Herr Maio, würden Sie heutzutage jungen Menschen empfehlen, Ergo- oder Physiotherapie
zu lernen?
Es sind sehr schöne Heilberufe, die dem Menschen die Möglichkeit geben, anderen professionell
nahezukommen und sie in einer wichtigen Lebensphase dabei zu unterstützen, ihre eigenen
Ressourcen neu zu mobilisieren. Insofern sind Ergo- und Physiotherapie sinnstiftende
Berufe, die erstrebenswert sind, weil man anderen Menschen in vielfältiger Weise helfen
kann.
Therapeuten sind schlecht bezahlt – sicherlich ein Entscheidungsaspekt für die Berufswahl.
Sehen Sie ein Spannungsfeld zwischen schlechter Bezahlung und Sinnstiftung?
Ja, wir haben heute eine Schieflage. Das technisch Eingreifende, Invasive wird sehr
gut bezahlt, und alles, was mit der direkten Beziehung zu tun hat, wird unterbezahlt.
Das haben wir in den Therapieberufen, der Pflege und auch bei den Ärzten. Therapie
aber ist eine Beziehungsdisziplin, weil sie ohne Beziehung zum Patienten nicht funktionieren
kann. Insofern müssen sich Therapeuten darüber im Klaren sein, dass ihre eigentliche
Leistung nicht im technischen Vorgehen liegt, sondern darin, eine gute Beziehung aufzubauen.
Also nicht die Aktion ist die Leistung der Ergotherapeuten, sondern die Interaktion.
Die Interaktion mit einem Menschen, der ja am liebsten das, was er hat, gar nicht
haben möchte. Er delegiert daher an den Experten, dass er das wieder richte. Die Aufgabe
der Therapie besteht darin, eine solche Vertrauensbeziehung aufzubauen, damit dem
Menschen klar wird, dass er seinen Körper nicht einfach abgeben und funktionstüchtig
wieder abholen kann. Er muss selbst aktiv werden. Dieser Prozess erfordert ein besonderes
Vertrauensverhältnis.
Sie betonen die Bedeutung der Beziehung. Könnten Sie den Wirkstoff „Beziehung“ näher
beschreiben?
Im Grunde ist es ja überall in der Medizin so, dass es nicht darum geht, eine Technik
an einem Objekt anzuwenden, um das Objekt zu manipulieren, sondern es geht immer um
den Kontakt mit Menschen. Und der Mensch ist nun mal kein Mechanismus, der automatisch
reagiert, wie eine Maschine. Der Mensch ist ein komplexes Wesen, das ganz spezifisch
auf konkrete Situationen reagiert. Und in diese Situation wird eine Atmosphäre hineingelegt.
Menschen reagieren nicht alle gleich, sondern unterschiedlich, je nachdem in welcher
Atmosphäre sie sich fühlen. Deswegen ist die Beziehung nicht der Ersatz der Technik.
Aber eine gute Beziehung ist die Bedingung für eine erfolgreiche Therapie. Ohne Beziehung
können Therapeuten noch so gut die richtige Technik anwenden, sie wird weniger wirksam
sein, als wenn eine Beziehung da ist – in dem Sinne, dass sich der Patient ernst genommen
und verstanden fühlt. Die Wirkkraft der Beziehung resultiert aus dem Gefühl des Patienten,
ernst genommen zu werden und als Individuum und unverwechselbarer Mensch anerkannt
worden zu sein.
Die Aufgabe der Ergo- und Physiotherapeuten besteht nicht primär darin, den richtigen
Handgriff auszuführen, auch wenn dieser wichtig ist. Ihre eigentliche Aufgabe ist
Motivation! Sie müssen im Gegenüber innere Ressourcen mobilisieren und freilegen.
Schaffen sie das nicht, können sie noch so handwerklich geschickt sein: Es wird nicht
gelingen. Die Menschen, die zum Therapeuten kommen, befinden sich in einem Angstzustand
– Angst vor der Zukunft und Angst, dass es weh tut. Sie müssen sich daher erst einmal
fallen lassen können, um mitmachen zu können. Und dieses Fallen-lassen-Können erfordert
ein Gefühl der Geborgenheit und des Vertrauens.
Die Wirkkraft der Beziehung resultiert aus dem Gefühl des Patienten, ernst genommen
zu werden.
Die geborene Ergotherapeutin beziehungsweise den geborenen Ergotherapeuten, gibt es
das?
Nein. Man muss viel gelernt haben, um ein guter Therapeut zu werden. Aber die Ausgangsbedingungen
sind natürlich unterschiedlich. Es gibt Menschen, die sind eher dafür geschaffen,
andere weniger. Was nicht heißt, dass man nur, wenn man eine natürliche Begabung hat,
ein guter Therapeut sein kann. Es wird dann einfacher. Wichtig ist die Sozialisation.
Ergotherapie empfinde ich als eine Profession, für die man viel lernen muss, nicht
nur theoretisch, sondern vor allem praktisch. Man kann sie nicht aus dem Lehrbuch
lernen, sondern indem man mit Menschen zu tun hat und unter Anleitung probiert. Dabei
gibt es unterschiedliche Typologien von Menschen. Dem einen fällt es leichter, dem
anderen schwerer. Aber: Jeder kann es lernen! Man muss eben unterschiedlich viel Energie
investieren.
Wird die persönliche Anleitung unterschätzt?
Ja, viele denken, Faktenwissen wäre das Wichtigste. Aber nein, man braucht einen Lehrer.
Denn einerseits geht es um das Einüben von Fertigkeiten, andererseits aber um das
Sicheinfinden in ganz spezifische Situationen. Therapie darf nicht beliebig sein.
Sie hat Theorien, aber in der konkreten Ausgestaltung muss sie immer flexibel sein,
um dem einzelnen Menschen gerecht zu werden. Im Grunde sind Ergo- und Physiotherapie
Professionen, bei denen es um tiefe Aufmerksamkeit geht. Erst einmal gilt es wahrzunehmen:
Was ist das überhaupt für ein Mensch? Man kann nicht einfach nach Schema F vorgehen.
Therapeuten müssen sich zuerst auf den anderen einstimmen und ein therapeutisches
Bündnis schmieden – ein Vertrauensbündnis. Das geht bei jedem anders. Es ist ein ständiges
Sichherantasten.
Benötigen Therapeuten dafür eine gewisse Lebenserfahrung?
Die ist sicherlich ein Vorteil, aber keine Bedingung. Auch junge Menschen können sich
sehr gut einfühlen. Wichtig ist, dass ihnen in dieser prägenden Lebensphase genau
das vermittelt wird. Man muss ihnen zeigen: Es ist nicht Technik, es ist Beziehung!
Und das sollte dann ganz explizit am Anfang der Ausbildung stehen?
Ja, denn viele werden Ergo- oder Physiotherapeut, weil sie Freude am Kontakt mit Menschen
haben, sie anderen helfen und menschennah arbeiten wollen – und was lernen sie? Fakten,
Fakten, Fakten. Und wo ist der Mensch, fragen sie sich dann. Deswegen müssen Lehrkräfte
ganz am Anfang verdeutlichen: Ihr handelt nicht an Menschen und ihr wollt sie nicht
manipulieren, sondern ihr wollt mit Menschen etwas Gutes erreichen. Und das geht eben
nur gemeinsam.
Die Lernenden sind meiner Erfahrung nach anfangs hoch motiviert.
Ja, und sie haben einen Machbarkeitswahn. Sie sind beseelt von der Vorstellung, ich
brauch da nur was zu machen und schon kann ich es richten. Da muss man ihnen durchaus
ein Stück Demut beibringen.
Es gibt unterschiedliche Begriffe, die Therapeuten verwenden können, um ihr Gegenüber
zu beschreiben. Physiotherapeuten sprechen meist vom „Patienten“ oder vom „Menschen,
der krank ist“. Es gibt unter Therapeuten aber auch die Begriffe „Klient“ und „Kunde“.
Wie sehen Sie die Verwendung dieser Begriffe?
Begriffe sind extrem wichtig, weil sie eine Grundeinstellung vermitteln. Wenn Therapeuten
den Begriff des Kunden nehmen, ist das irreführend. Denn die Ergo- oder Physiotherapie
kann es nicht mit Kunden zu tun haben. Der Kunde ist derjenige, der sich auf dem Markt
frei etwas zum Konsumieren aussucht. Der Kunde ist in einer Situation der Souveränität,
in der er frei entscheiden kann, ob er und was er kauft. Die Therapie aber agiert
dort, wo diese Situation selten gegeben ist.
Erstens ist der vermeintliche Kunde ab dem Moment, da er Therapie braucht, nicht in
der souveränen Lage zu entscheiden: Will ich das oder nicht? Kauf ich das oder nicht?
Er ist darauf angewiesen und braucht die Hilfe des Therapeuten. Er kann sich natürlich
auch dagegen entscheiden, aber das wäre unvernünftig. Insofern befindet sich die Person
in einer Situation der Angewiesenheit.
Zweitens ist er kein Kunde, weil er gar nicht sagen kann: Was kauf ich ein? Das ergibt
sich erst aus dem Kontakt mit dem Therapeuten. Erst muss er sich auf die Therapie
einlassen, um dann zu wissen, was ihm hilft. Und schließlich ist er kein Kunde, weil
er sich in einer Situation der Schwäche befindet, in der er einen Helfer braucht und
nicht einen Dienstleistungsanbieter. Ergotherapie funktioniert nun mal nicht durch
Aktionen, die man kaufen kann, sondern durch Motivationen. Und Motivation kann man
sich nicht kaufen. Daher ist die Grundlage für die Therapie etwas, was man nicht kaufen
kann. Nämlich authentisches Interesse am Wohlergehen des anderen.
Manche sagen, der Begriff „Patient“ würde eine asymmetrische Beziehung implizieren
und daher stigmatisieren. Die Ergotherapeuten sprechen unter anderem deswegen nur
noch von Klienten. Ist das sinnvoll?
Die Asymmetrie besteht allein darin, dass der Patient Hilfe braucht und der Therapeut
diese Hilfe nicht braucht. Aus dieser situativen Asymmetrie resultiert keine personale
Asymmetrie. Deswegen ist mit dem Begriff des Patienten nicht gleichzeitig verbunden,
dass ich gönnerhaft herablassend als Experte dem Unwissenden etwas anbiete. Sondern
dem Patienten gerecht zu werden bedeutet, ihm immer auf Augenhöhe begegnen zu wollen.
Auch demjenigen, der auf der Intensivstation liegt. Insofern ist es ein Missverständnis
und eine Verwechslung der Begriffe, wenn man sagt, der Patient ist automatisch in
der passiven Lage. Er ist nicht passiv. Er ist angewiesen! Darin liegt die einzige
Asymmetrie. Insofern kann man als Therapeut vom Patienten sprechen und zugleich ein
egalitäres Verhältnis voraussetzen.
Wenn Therapeuten den Begriff des Kunden nehmen, ist das irreführend.
Wir müssen den Begriff des Patienten also nicht problematisieren.
Auf keinen Fall! Und ich finde auch, dass wir einen Fehler machen, wenn wir jetzt
nicht mehr von Krankenkassen sprechen sollen, sondern von Gesundheitskassen. Das ist
eine Beschönigung und eine Ignorierung der Not. Medizin ist dort aufgerufen, wo Not
am Mann ist, und primär nicht dort, wo man sich Vergleichsangebote holt. Es ist eine
Fehlentwicklung, dass sie zu einem „Gesundheitsmarkt“ geworden ist, obwohl sie eine
soziale Errungenschaft ist, die darin besteht, dass sie eine Antwort zu suchen hat
auf die Bedürfnisse des Bedürftigen.
In Ihrem Buch „Den kranken Menschen verstehen“ geht es um die Haltung, die der Patient
erwerben soll gegenüber seinem Kranksein. Können Sie illustrieren, welche Haltungen
im Patient-Sein wichtig sind?
Jede Krankheit ist der Beginn einer Verwandlung des Menschen. Durch das Krankwerden
verändert sich alles, und der Mensch macht sich auf den Weg zu einer Metamorphose.
Ohne dass er es merkt. Am Anfang dieses Weges steht der Wunsch, unbedingt zurückzugehen.
Und das therapeutische Bündnis besteht darin, den Blick des Patienten nach hinten
Zug um Zug zu verändern und ihm zu ermöglichen, immer mehr nach vorne zu schauen.
Insofern gilt es die Zukunft nicht abzugleichen mit der Vergangenheit, sondern zu
erkennen, dass man durch das Krankwerden eine Aufgabe erhalten hat. Nämlich die Aufgabe,
das Leben neu zu justieren, neue Perspektiven zu eröffnen und neue Werte zu finden
für das Leben, das bevorsteht. Insofern ist die Krankheit nicht nur ein Abbruch der
Vergangenheit, sondern kann ein Durchbruch zu einem neuen Leben sein. Das ist es,
was der Patient lernen muss. Wenn er das nicht lernen kann, dann fixiert er sich,
wird immer unglücklicher, und alle anderen sind dran schuld.
Das ist eine riesige Aufgabe. Welche Haltung brauchen wir Therapeuten dafür?
Eine der grundlegenden Tugenden der Ergo- und Physiotherapeuten ist die Geduld. Ohne
diese wird die Therapie nicht funktionieren. Therapeuten müssen sehr behutsam vorgehen.
Behutsam, nicht nur im Sinne von „nicht wehtun“, sondern behutsam in der Fähigkeit,
dem anderen Zeit zu geben, sich in dieser neuen Situation einzufinden. Ihn nicht zu
überfordern, nicht sofort alles abzufordern. Man braucht Geduld im Sinne des Respektes
vor der Zeit und im Sinne dessen, dass es sich lohnt, auch zuzuwarten. Geduld aber
auch dergestalt, dass man Zeit braucht, um Beziehungen entfalten zu können. Geduld
heißt zudem, dem anderen zu signalisieren: Es wird mir nicht zu viel, wir haben Zeit,
ich bleibe dabei. Der geduldige Mensch ist unglaublich wirksam. Weil er dem anderen
Ruhe vermittelt. Der Ungeduldige bricht ab. Der Geduldige macht klar: Ich steh dir
bei, wir machen weiter, auch wenn es langsam geht. Und das ist heilsam. Insofern finde
ich diese Grundhaltung des Geduld-haben-Wollens für die Therapie eine Erfolgsbedingung.
Klingt nach einer schwierigen Aufgabe, wenn einem bei jeder Behandlung der Minutentakt
im Nacken sitzt.
Genau deswegen müssen Therapeuten reklamieren, dass sie Zeit brauchen, um diese Beziehung
zu ermöglichen, und es muss anerkannt werden, dass bestimmte Dinge ihre eigene Zeit
haben. Man muss Respekt haben vor der Eigenzeit der Dinge. Wenn man meint, man könne
sie beschleunigen, dann wird man hastig. Die Hast aber ist ein ständig unterbrechendes
Agieren. Nur mit der Geduld bleibt es geschmeidig. Die Geduld ist der Königsweg für
die Therapie.
Wir Therapeuten möchten aber schon gerne agieren, um etwas zu erreichen. Einfach nur
zuwarten und die Zeit machen lassen ist eine schwere Aufgabe für uns.
Ich glaube, es ist wichtig, die Geduld nicht misszuverstehen. Geduld zu haben bedeutet
nicht, sich immer mehr Zeit zu nehmen oder alles langsamer zu machen. Geduld heißt,
dass ich mir darüber im Klaren bin, dass ich die Dinge nicht forcieren kann. Dass
ich mich nicht verleiten lassen darf, schneller zu sein, nur um des schnellen Seins
willen. Ich kann natürlich schneller sein, wenn die Sache es erlaubt.
Der Patient muss lernen, dass Krankheit ein Durchbruch zu einem neuen Leben sein kann.
Das Primat des Geduldigen ist die Sorgfalt und das Gerecht-werden-Wollen, nicht die
Schnelligkeit. Insofern ist der geduldige Mensch nicht derjenige, der einfach länger
wartet, sondern derjenige, der anders wartet. Er wartet nicht mit der Einstellung:
Ach, jetzt muss ich auch noch warten. Sondern er wartet mit der Überzeugung: Hier
ist es wichtig, zu warten. Der Ungeduldige fragt sich: Warum nur warten? Und mit dem
„Warum nur?“ forciert er und wird dadurch unproduktiv.
Die größte Gefahr ist dabei die Annahme des Patienten, dass er schnell wieder funktionsfähig
ist. Denn dadurch schlittert der Therapeut in einen Erfolgsdruck hinein. Und auf diese
Weise wird man ungeduldig, und damit vereitelt man den möglichen Therapieerfolg.
Das heißt für Therapeuten, dass das Hauptgegenmittel gegen den Erfolgsdruck ist, dass
sie beim Patienten klarstellen: „Das dauert“?
Ergo- und Physiotherapeuten müssen deutlich machen, dass es sinnlos ist, etwas schnell
herzustellen, was dann genauso schnell wieder zunichte gemacht wird. Therapeuten sollten
ihren Patienten gleich zu Beginn verdeutlichen: „Wenn Sie Therapie wollen, dann geht
es nur in kleinen Schritten.“
Wie schätzen Sie die Kraft und die Bedeutung der Berührung in der Therapie ein?
Sie ist ein sehr wichtiges, identitätsstiftendes Moment. Ergo- und Physiotherapie
verwirklichen sich oft über die Berührung, aber sie ist sehr vielschichtig. Sie kann
Angst auslösen, übergriffig oder heilsam sein. Deswegen besteht die Kunst der Therapie
in der gekonnten Berührung, nicht in der Berührung per se.
Das Heilsame an der Berührung besteht darin, dass, wenn sie glückt, sie Halt geben
kann. Die Berührung kann eine personale Verbindung herstellen. Aber das macht sie
nicht automatisch. Und die Kunst ist es auch, im Nahekommen gleichsam Distanz zu wahren.
Berührung gilt für einige Therapeuten als besonders wichtiger Wirkfaktor in der Therapie.
Ja, das ist sie auch. Manchmal sagt die Berührung mehr als tausend Worte. Und sie
kann eine Gemeinschaft herstellen, etwas Tragendes haben und dem anderen Sicherheit
geben.
Nicht die Aktion ist die Leistung der Therapeuten, sondern die Interaktion.
Vielen jüngeren Therapeuten fällt gerade zu Beginn der Berufslaufbahn eine Abgrenzung
zu den Patienten schwer.
Das ist mit ein Grund, warum ich nicht gerne von Empathie spreche. Denn es geht nicht
darum, zusammen mit dem anderen in einen gemeinsamen Flow einzumünden, sondern professionell
vorzugehen. Das heißt, ich muss zwar verstehen, wie es dem anderen geht, und das auch
nachempfinden können, darf mich aber nicht mitreißen lassen. Als Professioneller muss
ich immer über den Dingen stehen. Ich muss immer weiter sehen können, als der andere
in seiner Situation vielleicht fähig ist. Das eigentlich Professionelle in der Therapie
besteht darin, zwar mitzufühlen, aber zugleich Distanz zu wahren vor dem Gefühl des
anderen. Sie nennen es Abgrenzung, ich würde eher sagen, Souveränität. Jaspers hat
es schön formuliert, indem er gesagt hat: „Mit Tränen in den Augen kann man nicht
gut operieren.“ Professionell ist ein Ergo- oder Physiotherapeut, wenn er jeden behandeln
kann. Sympathie und Antipathie dürfen keine Rolle spielen.
Sie haben hierzu mal geäußert, dass es nicht optimal ist, Angehörige zu behandeln,
weil man womöglich nicht souverän bleiben kann.
So ist es. Ein professioneller Therapeut muss souverän bleiben können. Das heißt,
er darf sich nicht zu sehr emotional verstrickt haben. Ab dem Moment, wo der Therapeut
über seine Probleme und Gefühle spricht, hört er auf, Therapeut zu sein.
Das ist eine große Herausforderung.
Ja, aber der Heilberuf hat die zentrale Aufgabe, seiner Zielsetzung des Helfen-Wollens
treu zu bleiben. Der Professionelle macht nur das, was wirklich sinnvoll ist. Alles
andere muss er ablehnen. Nur so kann er der Sache treu bleiben. Deswegen muss ein
Therapeut unkorrumpierbar sein. Unkorrumpierbar durch Geld und Sachgeschenke und auch
durch unrealistische Bitten des Patienten.
Es spielen aber doch immer Emotionen mit rein.
Ja, und die darf man auch nicht einfach wegpräparieren. Sie sind wichtig, müssen aber
kanalisiert werden. Therapeuten müssen die Emotionen für die Therapie nutzen, dürfen
sich ihnen aber nicht ausliefern. Früher dachte man, man darf keine Emotionen haben.
Das finde ich nicht richtig. Man darf sie schon haben, aber man muss über ihnen stehen
können.
Das Gespräch führte Martin Huber.