physiopraxis 2020; 18(01): 14-15
DOI: 10.1055/a-0975-1702
Profession
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Schwachstelle praktische Ausbildung – Praxisanleiter in Zeiten der Akademisierung

Marion Riese
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Publikationsdatum:
20. Dezember 2019 (online)

 

Seit es in der Physiotherapie primärqualifizierende Studiengänge gibt, sind nicht mehr die Ausbildungsstätten, sondern die Therapeuten in Kliniken und Praxen für die praktische Ausbildung zuständig. Dafür fehlen jedoch häufig pädagogische Qualifikationen und evidenzbasiertes Wissen, findet Prof. Dr. Marion Riese.


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Prof. Dr. Marion Riese

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Prof. Dr. Marion Riese ist Physiotherapeutin und Professorin an der Katholischen Hochschule Mainz. Wer Interesse am Kompetenzmodell der Hochschule hat, kann dieses unter Marion.Riese@kh-mz.de anfordern.

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Abb.: KatarzynaBialasiewicz/istockphoto.com (Symbolbild)

Seit 2001 gibt es Studiengänge in der Physiotherapie. Bis 2009 waren diese dual angelegt, und die Physiotherapieschulen waren für die praktische Ausbildung zuständig. In der Regel erfolgte diese durch die dortigen Lehrkräfte. Durch die primärqualifizierenden Modellstudiengänge (§ 9 MPhG) liegt die Zuständigkeit nun bei den Hochschulen. Die praktische Ausbildung wird dabei nicht von den Professoren, sondern den examinierten Therapeuten in den Kliniken und Praxen durchgeführt. Die Folge: Die Betreuung in der praktischen Ausbildung reicht oft nicht aus, da einem Teil der Kollegen pädagogische Qualifikationen und häufig evidenzbasiertes Wissen fehlt. Das wiederum widerspricht dem Ziel der Akademisierung, künftig eine bessere Patientenversorgung zu gewährleisten.

Pflege als Vorreiter?

Ein Blick auf die Pflegewissenschaft zeigt, dass eine Professionalisierung in der praktischen Physiotherapieausbildung dringend erforderlich ist. Sie umfasst in der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Physiotherapeuten (PhysTh-APrV vom 6.12.1994) aktuell 1.600 Stunden, während es in der Pflegeausbildung bereits 2.500 Stunden sind.

Im Gesetz über die Berufe in der Physiotherapie von 1994 ist weder eine qualifizierte Lehrerausbildung noch eine Ausbildung zum Praxisanleiter, zur Ausbildung von Schülern, erforderlich. Nur in wenigen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen, Bayern und Niedersachsen gibt es Curricula, die Lehrinhalte regeln. Nur in Bayern sind diese auch verbindlich. Das wird sich ändern müssen!

In der Pflegeausbildung (§ 2 KrPflAPrV) waren bislang 200 Stunden pädagogische Zusatzqualifikation und ein Jahr Berufserfahrung für Praxisanleiter gefordert. Im neuen Pflegeberufereformgesetz, das am 1.1.2020 in Kraft tritt, sind es sogar 300 Stunden. Für Lehrkräfte im praktischen Unterricht der Pflegeausbildung ist eine pflegepädagogische Hochschulausbildung erforderlich.

Die ist auch in der Physiotherapie nötig. Dagegen gibt es keine stichhaltigen Gründe. Die Physiotherapie befindet sich im Umbruch und muss die Veränderung ohne Qualitätseinbußen gestalten. Was also bedeutet Professionalisierung für die praktische Ausbildung? Die Therapie erfolgt im „sicherheitsrelevanten Bereich“, das heißt, auch kleine Behandlungsfehler können zu schweren Schäden führen. So kann etwa eine Behandlung an der HWS in der Konstellation mit einer Ruptur oder Lockerung des Lig. transversum atlantis zu einer tödlichen Rückenmarkschädigung führen. Die Ausbilder müssen daher geeignet, gut ausgewählt, eingearbeitet und geführt sein, andernfalls kann es zu einem Organisationsverschulden und damit zu einem Schadensersatz auch der jeweiligen Ausbildungsstellen kommen.


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Vier Bereiche der Professionalisierung

Spricht man über Professionalisierung, brauchen wir ein gleiches Verständnis der Begriffe „Wissen“, „Qualifikation“, „Kompetenz“ und „Performanz“. Das „Handbuch Kompetenzmessung“ von John Erpenbeck und Lutz von Rosenstil erläutert diese Begriffe sehr ausführlich [7]. Ich empfehle diese Lektüre allen Verantwortlichen in diesem Bereich. In der Physiotherapie könnten man die Begriffe folgendermaßen erklären:

Wissen: Ich kenne alle Bänder und Muskeln, die das Schultergelenk stabilisieren.

Qualifikation: Ich habe die Ausbildung und bin staatlich anerkannter Physiotherapeut.

Kompetenz: Ich kann Patienten nach einer OP nach Schulterluxation behandeln und vermeide kontraindizierte Bewegungen.

Performanz: Ich behandle Patienten erfolgreich nach dem Stand der Technik, ermögliche ihnen, auch zu Hause gefahrlos zu trainieren, und erfülle die Rahmenbedingungen meiner Organisation (Klinik, Praxis). Die Therapie entspricht der dafür vorgesehenen Behandlungsdauer.

Das Wissen wird entweder über die Ausbildung oder ein Studium erworben und führt zur entsprechenden Qualifikation, dem Staatsexamen, Bachelor- oder Masterabschluss. Der Praxisanleiter muss dem Lernenden ermöglichen, sein Wissen in Kompetenz und Performanz umzusetzen. Wie kann das gelingen? Menschen sind lernfähig, aber unbelehrbar [3]. Die Ermöglichungsdidaktik fordert vom Praxisanleiter fachliche, emotionale und fachdidaktische pädagogische Kompetenzen. Bei der Fachlichkeit muss er darauf achten, dass er auch selbst Kompetenz und Performanz beweist. Ein Praxisanleiter, der vorwiegend Patienten im neurologischen Bereich behandelt, wird in der Unfallchirurgie fachliche Lücken haben, die er erst beheben muss. Verfügt er über ein Studium, ist er im Vorteil, da er eine wissenschaftliche und ICF-orientierte Herangehensweise in Diagnostik und Therapie kennt. Der Praktiker hat hier theoretische Lücken zu schließen wie der Theoretiker seine praktischen Lücken.

Auch die emotionalen Kompetenzen sind vor Ort leicht identifizierbar. Der Praxisanleiter sollte die Lernenden positiv emotional berühren können, damit diese sich öffnen und trauen, in den Dialog zu gehen. Kommt kein interaktiver Kommunikationsprozess zustande, werden auch gute pädagogische Konzepte wirkungslos bleiben. Praxisanleiter, die mit Druck und Angst arbeiten oder auch nur introvertiert und ohne Kontakt zu den Lernenden sind, sollten ihr Verhalten unbedingt ändern.

Bayern
ist das einzige Bundesland, in dem es bindende Curricula für die Physiotherapieausbildung gibt.

Es gibt eine Vielzahl von fachdidaktischen Konzepten, die erprobt sind. Häufig frage ich mich, ob diese in der Physiotherapie bekannt sind. Müssen sie modifiziert werden? Erreichen sie das Ziel von Kompetenz und Performanz? Welche pädagogischen Qualifikationen und Kompetenzen haben die Praxisanleiter? Sind Begriffe wie „Konstruktivismus“ oder „Clinical Reasoning auf evidenzbasierter Grundlage“ im Alltag operationalisiert? Wie gestaltet man ein Update der eigenen Kompetenzen?

Erst in der Performanz, der beobachtbaren Leistung von Kompetenz, zeigen sich Kompetenzen, die jemand gelernt hat [2], [4]. Übertragen auf den Praxisanleiter bedeutet das, dass er diagnostische und therapeutische Interventionen am Patienten selbst anwenden kann. Er kontrolliert die Therapie des Lernenden und bringt ihn auf das notwendige Level, um kompetent und performant im Klinik- oder Praxisalltag zu agieren. Somit ist die Beschäftigungsfähigkeit der Lernenden Ausdruck der Performanz des Praxisanleiters.

Diese sollten sich daher selbst reflektieren und überprüfen, ob ihr Wissen und pädagogisches Handeln in Zeiten der Akademisierung noch Bestand hat, und es gegebenenfalls neu updaten. Das gilt auch für Praxisanleiter, die häufig schon viele Jahre als Lehrkräfte in Schulen arbeiten und keine pädagogische, sondern nur eine fachliche Qualifikation haben.


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Die Professionalisierung voranbringen

Mit drei beispielhaften Ansätzen kann die Professionalisierung im Alltag gelingen: mit einem Kompetenzmodell, kollegialer Fallberatung und Journal Clubs.

  • In jeder Organisation sollte es ein Kompetenzmodell für Praxisanleiter geben. Die Katholische Hochschule in Mainz hat gemeinsam mit ihren Kooperationsschulen ein solches entwickelt, das als Anregung dienen kann (AUTORIN). Es ist in Anlehnung an den Deutschen Qualifikationsrahmen für lebenslanges Ler- nen (DQR) entstanden und unterteilt sich in Praxisplanung und -vorbereitung, -durchführung, -nachbesprechung und -evaluation. Praxisanleiter sollten diese Phasen durch ihre entsprechenden fachlichen, personalen und pädagogischen Kompetenzen organisieren können.

  • Auch kollegiale Fallberatungen sollten Kliniken und Praxen einführen. Selbstreflexionen, aber auch Reflexionen durch Kollegen können zu kleinen Anpassungen mit hoher Wirkung führen.

  • Wissen kann zudem entstehen, wenn man regelmäßig Fachzeitschriften liest und schul- bzw. klinikinterne Journal Clubs organisiert.

Alle Kompetenzen, die nicht intern verfügbar sind, sollte man durch externe Fortbildungen erlangen. Es braucht Sensibilisierung, Reflexion, Demut und intelligente Anpassungen, damit die geeigneten Kollegen gerne Praxisanleiter werden und erfolgreich bleiben.


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Abb.: KatarzynaBialasiewicz/istockphoto.com (Symbolbild)