Nervenheilkunde 2020; 39(01/02): 3-4
DOI: 10.1055/a-0976-0383
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Nervenheilkunde

Zeitschrift für interdisziplinäre Fortbildung
Thomas C. Baghai
,
Rainer Rupprecht
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Publication Date:
12 February 2020 (online)

 
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Prof. Dr. med. Thomas C. Baghai Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Regensburg
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Prof. Dr. med. Rainer Rupprecht, Regensburg

Rolle des Dickdarm-Mikrobioms bei neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen

Aktuell erscheinen jährlich mehr als 4000 in der PubMed- bzw. Medline-Datenbank gelistete Publikationen, die sich mit dem Zusammenhang der vielfältigen Darmbesiedelung durch kommensale Mikrobiota und Erkrankungen verschiedenster medizinischer Fachgebiete beschäftigen. Es handelt sich hierbei überwiegend um präklinische und klinische Originalarbeiten, aber auch um beinahe 30 % Übersichtsarbeiten und Reviews. Insgesamt sind in den letzten Jahren mehr als 17 000 Arbeiten zu diesem Thema erschienen. Das aktuelle wissenschaftliche und öffentliche Interesse an diesem Thema spiegelt, nach Meinung der Gastherausgeber dieses Themenhefts, das Innovations- und Einflusspotenzial von mikrobiologischen Untersuchungen auf verschiedene Bereiche der Medizin einschließlich der Neurologie und Psychiatrie wider, das derzeit nur hypothetisch und relativ ungenau geschätzt werden kann.

Die bisher erschienenen Arbeiten belegen inzwischen vielfältige Mechanismen einer bidirektionalen Kommunikation zwischen dem zentralen Nervensystem und unseren kommensalen Mikrobiota im Darm über immunologische und endokrine Systeme, aber auch eine Steuerung über Neurotransmitter und die Verbindung über den N. vagus. Trotzdem ist es noch nicht in ausreichendem Maße gelungen, die mikrobiologische und psychiatrische oder neurologische Untersuchungsmethodik so zu standardisieren, dass eine gute Vergleichbarkeit von Studienergebnissen verschiedener Arbeitsgruppen vorliegt.

Der erste Artikel unseres Hefts von Andreas Hiergeist und Kollegen widmet sich daher der Frage der Untersuchungsmethodik und der besseren Standardisierung aus mikrobiologischer Sicht und zeigt an einem praktischen Beispiel, wie Teilnehmer an einer Probandenuntersuchung nach Mikrobiomanalytik differenziert werden können. Nach solchen grundsätzlichen Überlegungen erläutern Anna Schmidtner und Inga Neumann in einem translationalen Ansatz wie Verhaltensdaten und mikrobiologische Untersuchungsergebnisse, die in Depressionsmodellen an Nagern gewonnenen wurden, Eingang in die psychiatrische Therapieforschung finden können.

Die mögliche zukünftige Bedeutung der Mikrobiomforschung in der Neurologie veranschaulichen exemplarisch die Übersichtsarbeiten von Andreas Straube und Ruth Ruscheweyh zur Migräne, für die es schon lange klinische Hinweise einer Verbindung zwischen Krankheitssymptomen und der Aktivität des Gastrointestinaltrakts gibt, sowie zu Hirntumoren, darüber berichten Tareq Anssar und Peter Hau, deren Prognose möglicherweise durch Mikrobiota im Darm mitbeeinflusst werden kann. Ralf Linker und Aiden Haghikia diskutieren in ihrem Beitrag zur Multiplen Sklerose, die als immunologische Erkrankung dafür prädestiniert ist, die Beziehung zwischen Darminhalt und ZNS genauer zu untersuchen und möglicherweise zukünftig in therapeutische Empfehlungen umzusetzen.

In der Psychiatrie beschäftigen sich viele Autoren vor allem mit dem Einfluss des Dickdarm-Mikrobioms auf das Spektrum autistischer Erkrankungen sowie auf stressassoziierte Erkrankungen, wie z. B. depressive Störungen. Die Artikel von Dominik Langgartner und Kollegen geben einen Überblick über den aktuellen Stand der Mikrobiomforschung nicht nur zu stressassoziierten psychischen Störungen wie z. B. depressiven Erkrankungen, Angststörungen oder der posttraumatischen Belastungsstörung. Zusätzlich werden Risikozustände für depressive Erkrankungen, wie das Burnout-Syndrom und das Thema der Stressresilienz, und die Verbindung des Immunsystems mit Lebensereignissen und der Mikrobiom-Darm-Hirn-Achse sowie erste aus diesen Forschungsergebnissen abgeleitete Therapieimplikationen übersichtlich dargestellt. Abschließend widmen sich Stefanie Trinh et al. in ihrer aktuellen Übersicht der Frage, welche Mechanismen bei der Anorexia nervosa, einer Erkrankung, die mit einer extremen Veränderung der Ernährung und damit des Dickdarm-Mikrobioms einhergeht, zur Entstehung von psychischen Krankheitssymptomen beitragen können. Damit schließt sich thematisch der Kreis zur ersten Arbeit des Themenheftes. Darüber hinaus werden mögliche therapeutische Implikationen diskutiert.

Die Autoren und Herausgeber hoffen, damit zu einer raschen Übersicht über einige Grundlagen der Mikrobiomforschung in der Neurologie und Psychiatrie beitragen zu können. Zudem soll die mögliche klinische Relevanz neuer Erkenntnisse aus gemeinsamen mikrobiologisch/neurologischen und mikrobiologisch/psychiatrischen Forschungslinien zur weiteren Optimierung der Behandlung unserer Patienten dargestellt werden.

Thomas C. Baghai, Rainer Rupprecht, Regensburg


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Prof. Dr. med. Thomas C. Baghai Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Regensburg
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