Rofo 2019; 191(S 02): S109-S111
DOI: 10.1055/a-0943-1083
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Kinderschutz-Leitlinie AWMF S3(+) (ID-Nr. 20123)

M. Born
Radiologische Klinik der Universität Bonn – Kinderradiologie Universitätskinderklinik
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Korrespondenzadresse

M. Born
Radiologische Klinik der Universität Bonn – Kinderradiologie Universitätskinderklinik
Adenauerallee 119
53113 Bonn

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Publication Date:
20 August 2019 (online)

 

Ziel

Im Frühjahr dieses Jahres wurde eine umfangreiche S3-Leitlinie zum Kinderschutz fertiggestellt und bei der AWMF unter dem Titel „Kindesmisshandlung, – missbrauch, -vernachlässigung unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik (Kinderschutzleitlinie)“ mit der Registrierungsnummer 027-069 veröffentlicht (https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/KF_027-069k_Kinderschutz_2018-10.pdf). Der Vortrag stellt die wesentlichen Punkte und Neuerungen dieser Leitlinie in Bezug auf die bildgebende Diagnostik vor.


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Einleitung

Am „Runden Tisch der Kanzlerin“ zum Thema (Sexueller) Missbrauch von Kindern im Jahr 2011 wurde die Forderung nach einer umfangreichen Kinderschutzleitlinie gestellt. Dies war Anlass, ein solches Leitlinienprojekt in Angriff zu nehmen. Die Leitlinie entstand auf Initiative von Dr. I. Franke, Bonn, in Zusammenarbeit mit 79 Fachgesellschaften, Organisationen, Bundesbeauftragten und Bundesministerien und wurde durch das Bundesgesundheitsministerium finanziell gefördert. Sie umfasst in 28 Themengruppen nicht nur alle Belange des „medizinischen“ Kinderschutzes, sondern schließt Jugendhilfe und Pädagogik mit ein, weshalb sie als S3(+) -Leitlinie bezeichnet wurde. Die GPR war als eine der 7 anmeldenden Fachgesellschaften mit 2 Mandatsträgern an der Leitlinienentwicklung beteiligt (federführende Fachgesellschaft: DGKIM – Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin).


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Methoden

Aufgrund der Komplexität des Projektes wurde die Leitlinie in Absprache mit dem AWMF als fallbasierte Leitlinie durch das Kinderschutzleitlinienbüro erstellt (www.kinderschtzleitlinie.de). Aus 476 von den Fachgesellschaften eingereichten Kinderschutzfällen wurden 20 Fallvignetten gebildet, aus denen die Fragestellungen extrahiert und 144 primäre PICO-Fragen (https://researchguides.uic.edu/ebm) generiert wurden. Diese Fragen wurden auf 33 PICO-Fragen verdichtet, zu denen eine Literaturrecherche in 5 Datenbanken (Pubmed, CINHAL, Embase, PsycInfo, Eric) und in der Cochrane-Library erfolgte. Die Literatur wurde nach SIGN (https://www.guidelinesinpractice.co.uk/the-scottish-intercollegiate-guidelines-network-sign-/305547.article) bzw. AGREE II (Browers MC, Kho ME, Browman GP, et al. CMAJ 2010; 182(18): E839 – E842) durch jeweils 2 Mitarbeiter der Leitliniengruppe bewertet. Unter Berücksichtigung der bereits existierenden 4 Leitlinien zur Bildgebung bei Verdacht auf Kindesmisshandlung wurden hieraus in einem Delphi-Verfahren die Handlungsempfehlungen entwickelt und konsentiert.


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Ergebnisse

Die Fragestellungen an die radiologische Diagnostik wurden im Wesentlichen durch 2 PICO-Fragenkomplexe erfasst, zu denen primär 1298 bzw. 233 Literaturquellen gefunden wurden. Von diesen waren 18 bzw. 8 inhaltlich und qualitativ geeignet als Evidenzquellen für die Leitlinienerstellung und bilden die Basis der erstellten Handlungsempfehlungen.

Die wichtigsten Handlungsempfehlungen werden hier genannt. Diese betreffen das diagnostische Vorgehen bei Verdacht auf eine misshandlungsbedingte Schädel-Hirn-Verletzung und den Skelettstatus.

Spezielle Indikationen zur bildgebenden Diagnostik des Hirns werden durch Handlungsempfehlung 81 angegeben, die besagt, dass bei Kindern und Jugendlichen mit der Kombination von 2 oder mehr der folgenden Merkmale:

  • kein akzidentelles Trauma und zweifelhafte Anamnese

  • subdurale Blutung

  • zerebrale Diffusionsstörung

  • Schädelfraktur mit oder ohne intrakranielle Verletzung

  • Rippenfraktur/en

  • (metaphysäre) Fraktur/en der langen Röhrenknochen

  • zerebraler Krampfanfall

  • Apnoe

ohne Beschränkung auf ein bestimmtes Alter dem Verdacht auf eine misshandlungsbedingte Schädel-Hirn-Verletzung als Ursache nachgegangen werden SOLL.

Die Art der Diagnostik bei Verdacht auf Schädel-Hirn-Verletzung definieren die Handlungsempfehlungen 73 bis 75 sowie 76 und 78:

  • Besteht der Verdacht auf eine misshandlungsbedingte Schädel-Hirn-Verletzung und ist das Kind vital bedroht, so SOLL eine CT des Kopfes durchgeführt werden. Wenn sich hier Zeichen einer Misshandlung finden, so SOLL nach Stabilisierung des Kindes eine MRT von Kopf und Wirbelsäule erfolgen.

  • Ist das Kind nicht vital bedroht, so soll eine MRT des Hirns durchgeführt werden. Ergeben sich Hinweise auf eine Schädel-Hirn-Verletzung, so SOLL eine ergänzende MRT der WS durchgeführt werden.

  • Eine Ultraschalluntersuchung des Kopfes SOLL NICHT als einzige diagnostische Untersuchung bei Verdacht auf eine misshandlungsbedingte Schädel-Hirn-Verletzung durchgeführt werden.

  • Eine Sonografie des Schädels KANN bei Verdacht auf eine Schädelfraktur durchgeführt werden.

Die MRT des Hirns soll jeweils eine diffusionsgewichtete Sequenz beinhalten, sinnvollerweise auch eine Suszeptibilitäts-gewichtete Sequenz; hierfür liegt jedoch keine Evidenz vor.

Indikationen zur Diagnostik des Skeletts werden definiert durch die Handlungsempfehlungen 77 und 79: Hiernach SOLL bei fehlendem bezeugtem akzidentellem Trauma oder zweifelhafter Anamnese bei Kindern < 24 Monate mit intrakranieller Verletzung und einer Schädelfraktur oder allgemein bei Kindern mit subduraler Blutung, insbesondere mit dem Nachweis mehrerer subduraler Blutungen und/oder mit Zeichen einer zerebralen Diffusionsstörung und/oder einem Hirnödem in der Bildgebung, dem Verdacht einer körperlichen Misshandlung durch weitergehende strukturierte Diagnostik nachgegangen werden.

Die Skelettdiagnostik in Form des Skelettstatus wird definiert durch die Handlungsempfehlung 82: Das Röntgen-Skelett-Screening bei begründetem Verdacht auf körperliche Misshandlung eines Kindes SOLL umfassend und standardisiert erfolgen. Folgende Einzelaufnahmen SOLLEN durchgeführt werden:

  • Schädel a-p und seitlich,

  • Thorax a-p,

  • beide Ober- und Unterarme sowie beide Ober- und Unterschenkel a-p und

  • beide Hände und beide Füße a-p.

Falls keine Rippenfrakturen detektiert werden, SOLLEN

  • Röntgenschrägaufnahmen des Thorax links und rechts erfolgen.

Falls 1 oder mehrere Frakturen detektiert wurden, SOLLEN

  • Röntgenaufnahmen der Wirbelsäule seitlich und

  • von Becken und Hüften erfolgen.

Neu ist beim Skelettstatus zum einen, dass bei Kindern mit Verdacht auf eine körperliche Misshandlung bei negativem Skelettstatus ergänzende Schrägaufnahmen durchzuführen sind (starke Empfehlung). Diese Regelung löst die weichere Formulierung der bisher gültigen S1-Leitlinie ab, die „gegebenenfalls“ Schrägaufnahmen vorsah. Zum anderen wird aus Strahlenschutzgründen beim Skelettstatus auf die Anfertigung von Aufnahmen der Wirbelsäule und des Beckens abgesehen, da Frakturen von Wirbelsäule und Becken nur extrem selten als isoliertes und gleichzeitig okkultes Trauma bei Kindesmisshandlung gefunden werden. Werden jedoch bei der Primärdiagnostik oder beim Skelettstatus 1 oder mehrere Frakturen gefunden, so ist der Skelettstatus um die Beckenaufnahme und die seitliche Wirbelsäulenaufnahme zu ergänzen. Auf diese Weise wird bei einem sehr großen Anteil der Kinder, bei denen aufgrund des Misshandlungsverdachts ein Skelettstatus angefertigt wird, die Strahlendosis um deutlich mehr als die Hälfte reduziert, ohne dass jedoch andererseits die diagnostische Aussagekraft des Skelettstatus eingeschränkt wird.

Die Skelettszintigrafie wird wegen der mit ihr verbundenen relativ hohen Strahlenexposition nicht empfohlen. Sie wird jedoch aufgrund der vorliegenden Evidenz noch als KANN-Diagnostik genannt.

Für die Ganzkörper-MRT erlaubt die Studienlage derzeit keine evidenzbasierte Handlungsempfehlung. Zum einen ist die Sensitivität der MRT in der Detektion misshandlungsspezifischer Verletzungen wie metaphysärer Frakturen oder Rippenfrakturen gering, sodass die Ganzkörper-MRT den Skelettstatus nicht ersetzen kann, zum anderen existieren keine Studien, die einen systematischen Einsatz der Ganzkörper-MRT bei Verdacht auf Kindesmisshandlung zur Detektion okkulter, nicht skelettaler Verletzungen untersucht haben oder ihren Nutzen hierfür belegen.


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Interessenkonflikt

Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


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M. Born
Radiologische Klinik der Universität Bonn – Kinderradiologie Universitätskinderklinik
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