Z Sex Forsch 2019; 32(03): 129-130
DOI: 10.1055/a-0968-4618
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wer oder was bestimmt das Geschlecht?

Peer Briken
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Publikationsdatum:
05. September 2019 (online)

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Das Thema Geschlecht beschäftigt uns in der Sexualforschung und in der Sexualmedizin auf vielfältige Weisen: In der Sex-Survey-Forschung gab es lange Zeit nur zwei Geschlechter: männlich und weiblich – wie in fast allen großen Bevölkerungsstichproben. Aber im Jahr 2019 können wir geschlechtliche Minderheiten in der Sex-Survey-Forschung nicht mehr einfach diskriminieren – indem wir sie unsichtbar machen – und wollen andere Wege für die Erfassung der geschlechtlichen Vielfalt gehen (vgl. [Döring 2013]; [Matthiesen et al. 2018]). In der Patient_innenversorgung sind trans Personen inzwischen eine große Gruppe, die in unterschiedlichen Kontexten beraten wird oder medizinische bzw. psychotherapeutische Unterstützung erhält. Hier entwickeln sich neue Standards (vor Kurzem wurden neue Leitlinien veröffentlicht; vgl. [Nieder und Strauß 2019]), neue Wege der Versorgung (z. B. in Form von internetbasierter Gesundheitsversorgung), es werden aber auch viele schwierige Kontroversen ausgetragen, wie bspw. die Frage nach pubertätsunterdrückenden Hormonbehandlungen bei Jugendlichen. Angesichts der Einführung einer weiteren positiven Geschlechtskategorie im deutschen Recht im Dezember 2018 und den gesellschaftlichen Kontroversen zu Varianten der Geschlechtsentwicklung bzw. Intergeschlechtlichkeit (vgl. [Hauck et al. 2019]; [Schweizer 2019], in diesem Heft) können sich auch diejenigen Institutionen, die auf der Norm der Zweigeschlechtlichkeit bestehen wollen, nicht mehr einfach aus der Debatte zurückziehen. Daher haben wir beschlossen, das Thema in der „Zeitschrift für Sexualforschung“ aufzugreifen und ihm ein eigenes Schwerpunktheft zu widmen.

Geboren wurde die Idee im Zug: Vor einiger Zeit fuhr ich mit Jorge Ponseti und Aglaja Stirn mehrere Stunden gemeinsam von einem Forschungstreffen nach Hause. Zunächst sprachen wir über die Behandlung von Transgender-Jugendlichen – vor allem über die genannte Kontroverse um pubertätsunterdrückende Hormonbehandlungen –, bis wir auf das breite Thema Geschlecht kamen. Jorge Ponseti entwickelte dabei seine Gedanken und es zeigten sich sofort sehr unterschiedliche Standpunkte, die in eine interessante Diskussion zwischen uns dreien mündeten. Dies veranlasste mich, Ponseti und Stirn zu bitten, ihre Position schriftlich auszuarbeiten und als Aufschlag für eine breit geführte Debatte in der „Zeitschrift für Sexualforschung“ zur Verfügung zu stellen. Beide entwarfen einen umfangreichen Text und erklärten sich freundlicherweise einverstanden, dass wir diesen durch ausgewählte Kolleg_innen kommentieren lassen.

So können wir in diesem Heft nun eine spannende und hochkontroverse Debatte führen:

Da es durchaus deutlich formulierte Kritik an den Leitlinien (vgl. dazu im vorherigen Heft, [Nieder und Strauß 2019]) gab, baten wir zunächst Bernard Strauß (Jena) und Timo Nieder (Hamburg) um einen klinischen Kommentar. In der biologisch fundierten Debatte erschien uns durch Heinz-Jürgen Voß (Merseburg) ein aufschlussreicher Kontrapunkt gewährleistet zu sein. Robin Bauer (Stuttgart) analysiert die Arbeit wissenschaftstheoretisch und die Soziologin Paula-Irene Villa (München) aus der Perspektive der Gender Studies.

Die Herausgebenden der „Zeitschrift für Sexualforschung“ sind allen Beteiligten dankbar, dass sie sich einer solchen Debatte stellen und damit die Heterogenität aktueller Positionen zum Thema Geschlechter darstellen, aber auch den klinischen Bezug zum Thema Transgender eröffnen. Ponseti und Stirn wird in Heft 1/2020 Gelegenheit für eine Replik auf die bisherigen Kommentare gegeben. Einstweilen wünschen wir den Lesenden der „Zeitschrift für Sexualforschung“ eine interessante Lektüre und einen schönen Herbst.

Peer Briken