Krankenhaushygiene up2date 2020; 15(01): 3-6
DOI: 10.1055/a-0971-7059
Editorial

Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie[*]

Renate Ziegler

Wir hatten vor 25 Jahren eine gute Theorie: Surveillance kann die Häufigkeit nosokomialer Infektionen reduzieren.

Unzweifelhaft brauchte es eine gute Theorie, denn trotz des antiken „Primum nil nocere“, trotz Semmelweisʼ „Das Morden muss aufhören“ oder Eugen Roths Galgenhumor „Das ist der Krankenhäuser Sinn, Dass man – wennʼs geht – gesund wird drin. Doch wenn man's ist: dann schnell heraus! Ansteckend ist das Krankenhaus.“, waren die Folgen von Krankenhausinfektionen für die Patienten und für die Ökonomie nicht zu übersehen.

Die Theorie war nicht ganz originär, es wurde die Methode des damaligen National Nosocomial Infections Surveillance System (NNIS) von den Centers for Disease Control and Prevention (CDC) USA übernommen und in Deutschland 1996 vom NRZ für Surveillance von nosokomialen Infektionen als KISS (Krankenhaus-Infektions-Surveillance-System) etabliert [1] [2]. Die Theorie besagte, dass die fortlaufende, systematische Erfassung, Analyse und Interpretation relevanter Daten zu nosokomialen Infektionen sowie deren Feedback an das ärztliche und pflegerische Personal nosokomiale Infektionen vermeiden können. Unter bestimmten Voraussetzungen (Personal und Expertise) können 30 % aller nosokomialen Infektionen vermieden werden [3]. Auch wenn keine unmittelbaren Maßnahmen erfolgen, also allein durch eine gesteigerte Aufmerksamkeit für das Problem kann ein positiver Effekt erzielt werden. Durchzuführen ist die Surveillance allerdings nach einer einheitlichen Methode von speziell dafür geschultem Personal in definierten Risikobereichen einer medizinischen Einrichtung oder für bestimmte Risikopatienten oder Risikoeingriffe.

Die ersten, die aus Überzeugung und Enthusiasmus diese Theorie in die Praxis umzusetzen begannen, wurden bald vom Gesetzgeber unterstützt, denn das Infektionsschutzgesetz machte 2001 diese Theorie verpflichtend und forderte 2011 auch das Hygienefachpersonal dazu ein [4]. Das war auch nötig, denn die Anwendungsbreite wurde immer umfangreicher. Es kam die Surveillance multiresistenter Erreger, des Antibiotikaverbrauches und der Händedesinfektions-Compliance dazu und der Zeitaufwand für die Umsetzung, selten bis ins Detail errechnet, wurde immer größer.

Diese Theorie wurde anfänglich nicht sonderlich begrüßt, vor allem nicht von der Gemeinschaft derjenigen, die die Expertise von Hygienefachpersonal erst schätzen lernen mussten und die nun mit sie betreffenden Infektionszahlen und mit Maßnahmen zu deren Vermeidbarkeit konfrontiert wurden. Diese Skepsis erscheint umso unverständlicher, als mit dieser Theorie die Möglichkeit einer selbstbestimmten internen Qualitätskontrolle und -optimierung gegeben war, im Gegensatz zu der – bei Nichteinhaltung mit empfindlichen Bußgeldern versehenen – externen Qualitätskontrolle [5].

Es gab allerdings auch Diskussionswürdiges an der Theorie:

  • leicht verwirrende Begrifflichkeiten wie die zu erfassende PRIMÄRE oder auch ZVK-assoziierte SEPSIS, die eine Bakteriämie OHNE Organbeteiligung mit einem zeitlichen (nicht kausalen) Bezug zu einem Gefäßkatheter bezeichnet, und nicht zu verwechseln ist mit der klassischen Definition und Entität der SEPSIS [6] [7]

  • die Diagnosekriterien der Katheter-assoziierten Harnwegsinfektion, die auch nach mehrfachen Änderungen – mit jeweils deutlichem Einfluss auf die Referenzdaten – am ehesten der Definition der asymptomatischen Bakteriurie entsprechen [8]

  • die unspezifischen Diagnosekriterien der Pneumonie – eine der häufigsten nosokomialen Infektionen – und der Einfluss subjektiver Interpretation auf stetig sinkende Pneumonie-Referenzraten [9] [10] [11]

  • der Einfluss des Rückgangs der stationären Verweildauer auf die Rate der postoperativen Wundinfektionen sowie die Repräsentativität von Referenzdaten bei Indikatoroperationen mit geringer Teilnehmerzahl [12]

  • die Transparenz mehrfach geänderter Erfassungskriterien und deren Auswirkung auf Referenzdaten und eigene Daten im Verlauf

  • Menschen machen Fehler, das heißt auch bei vorgegebenen einheitlichen Kriterien unterliegt die Erfassung einer gewissen Subjektivität des Erfassers [13]

* wird dem Philosophen Immanuel Kant, dem Physiker Gustav Robert Kirchhoff und dem Soziologen Kurt Lewin zugeschrieben




Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
11. März 2020

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Stuttgart · New York