, von Psychosekranken ganz zu schweigen.
Nicht der Arbeitsplatz macht krank, sondern psychisch Kranke sind in der modernen
serviceorientierten Arbeitswelt nicht mehr zu brauchen, weil dort Soft-Skills verlangt
werden, die bei psychischen Störungen eingeschränkt sind [1]. Die hohen AU- und EU-Raten gehen daher vorrangig zu Lasten affektiver, neurotischer
und Persönlichkeitsstörungen.
Die Konsequenz muss also lauten, dass wir nicht von krankmachenden Arbeitsplätzen
reden, weil dies falsch und nicht begründet ist und zu erheblichen Negativkonsequenzen
auf individueller wie institutioneller Ebene führt. Stattdessen ist das Problem, dass
qualitätsgesicherte Arbeitsplätze psychisch Kranke jeder Art ausschließen. Politisch
sind „Toleranzarbeitsplätze“ zu fordern (Verkäuferin, die ständig Pause macht und
nicht lächelt), was derzeit übrigens fast nur in Behörden zu finden ist und u. a.
auch die dortigen erhöhten AU-Raten erklärt.