Dass Natur positive Auswirkungen auf unsere Gesundheit hat, wird nicht nur von Millionen
von Menschen durch das eigene Erleben immer wieder bestätigt, sondern ist mittlerweile
auch durch entsprechende wissenschaftliche Studien gut belegt [2]–[4],[12], [13]. Hierzu wird in der Regel ein Maß für die Qualität der Wohnumgebung im Hinblick
auf Grünflächen, Parks oder Bäume verwendet, entweder der Prozentsatz solcher Grünflächen
(im Englischen spricht man von „green space“) am gesamten Wohngebiet bzw. am gesamten
Stadtgebiet (wenn es um die Bedeutung von Natur im urbanen Bereich geht) [5] oder die Entfernung der Wohnung zu solchen Flächen, also nicht deren Größe, sondern
deren Erreichbarkeit [8].
Fragt man nach den gesundheitlichen Auswirkungen von Natur, so liegt es jedoch nahe,
die in der Natur verbrachte Zeit direkt zu messen, um die angemessene „Dosis“ von
Natur zu ermitteln [10], [11]. Schließlich fahren viele Menschen, die in der Stadt leben, ins Grüne. Sie machen
sich also aktiv auf in die Natur, vor der sie möglicherweise relativ weit entfernt
leben und wohnen. Man kann zwar davon ausgehen, dass Menschen, die im Grünen oder
in dessen Nähe wohnen, auch mehr Zeit darin verbringen; um jedoch die Auswirkungen
von Natur direkt zu messen, ist die Erfassung der in ihr während der vergangenen 7
Tage verbrachten Zeit letztlich eine unverzichtbare unabhängige Variable.
Die Methodik ist im Grunde die gleiche wie die bei der Erforschung der Auswirkungen
körperlicher Aktivität auf die Gesundheit des Menschen [1]. Auch hierbei wird die täglich bzw. wöchentlich mit körperlicher Bewegung verbrachte
Zeit mit der subjektiv berichteten Gesundheit bzw. dem Wohlbefinden in Verbindung
gebracht. Man fragt nicht „wie weit leben sie von einem Sportplatz entfernt?“, sondern
„wie viele Minuten verbringen sie jede Woche mit Joggen?“
Britische Autoren berichteten im Juni 2019 die Ergebnisse einer großen repräsentativen
Studie zur in der Natur verbrachten Zeit und der Gesundheit bzw. dem Wohlbefinden
von 19 806 erwachsenen Engländern (gemessen in den Jahren 2014–2016). Die Naturexposition
wurde in Minuten pro Woche erfasst und wie folgt kategorisiert: 0 min (keine), 1–59
min, 60–119 min, 120–179 min, 180–239 min, 240–299 min sowie > 300 min. Die Gesundheit
und das Wohlbefinden der Teilnehmer wurden jeweils dichotom als „gut“ bzw. „schlecht“
erfasst. Zudem wurden die folgenden zusätzlichen Variablen erfasst: Grad der Verstädterung,
Begrünung der Wohnumgebung, Grad der Qualität der Umgebung[
1
], Feinstaubbelastung, Geschlecht, Alter, sozioökonomischer Status, Grad der Behinderung,
körperliche Aktivität, Arbeitslosigkeit, ethnische Zugehörigkeit, Anzahl der Kinder
im Haushalt sowie Hundebesitz.[
2
]
Wie die Ergebnisse der Studie zeigten, war eine Aufenthaltsdauer von wöchentlich 2
oder mehr Stunden in der Natur mit einer signifikanten Verbesserung der Gesundheit
und (in etwas geringerer Ausprägung) des Wohlbefindens verbunden. In den [
Abb. 1
] und [2] sind für die in Stunden klassifizierten wöchentlichen Aufenthaltsdauern, jeweils
im Vergleich zu keinem Aufenthalt in der Natur ermittelten Wahrscheinlichkeiten besserer
Gesundheit und besseren Wohlbefindens (Mittelwerte und 95 %-Vertrauensinterval) zu
sehen.
Abb. 1 Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, jeweils im Verhältnis zu „0 Minuten“, guter oder
sehr guter Gesundheit als Funktion der in den letzten 7 Tagen in der Natur verbrachten
Zeit in Minuten (nach Daten aus [15], Fig. 1a).
Abb. 2 Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, jeweils im Verhältnis zu „0 Minuten“, großen Wohlbefindens
als Funktion der in den letzten 7 Tagen in der Natur verbrachten Zeit in Minuten (nach
Daten aus [15], Fig. 1b).
Die abgebildeten Daten entstammen einer modellierten Analyse, die auch die erwähnten
Kontrollvariablen mit einbezog. Bei einfacher Analyse wurde der Effekt der Natur auf
Gesundheit und Wohlbefinden schon ab einer Stunde pro Woche signifikant. Nahm man
jedoch die weiteren (zum großen Teil gut bekannten) Einflussfaktoren hinzu, hatte
der Aufenthalt in der Natur erst ab 2 Stunden wöchentlich einen signifikanten Effekt.
Interessanterweise nahm dieser Effekt mit einer weiteren Steigerung der Zeit in der
Natur nicht zu, sondern blieb bis 5 Stunden wöchentlich etwa konstant, um bei noch
mehr Stunden wieder etwas abzunehmen.
Dieses Ergebnis steht in bemerkenswertem Kontrast zur Tatsache, dass 58,9 % der Befragten
(n = 11 668) angaben, in den letzten 7 Tagen gar nicht in der Natur gewesen zu sein.
Betrachtet man den Effekt von 2–3 Stunden Zeit pro Woche in der Natur (verglichen
mit keiner Zeit in der Natur) im Vergleich zum Effekt anderer Einflussfaktoren, so
wird zudem deutlich, dass die Zeit in der Natur auf die Gesundheit einen ähnlich großen
positiven Einfluss hat wie ein hoher sozioökonomischer Status, die Qualität der Wohnumgebung
oder sportliche Aktivitäten ([
Abb. 3
]). Im Hinblick auf das Wohlbefinden lagen die Dinge ähnlich: Die Zeit in der Natur
wirkte sich auf das Wohlbefinden in einem Maße aus, das vergleichbar war mit den Auswirkungen
der Begrünung der Wohnumgebung (höchstes versus niedrigstes Quintil), der Qualität
der Wohnumgebung (höchstes versus niedrigstes Quintil) und sportlicher Aktivität (Ausmaß
der sportlichen Aktivität entsprechend den Empfehlungen von Gesundheitsexperten versus
nicht entsprechend). Nur der Beziehungsstatus (nicht alleinlebend) und ein hoher sozioökonomischer
Status hatten einen noch größeren Einfluss auf das Wohlbefinden als die Zeit in der
Natur ([
Abb. 4
]).
Abb. 3 Erhöhung der Wahrscheinlichkeit guter oder sehr guter Gesundheit als Funktion von
wöchentlich 2–3 Stunden versus 0 Stunden Zeit in der Natur (ganz links) im Vergleich
zu anderen gemessenen Einflussfaktoren wie der Begrünung der Wohngegend, deren Qualität,
des Treibens von Sport gemäß den Empfehlungen der WHO, dem sozioökonomischen Status
und dem Leben als Paar oder als Single (nach Daten aus [15], Fig. 3a).
Abb. 4 Erhöhung der Wahrscheinlichkeit hohen Wohlbefindens als Funktion von wöchentlich
2–3 Stunden versus 0 Stunden Zeit in der Natur (ganz links) im Vergleich zu anderen
gemessenen Einflussfaktoren wie der Begrünung der Wohngegend, deren Qualität, des
Treibens von Sport gemäß den Empfehlungen der WHO, dem sozioökonomischen Status und
dem Leben als Paar oder als Single (nach Daten aus [15], Fig. 3b).
Weitere Analysen zeigten, dass die Effekte der Natur für ältere (über 65 Jahre) und
jüngere (unter 65 Jahre) Menschen gleichermaßen galten, ebenso für Männer wie für
Frauen und für Menschen mit hohem oder niedrigem sozioökonomischem Status bzw. mit
oder ohne Behinderung. Ob man 1-mal pro Woche 2 Stunden oder 2-mal eine Stunde oder
3-mal 40 Minuten in die Natur ging, hatte ebenfalls keinen Einfluss auf die Wirkung.
Die Autoren gehen insgesamt von einer Art Schwelle für die Wirkung von Natur auf den
Menschen aus, die bei etwa 2 Stunden liegt; mehr bringt nicht wirklich viel mehr,
sagen sie mit Blick auf die Verteilung der gemessenen Werte. Die Größenordnung des
positiven Effekts kann sich sehen lassen, liegt er doch im Bereich der gut bekannten
positiven Auswirkungen von hohem sozioökonomischem Status bzw. ausreichender sportlicher
Aktivität.
Weiterhin diskutieren sie ihre Ergebnisse wie folgt: „Dass die ‚120-Minuten-Schwelle’
auch bei denjenigen Teilnehmern zu finden war, die in wenig begrünten Gegenden lebten,
bestätigt zunächst einmal die Bedeutung der direkten Messung des erholsamen Kontakts
mit der Natur. Wann immer möglich, sollte diese Messung erfolgen anstatt sich lediglich
auf die Messung der Nähe der Wohnung zur nächsten begrünten Fläche als Annäherung
an jedwede Naturexposition eines Menschen zu verwenden. Die Leute machen Ausflüge
jenseits ihrer lokalen Wohngegend, um erholsame Naturerlebnisse zu erreichen, und
auch unsere eigenen Daten zeigen, dass diejenigen Teilnehmer, die in den am wenigsten
begrünten Wohngegenden lebten mit einer höheren Wahrscheinlichkeit mehr als 120 Minuten
wöchentlich in der Natur verbrachten als diejenigen, die in grüneren Wohngegenden
lebten. Fehlende lokale Gelegenheiten stellen mithin keine Barriere für das Erleben
von Natur dar. Die Tatsache, dass sich die ‚Schwelle’ auch bei Menschen mit Behinderung
oder chronischen Krankheiten zeigte, legt nahe, dass der in unseren Daten gefundene
positive Zusammenhang nicht einfach darauf zurückzuführen ist, dass gesündere Leute
öfters in die Natur gehen“ [15].[
3
]
Die Autoren diskutieren ferner den Einwand, dass der positive Effekt der Natur auf
das Konto von körperlicher Ertüchtigung, die oftmals in der Natur erfolgt, gehen könnte.
Zwar haben sie „Sport während der letzten 7 Tage“ separat erfasst und konnten so die
Effekte dieser Variable aus dem Effekt von „Natur während der letzten 7 Tage“ statistisch
„herausrechnen“, und sie konnten auch zeigen, dass die „Schwelle von 120 Minuten pro
Woche, ab welcher der Effekt eintritt, auch für die unsportlichen Leute galt. Aber
völlig ausschließen konnten die Autoren den Zusammenhang von Natur und Sport nicht,
wie sie selbst zugeben: „We were unable to fully untangle these issues“ [15].
Sie geben jedoch mit Recht zu bedenken, dass die japanischen Untersuchungen zum dort
sehr beliebten „Waldbaden“, dem Verbringen von Zeit im Wald ohne jegliche sportliche
Aktivität, positive Auswirkungen auf die Gesundheit klar gezeigt haben.[
4
] Einen psycho-physischen Wirkungsmechanismus (u. a. die Erniedrigung von Blutdruck,
Puls und Stresshormonen) hat die Natur also durchaus, und eine Minimaldosis nach der
vorliegenden Studie auch. Dass wir Menschen uns dennoch zunehmend von der Natur entfernen,
ist für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden ungünstig. Man kann nur hoffen, dass
sich der Trend zum Naturdefizit-Syndrom [6] langfristig wieder umkehrt.