Schlüsselwörter
Halswirbelsäule - Lendenwirbelsäule - Brustwirbelsäule - Traumatologie - Pädiatrie
Abkürzungen
AO:
Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthese
BWS:
Brustwirbelsäule
HWK:
Halswirbelkörper
HWS:
Halswirbelsäule
LWS:
Lendenwirbelsäule
SCIWORA:
Spinal Cord Injury without radiologic Abnormalities
Epidemiologie und Ätiologie
Epidemiologie und Ätiologie
Wirbelsäulenverletzungen werden in der Literatur mit 1 – 4% aller Frakturen bei Kindern
und Jugendlichen angegeben. Bei Kindern unter dem 10. Lebensjahr ist am häufigsten
die Halswirbelsäule (HWS) betroffen, wovon zwei Drittel dieser Verletzungen in der
oberen HWS lokalisiert sind [1]. Im Vergleich zum Erwachsenen ist die Mortalität im Kindesalter erhöht.
Verletzungen der Wirbelsäule bedürfen meist einer massiven Gewalteinwirkung. In rund
zwei Drittel der Fälle zeigen sich relevante Begleitverletzungen des Schädels, des
Thorax oder der Extremitäten [2]. Erwartungsgemäß finden sich neurologische Ausfälle eher bei Verletzungen der HWS,
werden aber insgesamt in der Literatur eher selten angegeben. So betreffen nur etwa
2 – 8% aller Rückenmarkverletzungen Kinder.
Die Unfallursache ist abhängig vom Alter. Bis zum 2. Lebensjahr dominieren Geburtstraumata,
ab dem 3. Lebensjahr sind Stürze, Verkehrsunfälle, aber auch Kindesmisshandlungen
führend, wohingegen bei den Adoleszenten meist Sport- und Verkehrsunfälle die Ursache
sind.
Anatomische Besonderheiten der kindlichen Wirbelsäule
Anatomische Besonderheiten der kindlichen Wirbelsäule
Merke
Aufgrund der anatomischen Besonderheiten der kindlichen Wirbelsäule sind sowohl für
die Diagnostik als auch Therapie Kenntnisse über die anatomischen Besonderheiten der
wachsenden Wirbelsäule obligat.
Ossifikation der Wirbelkörper
Um die Interpretation von Apophysen als Frakturen zu verhindern, müssen die Grundsätze
der Ossifikation der Wirbelkörper bekannt sein.
So weist der Atlas 3 Ossifikationszentren auf. Um das 3. Lebensjahr herum erfolgt
der dorsale, der ventrale Bogenschluss hingegen erst um das 7. Lebensjahr herum. Der
Axis weist 4 Ossifikationszentren auf. Der Dens ist vom Wirbelkörper durch eine dentozentrale
Synchondrose getrennt, die normalerweise zwischen dem 5. und 7. Lebensjahr verschwindet
([Abb. 1]).
Abb. 1 Synchondrosen und Ossifikationszentren des 2. Halswirbelkörpers.
a Frontale Ansicht.
b Seitliche Ansicht.(Quelle: Nau C, Rose S, Laurer H et al. Wirbelsäulenverletzungen
im Kindesalter. Orthopädie und Unfallchirurgie up2date 2010; 5: 23 – 38)
Merke
Die Synchondrose des Dens kann durchaus auch über Jahre als röntgentransparente Struktur
bestehen und wird häufig als Fraktur fehlinterpretiert.
Die Fusion mit dem Ossifikationszentrum an der Densspitze erfolgt erst mit dem 12. Lebensjahr.
Kaudal des 3. Wirbelkörpers verknöchern alle Wirbelkörper uniform. Ein Ossifikationszentrum
entsteht im Wirbelkörper, zwei weitere in den Wirbelbögen. Die Ossifikation erfolgt
zunächst nach kranial und kaudal und ab dem 2. Lebensjahr nach vorn und in die Breite.
Ab dem 5. bis 6. Lebensjahr ossifiziert die ventrale neurozentrale Synchondrose. Der
Spinalkanal hingegen schließt sich variabel (zervikal: 6. – 7. Lebensjahr; thorakal:
7. – 9. Lebensjahr; lumbal: 9. – 10. Lebensjahr).
In der zervikalen und thorakalen Wirbelsäule erscheinen während der Adoleszenz fünf
weitere sekundäre Ossifikationszentren:
-
an den Spitzen der Dornfortsätze (Fusion mit 25 Jahren),
-
an den Querfortsätzen (Fusion in der Pubertät) und
-
an den Grenzen zu den oberen und unteren Endplatten (sog. Ringapophyse; [Abb. 2]).
Abb. 2 Ossifikation der Apophysen ab dem 6. Lebensjahr.
a Zunächst bildet sich die Wirbelapophyse ringförmig aus (a1), verschmilzt aber noch
nicht (a2).
b Wenn Apophyse und Wirbelkörper verschmelzen, ist die Skelettreife vervollständigt.(Quelle:
Nau C, Rose S, Laurer H et al. Wirbelsäulenverletzungen im Kindesalter. Orthopädie
und Unfallchirurgie up2date 2010; 5: 23 – 38)
Form der Wirbelkörper
Die physiologische anteriore Keilform der Wirbelkörper zeigt sich typischerweise bei
jüngeren Kindern und sollte nicht mit Frakturen verwechselt werden ([Abb. 3]).
Abb. 3 Halswirbelsäule bei einem 35-monatigen Mädchen.
a Seitliches Röntgenbild mit typischer Keilform der Wirbelkörper.
b In der Vergrößerung zeigt sich eine physiologische Pseudoluxation zwischen 2. und
3. Halswirbelkörper von < 5 mm.
c Bei älteren Kindern (13-jähriges Mädchen) bestehen die Keilform der Wirbelkörper und
die Pseudoluxation nicht mehr.(Quelle: Kreinest M, Vetter SY, Grützner PA et al. Wirbelsäulenverletzungen
im Kindesalter – Konzepte zu Diagnostik und Therapie. OP-Journal 2018; 34: 261 – 268)
Merke
90% der Kinder bis zu einem Alter von 2 Jahren zeigen ein physiologisches Auseinanderweichen
der Massae laterales des Axis bis 6 mm.
Bandapparat der Wirbelsäule
Auch die ligamentären und muskulären Besonderheiten sind zu beachten: Beim Kleinkind
artikuliert der Kopf mit dem Atlas horizontal. Die horizontalen und noch flachen Facettengelenke
werden hier von einem schwachen Muskelapparat mit laxen Bandstrukturen bei großer
Kopf-Körper-Relation gehalten. Das Lig. cruciforme atlantis verbindet Dens axis und
vorderen Atlasbogen. Sekundäre Stabilisatoren sind die paarigen Ligg. alaria, die
vom seitlichen Dens zum Foramen magnum, medial zu den Okzipitalkondylen und zum vorderen
Atlasbogen ziehen. Mit zunehmendem Wachstum vergrößern sich die Neigungswinkel der
Gelenkflächen, wodurch eine höhere knöcherne Stabilität resultiert. Zudem nimmt auch
die muskuloligamentäre Stabilität zwischen dem 8. und 10. Lebensjahr zu.
Merke
Aufgrund der größeren Beweglichkeit der Halswirbelsäule bei Kindern bis zum 8. Lebensjahr
können häufig physiologische Pseudoluxationen zwischen den ersten beiden Halswirbelkörpern
(atlantodentaler Abstand ≤ 5 mm) sowie zwischen dem 2. und dem 3. Halswirbelkörper
([Abb. 3]) beobachtet werden.
Diagnostik
Anamnese
Die Anamnese gibt nach Unfällen wichtige Hinweise auf die Verletzungsart. Durch die
Bewertung des Unfallmechanismus sind Rückschlüsse auf die Wahrscheinlichkeit einer
Wirbelsäulenverletzung möglich, zudem werden vorangegangene Operationen oder Vorerkrankungen
erfragt.
Klinische Untersuchung
Grundvoraussetzung für die Diagnosestellung ist eine umfassende körperliche Untersuchung
des Kindes. Die Inspektion auf Verletzungszeichen, Verformungen und das Abtasten (Druck
und Klopfschmerz, Stufen, Versetzungen, tastbare Lücken zwischen Dornfortsätzen, Hämatome,
Kontusionen, Muskelhartspann) des gesamten Rückens vervollständigen die Basisuntersuchung
[3]. Ist die Palpation der gesamten Wirbelsäule schmerzfrei, kann die Prüfung der Beweglichkeit
folgen. Gerade bei den häufigen Verletzungen der oberen HWS im Kleinkindalter muss
eine Verweigerung der Beweglichkeit ernst genommen werden. Zudem kann sich eine Schiefhaltung
oder Rotationsfehlstellung des Kopfes zeigen.
Merke
Torticollis traumaticus bezeichnet eine Fehlstellung des Halses aufgrund eines akuten
Traumas. Ursächlich kann z. B. eine rotatorische atlantoaxiale Dislokation sein.
Auch muss eine orientierende neurologische Untersuchung der Sensibilität, der Motorik
und der Reflexe erfolgen. Ein segmentbezogenes neurologisches Defizit kann Hinweise
auf das Vorliegen einer Rückenmark-, Nervenwurzel- oder Plexusverletzung geben. Die
entsprechende Höhe sowie das Ausmaß der Läsion können eingrenzend bestimmt werden.
Beim bewusstlosen Kind bzw. Kleinkind ist eine Wirbelsäulenverletzung klinisch oft
schwer fassbar. Dennoch können ein schlaffer Muskeltonus, insbesondere auch des Analsphinkters,
die reine Bauchatmung, eine fehlende Schmerzabwehr und ein Priapismus auf eine Querschnittlähmung
hinweisen.
Bildgebende Diagnostik
Röntgen
Zur Standarddiagnostik bei Verdacht auf eine Wirbelfraktur im Wachstumsalter gehört
beim Monotrauma, auch wegen der guten Verfügbarkeit, zunächst die Röntgendiagnostik
des entsprechenden Wirbelsäulenabschnittes in 2 Ebenen. Im Bereich der HWS sollte
bei älteren Kindern zusätzlich eine Zielaufnahme des Dens axis durchgeführt werden.
Bei der Interpretation der angefertigten Röntgenbilder sollten die in der Infobox
aufgeführten Details beachtet werden.
Praxis
Interpretation der HWS-Röntgenbilder
-
Würdigung der physiologischen Knochenkerne und Synchondrosen ([Abb. 1], [Abb. 2])
-
Würdigung der Verschmelzung der Knochenkerne und des Verschlusses der Synchondrosen
-
Beachtung der besonderen und leicht zu übersehenden Verletzungsmuster im Bereich der
Synchondrosen und Apophysen
-
Beachtung der initial physiologischen Keilform der Wirbelkörper ([Abb. 3])
-
Beachtung des physiologischen Stufenphänomens bei HWK 2/HWK 3 ([Abb. 3])
-
Beachtung des möglichen physiologischen Auseinanderweichens der Massae laterales des
Atlas bis zum Alter von 2 Jahren in der Frontalebene
-
Beachtung des normalen Atlas-Dens-Intervall von ≤ 4 mm (atlantoaxiale Pseudoluxation)
-
Beachtung des normalen Basion-Dens-Intervalls von ≤ 5 mm (s. u.: [Abb. 7])
Besteht aufgrund der klinischen Untersuchung der begründete Verdacht auf eine Wirbelsäulenverletzung,
kann auch über die Durchführung einer kernspintomografischen Bildgebung als initiale
bildgebende Diagnostik nachgedacht werden.
Computertomografie (CT)
Merke
Bei Mehrfachverletzungen, komplexem Verletzungsmechanismus oder kreislaufinstabilen,
intubierten Kindern wird eine komplette CT-Abklärung (Schädel, HWS und thorakoabdominal)
mit Kontrastmittel durchgeführt.
Verbesserte Low-Dose-Protokolle können hier für eine Reduzierung der Strahlenbelastung
sorgen [6]. Zum Ausschluss von Gefäßverletzungen ist an die angiografische Darstellung der
A. vertebralis zu denken, vor allem bei Fraktureinstrahlung in das Foramen transversarium
oder Facettengelenkfrakturen [6].
Die Computertomografie ist darüber hinaus bei Kompressionsfrakturen zur Planung einer
operativen Therapie hilfreich. Besteht im konventionellen Röntgenbild der Verdacht
auf eine Luxation, ist eine CT mit multiplanarer Rekonstruktion und ggf. die dreidimensionale
Darstellung notwendig.
Kernspintomografie (MRT)
Diskoligamentäre Verletzungen lassen sich in der MRT am sichersten detektieren. Auch
zeigen sich Ödeme in den Wirbelkörpern, welche die Diagnose von seriellen Kompressionsfrakturen
([Abb. 4 a]) zulassen. Allerdings handelt es sich bei der MRT um eine sehr aufwendige Untersuchung,
da sie oft nur in Narkose erfolgen kann.
Abb. 4 Die kernspintomografische Bildgebung bei Wirbelsäulenverletzungen im Kindesalter.
a Serielles Knochenmarködem in den Brustwirbelkörpern 7 – 10 (Pfeile) bei einem 4-jährigen
Mädchen.
b Ganzkörper-MRT zur initialen Bildgebung nach Kindesmissbrauch bei einem 11 Monate
alten Jungen.
Merke
Die MRT ist bei Vorliegen neurologischer Symptome eine Standarduntersuchung, darf
aber bei eindeutigen Befunden, wie etwa einer knöchernen fragmentbedingten Spinalkanalverlegung,
die indizierte operative Intervention nicht verzögern.
In Ausnahmefällen kann bei Kindern die MRT bei unklaren Unfallmechanismen auch als
initiale Bildgebung herangezogen werden ([Abb. 4 b]). So kann die Strahlenbelastung reduziert werden.
Eine Rückenmarkverletzung ohne Nachweis von Veränderungen in der Bildgebung wird als
SCIWORA („spinal cord injury without radiologic abnormalities“) bezeichnet. Aufgrund
der verbesserten MRT-Bildgebung kann allerdings immer öfter eine ursächliche Pathologie
diagnostiziert werden [7].
Dynamische Röntgenuntersuchung
Da sowohl das Röntgenbild als auch die Schnittbildgebung eine statische Momentaufnahme
wiedergibt, kann bei verbleibender Unklarheit bzw. vorliegenden Verletzungen die dynamische,
ärztlich geführte Durchleuchtung Sicherheit über eine eventuelle Instabilität bzw.
deren Ausmaß geben. Auf diese Weise können gerade bestehende Instabilitäten der Wirbelsäule
von Pseudoluxationen abgegrenzt werden ([Abb. 5]).
Abb. 5 Durchleuchtung der Halswirbelsäule eines 12-jährigen Mädchens Neutralstellung (a), Extension (b) und Flexion (c) mit Instabilität zwischen 4. und 5. Halswirbelkörper.
a Neutralstellung.
b Extension.
c Flexion.(Quelle: Kreinest M, Vetter SY, Grützner PA et al. Wirbelsäulenverletzungen
im Kindesalter – Konzepte zu Diagnostik und Therapie. OP-Journal 2018; 34: 261 – 268)
So kann z. B. ein Ventralversatz eines Wirbelkörpers gegenüber dem nächsten eine knöcherne
oder ligamentäre Verletzung vermuten lassen. Allerdings kann ein Ventralversatz von
≤ 3 mm vor allem in der oberen HWS im Kindesalter noch physiologisch sein [4]. Diese Pseudosubluxation wird zumeist in den Segmenten HWK 2/3 und HWK 3/4 gesehen.
Normalerweise zeigt sich diese anteriore Subluxation sowohl in neutraler Position
als auch in Flexion und reduziert sich bei Extension [5].
Cave
Statische Funktionsaufnahmen in Flexion und Extension ohne Führung des Untersuchers
werden explizit nicht empfohlen.
Fallbeispiel
Ein 13-jähriges Mädchen stellt sich nach einem Pferdesturz in der Notfallambulanz
vor. Die Anamnese ergibt einen Sturz mit dem Kopf auf den Boden. Die junge Patientin
klagt über Schmerzen im Bereich der oberen Halswirbelsäule und über einige Schürfwunden
an den Extremitäten. Die klinische Untersuchung zeigt keine neurologischen Defizite.
In der initialen radiologischen Diagnostik ist eine gering dislozierte Fraktur des
Dens axis zu finden ([Abb. 8]). Die CT-Bildgebung bestätigt diesen Befund. Es erfolgen die geschlossene Reposition
und die Anlage eines Halo-Fixateurs ([Abb. 6 b]) in Narkose, was zur kompletten Ausheilung führt ([Abb. 3 c]).
Verletzungen der oberen HWS
Verletzungen der oberen HWS
Okzipitale Kondylenfrakturen
Okzipitalkondylenfrakturen sind sehr selten bei Kindern und werden oft nur im Rahmen
von Feinschicht-CT-Aufnahmen diagnostiziert. Nach Anderson und Montesano unterscheidet
man 3 Typen:
In der Regel ist eine kurze Ruhigstellung mittels Zervikalorthese ausreichend. Bei
größerer Asymmetrie der Gelenkflächen bzw. bei größerer Dislokation ist eine Fixierung
mittels Halo-Fixateur notwendig ([Abb. 6]).
Kreuzt die Fraktur das Neuroforamen der Schädelbasis, können durch eine sekundäre
Kompression nach Kallusbildung [8] neurologische Defizite an Hirnnerven auch nach längerer Latenz von bis zu 3 Monaten
auftreten.
Abb. 6 Die Therapie von Verletzungen der Halswirbelsäule erfolgt im Kindes- und Jugendalter
häufig im Halo-Fixateur.
a 8-jähriger Junge.
b 13-jähriges Mädchen.(Quelle: Jarvers JS, Völker A, von der Höh N et al. Verletzungen
der Halswirbelsäule im Kindes- und Jugendalter. Die Wirbelsäule 2017; 1: 171 – 182)
Atlantookzipitale Instabilität
Atlantookzipitale Verletzungen werden besonders durch starke Dezelerationstraumata
ausgelöst. Bei kleinen Kindern kommt es durch den im Verhältnis zum Körper relativ
großen Kopf zu starken Beschleunigungskräften. Durch die kondyläre Struktur wird die
Stabilität des atlantookzipitalen Gelenks hauptsächlich ligamentär durch die Lig.
alaria und die Membrana tectoria als Verlängerung des hinteren Längsbandes gesichert,
sodass bei entsprechenden Unfallmechanismen hohe Scherkräfte nicht abgefangen werden
können. Dies führt dann zu einer Separation zwischen Kopf und Wirbelsäule ([Abb. 7]). Hierdurch kommt es sehr häufig zu neurologischen Schäden bis hin zur Myelonzerreißung.
Merke
Durch die steigende Kenntnis dieser Verletzung und der verbesserten präklinischen
und initialen klinischen Maßnahmen wird diese Verletzung zunehmend überlebt.
Nicht alle Patienten zeigen neurologische Ausfälle, auch unspezifische Symptome wie
Übelkeit, Kopfschmerzen, Schiefhals, aber auch Hirnnervenausfälle sowie motorische
oder sensorische Defizite können auftreten.
Als instabile ligamentäre Verletzung ist dieses Trauma eine Domäne der operativen
Versorgung, da wegen mangelnder Erfolgsaussichten eine rein konservative Therapie
ungeeignet ist. Die Fusion vom Okziput auf HWK 1 ist anzustreben und erfolgt in der
Regel durch Luque-Drähte, Cerclagen oder durch ein Schrauben-Stab-System mit ggf.
additiver Knochenanlagerung. Bei kleinen Kindern mit noch nicht voll ausgebildetem
dorsalem Atlasbogen muss ggf. bis auf C2 oder auch längerstreckig instrumentiert werden
[9].
Abb. 7 Axiale atlantookzipitale Dislokation (Typ 3) mit Vergrößerung des Basion-Dens-Abstandes
im Jugendalter.
a Schematische Darstellung.
b 16-jähriger männlicher Patient.(Quelle a: Nau C, Rose S, Laurer H et al. Wirbelsäulenverletzungen im Kindesalter. Orthopädie
und Unfallchirurgie up2date 2010; 5: 23 – 38)
Frakturen des Atlas
Verletzungen des Atlasbogens entstehen durch axiale Krafteinwirkungen.
Tipp
In der Frontalebene spricht ein addierter Gesamtüberstand der Massae laterales des
Atlas um mehr als 7 mm über die seitliche Begrenzung des Axis für eine instabile Atlasfraktur
mit Verletzung vom Lig. transversum [10], wobei ein Auseinanderweichen bis 6 mm physiologischerweise bei 90% der 2-jährigen
Kinder gefunden wird und bis zum Alter von 7 Jahren auftreten kann [5].
Die Klassifikation erfolgt nach Gehweiler, wobei vor allem die Unterscheidung zwischen
stabilem Typ 3a (ohne Verletzung des Lig. transversum) und instabilem Typ 3b (mit
Verletzung des Lig. transversum) hervorzuheben ist.
Die Therapie besteht überwiegend in einer Ruhigstellung mittels semirigider Orthese,
seltener durch Anlage eines Halo-Fixateurs. Operative Fusionen oder direkte Verschraubungen
sind im Kindesalter meist nur bei anhaltender Instabilität notwendig.
Tipp
Sowohl die Halo-Ringe als auch die Westen müssen der Körpergröße der Kinder angepasst
werden. Bei der Anlage des Halo-Fixateurs werden die bekannten Pin-Eintrittspunkte
genutzt. Bei Kindern werden mehr Pins als beim Erwachsenen eingesetzt. Diese müssen
streng rechtwinklig zum Knochen eingebracht werden. Das Drehmoment ist entsprechend
anzupassen.
Atlantoaxiale Subluxation
Die Subluxation im atlantoaxialen Segment ist eine der häufigsten Ursachen des kindlichen
Schiefhalses. Die überwiegende Rotationsbewegung der HWS wird im Segment HWK 1/2 ausgeführt.
Aufgrund der sehr flach ausgebildeten Gelenkflächen und der großen Gelenkbeweglichkeit
können insbesondere Kinder eine Subluxation erleiden.
Klinisch zeigt sich das typische Bild der Rotation zu einer Seite mit Kopfneigung
zur Gegenseite. Bei Bewegung in die Normalposition werden Schmerzen angegeben, wohingegen
oft eine Verstärkung der Rotation oder Seitneigung möglich sind.
Merke
Nach einem Infekt der oberen Atemwege als häufigste Ursache (Grisel-Syndrom) ist das
Trauma der zweithäufigste Auslöser einer atlantoaxialen Subluxation.
Die einseitige Facettengelenksubluxation ist am häufigsten und fast immer verbunden
mit einer Rotation. Diese Verletzung gilt als gut therapierbar. Beidseitige Sub- oder
komplette Luxationen mit Ventralversatz der Massa lateralis von > 3 mm sind deutlich
schwerwiegender. Hier ist das Lig. transversum elongiert oder rupturiert und wirkt
somit nicht mehr stabilisierend.
Wichtig sind anterior–posteriore und transorale Aufnahmen bei bestmöglicher Neutralposition
des Kopfes. Mittels 3-D-CT-Rekonstruktionen kann die Fehlstellung am besten detektiert
werden.
Eine frische traumatische atlantoaxiale Subluxation wird in Kurznarkose bei relaxiertem
Kind über eine transorale digitale Manipulation reponiert. Im Anschluss hieran erfolgt
eine Ruhigstellung in einem semirigiden Kragen für 4 Wochen. Eine operative Therapie
mit dorsaler Spondylodese ist nur in Ausnahmefällen bei veralteten Luxationen mit
persistierender Instabilität erforderlich. So kann die Neutralposition des Kopfes
wiederhergestellt werden und dem muskulären Hartspann entgegengewirkt werden, welcher
sich infolge der Fehlrotation ausbildet [12].
Frakturen des Dens axis
Dens-axis-Frakturen zählen zu den häufigsten Frakturen im Bereich der Halswirbelsäule.
Ursächlich sind zumeist Autounfälle oder Stürze aus größerer Höhe mit Gewalteinwirkung
auf den Kopf. Meist werden Schmerzen im Nacken angegeben. Klinisch vermeiden es die
Kinder, den Kopf aktiv zu reklinieren, und wehren sich bei dem Versuch entsprechender
Funktionsüberprüfungen.
Merke
Häufig verläuft die Verletzung im Bereich der Synchondrose, also etwas kaudal der
Basis des Dens.
Für gewöhnlich ist der Dens bei Frakturen nach anterior verschoben. Oft bleibt hierbei
der ventrale Periostschlauch intakt und sorgt für eine gewisse Reststabilität sowie
für eine gute Konsolidierungstendenz während der Ruhigstellung. Wachstumsstörungen
im Verlauf werden eher nicht beobachtet.
Diagnostisch kann die anterior–posteriore Röntgenaufnahme unauffällig erscheinen,
im seitlichen Röntgen lässt sich die Fraktur aber meist klar darstellen ([Abb. 8], obere Reihe). Wenn die Verletzung durch die Synchondrose verläuft und sich spontan
reponiert hat, kann jedoch die Röntgenaufnahme täuschen [8]. Um die Diagnose zu sichern, ist eine Schnittbildgebung ([Abb. 8], untere Reihe) notwendig.
Neurologische Defizite sind bei dieser Verletzung selten und dann eher als Folge einer
gleichzeitigen Zerrung des Myelons zu werten.
Bei stärker dislozierten Frakturen ist ggf. eine Reposition in Narkose mit Extension
notwendig, ggf. mittels transoralem Repositionsmanöver. Es sollte dann eine Ruhigstellung
durch den Halo-Fixateur für 6 – 8 Wochen durchgeführt werden. Bei guter Compliance
und wenig dislozierten Frakturen kann die Therapie mittels Zervikalorthese erwogen
werden. Aufgrund der guten Ergebnisse der konservativen Therapie sind operative Versorgungen
mit osteosynthetischer Verschraubung oder Fusionsoperationen in aller Regel nicht
notwendig.
Abb. 8 Dislozierte Fraktur des Dens axis bei einem 13-jährigen Mädchen in der Röntgen- und
CT-Diagnostik.
a Transorales Röntgenbild.
b Seitliches Röntgenbild.
c Koronare CT-Rekonstruktion.
d Sagittale CT-Rekonstruktion.
Hanged-Man-Fracture (traumatische Spondylolyse)
Durch ein Hyperextensionstrauma kann es auch bei Kindern zur beidseitigen traumatischen
Spondylolyse des HWK 2 bzw. zur traumatischen Spondylolisthese HWK 2/3 („Hanged-Man
Fracture“) kommen. Diese Verletzungen sind insgesamt sehr selten. Klinisch imponieren
Nackenschmerzen und das Vermeiden von jeglichen Bewegungen der HWS.
Radiologisch zeigen sich eine Lücke oder Aufhellungslinien ventral der Pedikel des
2. HWK. Bei ligamentärer oder diskaler Beteiligung kann sich zusätzlich ein Versatz
des HWK 2 gegenüber HWK 3 zeigen. Die Einteilung erfolgt nach Effendi bzw. Josten.
Die Therapie besteht in einer Ruhigstellung für 8 – 12 Wochen mittels Halo-Fixateur.
Eine ventrale oder dorsale Stabilisierung ist im Kleinkindalter nur bei ausbleibender
Konsolidierung und im höheren Alter bei hoher Instabilität notwendig, dann ggf. mit
ventraler Fusion.
Verletzungen der subaxialen HWS
Verletzungen der subaxialen HWS
Fallbeispiel
Ein 16-jähriges Mädchen wird nach einem Motorradsturz durch den Rettungsdienst in
der Notfallambulanz vorgestellt. Der Sturz hatte unbeobachtet stattgefunden, und bei
der Patientin besteht eine retrograde Amnesie zum Unfallereignis. Die Patientin gibt
Schmerzen im Bereich der unteren Halswirbelsäule an. Bei der klinischen Untersuchung
werden gering ausgeprägte Sensibilitätsstörungen an den Oberarmen beidseits gefunden.
Die initiale Röntgenuntersuchung zeigt eine Fraktur des 5. Halswirbelkörpers ([Abb. 10 a]) Typ A4 nach der AO Spine-Klassifikation. Die weiterführende MRT-Bildgebung zeigt
darüber hinaus eine Beteiligung der angrenzenden Bandscheiben ([Abb. 10 b]). Es wird deshalb die Indikation zur operativen Therapie im Sinne einer Implantation
eines Wirbelkörperersatzes des HWK 5 nach partieller Korporektomie und Diskektomie
gestellt ([Abb. 10]).
Subaxiale Verletzungen von HWK 3 bis HWK 7 treten eher bei jugendlichen Patienten
auf. Aufgrund der Kombination aus morphologischen und klinisch-neurologischen Kriterien
wird dann die AO Spine-Klassifikation für subaxiale HWS-Verletzungen empfohlen [13]. Hier erfolgt die Einteilung in
-
Kompressionsverletzungen (Typ A),
-
Zerreißungen der vorderen oder hinteren Zuggurtung (Typ B) oder
-
translatorisch instabile Verletzungen mit Zerreißung der vorderen und hinteren Zuggurtung
(Typ C).
Typ-A-Verletzungen sind die häufigste Form.
Bei axialer Krafteinwirkung auf die flektierte HWS kommt es zur Kompression des Wirbelkörpers,
welche zumeist problemlos im konventionellen Röntgenbild diagnostiziert werden kann.
Mittels MRT-Untersuchungen können Begleitverletzungen sowie serielle Frakturen dargestellt
werden ([Abb. 4 a]).
Merke
Der Sprung in ein flaches Gewässer ist neben Stürzen aus einer Höhe über 2 m und Verkehrsunfällen
nach wie vor als häufiger Unfallmechanismus zu verzeichnen.
Im Gegensatz zu den Frakturen von Jugendlichen und Erwachsenen können die Frakturen
bei Kindern unter 8 Jahren in den Bereichen der subaxialen HWS sowie der oberen BWS
im Sinne von Salter-Harris-I- oder auch Salter-Harris-III-Frakturen durch die knorpelige
Endplatte verlaufen und dann in Erscheinung treten. Aufgrund der stabilisierenden
Effekte der Artikularportion (Processus uncinatus) findet sich die Fraktur am häufigsten
im Bereich der Endplatte ([Abb. 9]).
Abb. 9 Klassifikation von Wirbelkörperfrakturen im Kindesalter nach Salter und Harris.
a Lösung der knorpeligen Grundplatte (Salter-Harris I).
b Abbruch der vorderen Grundplatte (Salter-Harris III).(Quelle: Nau C, Rose S, Laurer
H et al. Wirbelsäulenverletzungen im Kindesalter. Orthopädie und Unfallchirurgie up2date
2010; 5: 23 – 38)
Flexions- oder Distraktionsverletzungen können zu einer traumatischen Ablösung der
Bandscheibe von der Grund- oder Deckplatte mit Ruptur des hinteren Längsbandes führen.
Cave
Diskoligamentäre Zerreißungen der HWS im Kindes- und Jugendalter stellen hoch instabile
Verletzungen dar, können aber durch die fehlenden knöchernen Verletzungszeichen leicht
übersehen werden. Auch in der MRT kann die geringe oder fehlende Einblutung über die
Schwere der Verletzung hinwegtäuschen.
Zur sicheren Diagnostik einer Instabilität ist eine dynamische arztgeführte Bildwandleruntersuchung
notwendig ([Abb. 5]). Sollte hierbei eine Instabilität diagnostiziert werden, ist eine Fusion in diesem
Segment notwendig.
Als Basis der Therapieentscheidung bei Verletzungen der HWS dienen die therapeutische
Strategie der AO Spine (s. Infobox).
Therapie
Therapientscheidung bei HWS-Verletzungen
-
A0-, A1-, A2-Frakturen sollten konservativ behandelt werden mit einer kurzeitigen
Ruhigstellung in einer semirigiden Halskrawatte.
-
A3-Frakturen sind zumeist Einzelfallentscheidungen, hier kann sowohl eine konservative
als auch eine operative Behandlung indiziert sein.
-
A4-, B-, C-Frakturen bedürfen einer operativen Therapie.
Bei den meisten Verletzungen wird die ventrale Plattenspondylodese mit interkorporeller
Abstützung empfohlen. Bei Berstungskomponente muss oftmals eine Korporektomie und
die Implantation eines Wirbelkörperersatzes erfolgen ([Abb. 10]). Eine additive dorsale Instrumentierung kann bei verbleibender dorsaler Instabilität
erforderlich sein.
Abb. 10 HWK-5-Fraktur (Typ A4 nach AO Spine) bei 16-jährigem Mädchen nach Motorradunfall.
a Präoperative Röntgenaufnahme.
b Präoperative MRT-Bildgebung.
c Postoperativ nach Korporektomie und ventraler Fusion mit Wirbelkörperersatz; Röntgenaufnahme
a.–p.
d Seitlicher Strahlengang.
Facettengelenkfrakturen/Facettengelenkluxationen
Die ein- oder beidseitige Facettengelenkluxation ist die zweithäufigste Verletzung
der subaxialen HWS im Jugendalter. Der Unfallmechanismus beinhaltet eine Krafteinwirkung
in Rotationshaltung der HWS. Die Diagnose kann meist mit der konventionellen Röntgenaufnahme
gestellt werden. Die CT lässt begleitende Frakturen der Gelenkfacetten erkennen und
hilft bei der Planung der Reposition. Diskoligamentäre Verletzungen werden durch die
MRT detektiert. Bei der AO Spine-Klassifikation werden die Facettengelenke separat
beurteilt. Bei nachgewiesener Facettengelenkfraktur vom Typ F1 oder F2 oder bei Fraktureinstrahlung
in das Foramen transversarium sollte eine CT-oder MR-Angiografie erwogen werden [14].
Die Reposition geschieht unter Bildwandlerkontrolle und Längszug mit entsprechender
Rotation. Ist eine geschlossene Reposition nicht möglich, muss eine offene Reposition
mit anschließender Fusion entsprechend der B- oder C-Verletzung durchgeführt werden.
Verletzungen der Brust- und Lendenwirbelsäule
Verletzungen der Brust- und Lendenwirbelsäule
Einteilung
Die Klassifikation der Verletzungen richtet sich nach dem Alter des jungen Patienten
([Tab. 1]). Bei älteren Kindern kann es zu einer Verletzung der ringförmigen Wirbelkörperrandleiste
(Apophysenring) kommen. Hierbei handelt es sich um eine frakturierte Wachstumsfuge,
die sich zum Teil spontan reponieren kann. Der konventionellen Röntgendiagnostik bleibt
sie häufig verborgen.
Tab. 1 Mögliche Frakturklassifikation in Abhängigkeit vom Patientenalter.
Alter1
|
Klassifikation
|
1 Kleine Kinder unter 3 Jahren lassen sich aufgrund der seltenen Verletzungen mit ihren
Besonderheiten schwer in dieses Schema einordnen.
|
< 8 Jahre
|
Salter-Harris
|
> 8 – 18 Jahre
|
Takada/Epstein
|
> 12 Jahre
|
AO Spine
|
Die meisten Apophysenabrisse liegen bei den meist männlichen Adoleszenten lumbal und
kranial ([Abb. 11]), selten thorakal oder zervikal. Als Ursache werden chronische Überlastungen durch
Sport oder ein adäquates Monotrauma angenommen.
Abb. 11 Einteilung der Verletzung der ringförmigen Wirbelkörperrandleiste nach Takada/Epstein.
a Lösung des hinteren Längsbands (Typ 1).
b Lösung der Randleiste mit spongiösem Knochen (Typ 2).
c Lösung des lateralen Teils der Randleiste mit Teilen des Knochens (Typ 3).
Die Symptome können einer Diskushernie ähneln. Die Einteilung erfolgt nach Takada
und Epstein ([Tab. 1], [Tab. 2]). Prinzipiell wird zwischen einer Dislokation nach ventral (betroffen Anulus fibrosus
und vorderes Längsband) und nach dorsal unterschieden. Die häufigere dorsale Dislokation
wird wie in [Tab. 2] dargestellt unterteilt [19].
Tab. 2 Klassifikation nach Takada/Epstein.
Einteilung
|
Kennzeichen
|
Typ 1
|
Lösung des gesamten hinteren Längsbands (11. – 13. Lebensjahr)
|
Typ 2
|
Randleiste mit spongiösen Anteilen des Wirbelkörpers (13. – 18. Lebensjahr)
|
Typ 3
|
lateraler Teil der Randleiste mit Teilen des Wirbelkörpers (> 14. Lebensjahr)
|
Typ 4
|
Fraktur der gesamten Hinterwand zwischen den Endplatten, ggf. mit Spinalkanaleinengung
|
Im Bereich der Brust- und Lendenwirbelkörper sind zudem Abrisse der Synchondrosen
zwischen den Bogenkernen und dem bipolaren neurozentralen Knorpel in Form einer traumatischen
Spondylolyse möglich. Bei neurologischen Defiziten wird eine Dekompression erforderlich,
zudem ist die mögliche Ausbildung sekundärer Deformitäten zu beachten.
Grundlagen der Therapie
Das Korrektur- und Regenerationspotenzial der verletzten Wirbelsäule im Kindes- und
Jugendalter unterscheidet sich von dem der Erwachsenen und verändert sich mit dem
Älterwerden ([Abb. 12]).
Abb. 12 Seitliche Röntgenbilder der LWS im Stehen; 10-jähriger Junge mit Fraktur des 3. Lendenwirbelkörpers
und traumatischer Kyphose > 20 °.
a Präoperativ.
b Nach geschlossener Reposition und perkutaner dorsaler Instrumentierung vom 2. bis
4. Lendenwirbelkörper zeigt sich im Verlauf ein Umbau des Wirbelkörpers.
c Die Kontrollaufnahme zeigt, dass der Wirbelkörper nahezu seine ursprüngliche Form
wieder erreicht.(Quelle: Kreinest M, Vetter SY, Grützner PA et al. Wirbelsäulenverletzungen
im Kindesalter – Konzepte zu Diagnostik und Therapie. OP-Journal 2018; 34: 261 – 268)
Merke
Der Großteil der Verletzungen der Brust- und Lendenwirbelsäule im Kindesalter kann
konservativ therapiert werden.
Je älter die Kinder jedoch werden, umso fließender ist der Übergang zum bekannten
Behandlungsregime beim Erwachsenen. Mit zunehmender Instabilität wird eine operative
Behandlung auch im Kindesalter notwendig. So werden eine frühe Schmerzlinderung erreicht,
eine progrediente Deformierung vermieden und nervale Strukturen durch eine frühzeitige
Dekompression geschützt bzw. entlastet.
Instabilität bei Verletzungen der Brust- und Lendenwirbelsäule
Die AO-Klassifikation gibt einen Hinweis auf die Instabilität [20]:
-
Typ-A0-Frakturen sind nicht stabilitätsgefährdend.
-
Typ-A1-Frakturen sind generell als stabil anzusehen. Bei einem Grund-Deckplatten-Winkel
von 15 – 20° (Röntgenbilder im Stehen) kann es aber im Verlauf zu einer weiteren Fehlstellung
kommen. Als weiteres Instabilitätskriterium wird in der Literatur ein Wirbelkörperödem
in über zwei Drittel des Wirbelkörpervolumens angesehen [15], sodass in diesem Fall auch A1-Frakturen als geringgradig instabil anzusehen sind.
-
Typ-A2-Verletzungen können bei begleitender Bandscheibenbeteiligung instabil sein.
-
Typ-A3- und Typ-A4-Frakturen zeigen eine Verletzung der vorderen und mittleren Säule,
i. d. R. ist die Bandscheibe zerstört. Laut Literatur [15], [16] zeigen 87% der Bandscheiben nach 12 Monaten einen Defekt. Als weitere Instabilitätsfaktoren
bei Berstungsfrakturen werden eine fehlende Verdichtung der Fragmente, eine Zerstörung
von mehr als einem Drittel der Wirbelkörperhöhe und eine Fragmentdislokation von über
2 mm angesehen, sodass hier durchaus die Schwelle zur hochgradigen Instabilität überschritten
werden kann.
-
Typ-B- und Typ-C-Verletzungen gelten bei Versagen der dorsalen oder ventralen osteoligamentären
Zuggurtung als hochgradig instabil und sollten dementsprechend stabilisiert werden.
-
Zudem werden eine Höhenreduktion der Wirbelkörper und eine Spinalkanaleinengung von
mehr als jeweils 40 – 50% als Instabilitätskriterien gewertet.
[Tab. 3] zeigt eine Zusammenfassung der Diagnosen und Therapieempfehlung bei Verletzungen
der Wirbelsäule im Kindes- und Jugendalter.
Tab. 3 Übersicht über Einteilung und Therapieempfehlung bei Verletzungen der Wirbelsäule
im Kindes- und Jugendalter.
Lokalisation
|
Diagnose
|
Therapieempfehlung
|
obere HWS
|
Okzipitalkondylenfrakturen Typ I und II
|
konservativ (Orthese)
|
Typ III
|
Halo-Fixateur
bei starker Zerstörung: dorsale Fusion (Ausnahmeindikation)
|
atlantookzipitale Instabilität
|
temporäre Ruhigstellung mittels Halo-Fixateur für 8 – 10 Wochen
bei persistierender Instabilität: Instrumentation/Fusion C0–C1 (C2)
|
Frakturen des Atlas Typ 1, 2, 3a, 4, 5
|
konservativ (Orthese)
|
Typ 3b
|
bei Kontinuitätsunterbrechung des Lig. transversum atlantis mit bei persistierender
Instabilität: Fusion, direkte Verschraubung
|
atlantoaxiale Subluxation/Luxation
|
überwiegend konservativ, nach ggf. vorheriger Reposition
operativ nur bei persistierender Fehlstellung und Instabilität
|
Frakturen des Dens axis
|
Halo-Fixateur
bei Dislokation mit frustranem Versuch der geschlossenen Reposition: Osteosynthese
|
Hanged-Man-Fraktur
|
überwiegend konservativ (Orthese)
bei Bandscheibenverletzungen mit Instabilität: Halo-Fixateur/OP
|
mittlere und untere HWS
|
Kompressionsverletzungen A1 und A2
|
konservativ
bei starker Fehlstellung durch segmentale Instabilität: OP in Einzelfällen
|
A3
|
überwiegend operativ (Einzelfallentscheidung)
|
A4, B, C
|
operative Therapie
|
Facettengelenkfrakturen/Luxationen
|
Reposition unter Durchleuchtung, Ruhigstellung
bei persistierender Fehlstellung: OP
|
BWS/LWS
|
A0
|
konservativ
|
A1 und A2
|
konservativ; bei starker Fehlstellung durch segmentale Instabilität: OP in Einzelfällen
|
A3
|
überwiegend operativ (Einzelfallentscheidung)
|
A4, B, C
|
operative Therapie
|
Frakturen durch die knorpelige Endplatte (Salter-Harris I/III)
|
bei Instabilität: OP-Indikation
|
Apophysenabrisse (Takada/Epstein)
|
konservativ; bei neurologischen Symptomen: Dekompression und Fusion
|
Konservative Therapie
Generell können persistierende ventrale Kyphosewinkel bis zu 10° kompensiert werden,
im Risser-Stadium 1 – 2 auch 10 – 20°.
Merke
Die Spontankorrekturfähigkeit keilfömig komprimierter Wirbelkörper im Kindes- und
Jugendalter ist bekannt; ab Risser-Stadium 3 ist diese jedoch reduziert.
Bei einer Keilwirbelbildung von mehr als 10° wird das Tragen eines Reklinationskorsetts
zur Druckentlastung der Wachstumszone und Stimulation des vorderen Wirbelkörperwachstums
bis zu einem Jahr empfohlen. Bei Kompressionsfrakturen im oberen BWS-Bereich ohne
weitere thorakale Verletzung mit einem Kyphosewinkel ≤ 15° ist die frühfunktionelle
Behandlung mit Krankengymnastik, Rückenschulung und Muskelaufbau die zu empfehlende
Therapie. Eine Sportkarenz sollte für 3 Monate eingehalten werden.
Zur Verlaufskontrolle werden von den Autoren Zielaufnahmen nach 1, 3 und 6 Wochen
bei exakter Darstellung der betroffenen Region sowie nach 6 Monaten und einem Jahr
empfohlen.
Praxis
Begleitverletzungen der Bandscheibe
Aufgrund der besseren Kompensationsmechanismen scheint insbesondere bei Kindern der
Bandscheibenschaden keine so wesentliche Rolle zu spielen. Kerttula et al. [17] wiesen in einer MRT-Untersuchung mindestens ein Jahr nach thorakolumbaler Berstungsfraktur
und konservativer Therapie bei Kindern unter 14 Jahren keine Bandscheibenläsionen
nach. Dies scheint auch für den Langzeitverlauf zu gelten [18]. Demgegenüber zeigten sich bei den über 15-jährigen Patienten mehrheitlich Diskusschäden
in den frakturangrenzenden Segmenten.
Operative Therapie
Bei älteren Kindern und und Adoleszenten folgen Stabilisierungen der thorakolumbalen
Wirbelsäule den Grundsätzen der Erwachsenentherapie. Die Instrumentierung erfolgt
je nach Frakturmorphologie zumeist mono- oder bisegmental. Je nach Befund kann vor
allem in der Brustwirbelsäule eine multisegmentale Stabilisierung notwendig werden.
Ligamentäre Verletzungen sollten zuerst reponiert werden und je nach Alter des Kindes
durch Verbinden der Dornfortsätze durch Cerclagen oder im fortgeschrittenen Alter
ebenfalls mit einem dorsalen Fixateur stabilisiert werden. Bei sehr kleinen Kindern
können die Dornfortsätze auch mit Polydioxanonkordeln oder FiberWire®-Fäden verbunden werden, die Nachbehandlung sollte dann im Korsett erfolgen.
Generell kommen auch minimalinvasive Verfahren mit kurzstreckigen dorsalen Stabilisierungen
bei guter Aufrichtung durch die Lagerung bzw. mit minimalinvasiven Repositionssystemen
zur Anwendung ([Abb. 12]).
Merke
Eine Materialentfernung sollte zumeist frühzeitig nach 6 – 9 Monaten erfolgen. Bei
Verdacht auf eine Bandscheibenschädigung sollte vorher eine MRT-Untersuchung durchgeführt
werden.
Ventrale Spondylodesen sind i. d. R. bei jüngeren Patienten so gut wie nicht erforderlich.
Selten werden diese Verfahren mit Wirbelkörperersatz bzw. Cage im Falle einer Korrektur
bei größeren Fehlstellungen bzw. Defekten benötigt.
Thorakolumbale Apophysenschäden mit in den Spinalkanal dislozierten Fragmenten ([Abb. 11]) müssen bei neurologischen Symptomen chirurgisch entfernt werden.
Laminektomien sind bei Kindern kontraindiziert, außer es findet sich eine anders nicht
zu behebende mechanische Einengung des Spinalkanals mit zuzuordnenden neurologischen
Defiziten. Anderenfalls können so im weiteren Wachstum erhebliche Deformitäten erzeugt
werden.
Prognose
Die Prognose von HWS-Verletzungen im Kindes- und Jugendalter ist sehr gut, wenn die
Verletzung frühzeitig diagnostiziert wird.
Fehlstellungen im Bereich der BWS und LWS werden teilweise über das weitere Wachstum
ausgeglichen, vor allem je jünger die Kinder zum Zeitpunkt der Verletzung sind. Mitunter
kann sich im Verlauf eine leicht progressive balancierte Skoliose (< 10°) um den frakturierten
Bereich ausbilden.
Kaum ausgeglichen werden frontale Fehlstellungen; hier können im weiteren Verlauf
posttraumatische Skoliosen entstehen, die jedoch selten 20° überschreiten.
Endplattenfrakturen korrigieren sich i. d. R. nicht, hier kann dann eine Störung des
Wachstums die Folge sein. Verletzungen der Endplatten und Bandscheiben können zudem
zu Spontanfusionen des Segments führen.
Inkomplette neurologische Defizite haben bei Kindern ebenfalls eine relativ gute Prognose,
da das Regenerationspotenzial hoch ist. Komplette Querschnittsyndrome dagegen erfahren
auch bei Kindern selten eine Verbesserung. Für den Einsatz von Steroiden gibt es laut
Literatur für diese Altersklassen keine Evidenz.
Kernaussagen
-
Bei Diagnostik und Therapie ist die genaue Kenntnis der Anatomie und Biomechanik der
sich entwickelnden Wirbelsäule unabdingbar.
-
Neben der klinisch-neurologischen Untersuchung erfolgt die Diagnostik hauptsächlich
über die Bildgebung mittels Röntgen und Kernspintomografie.
-
Die arztgeführte dynamische Bildwandlerkontrolle ist zur Diagnostik von diskoligamentären
Verletzungen ein wichtiges Zusatzinstrument.
-
Die CT ist speziellen Fragestellungen bzw. schwerverletzten Kinder vorbehalten.
-
Zumeist ist eine konservative Therapie möglich.
-
Bei instabilen Verletzungen kann eine operative Stabilisierung indiziert sein.
-
Je älter die Kinder werden, umso fließender wird der Übergang zur Therapie des Erwachsenen.
-
Die schwierige Indikation und Besonderheiten der operativen Therapie machen die Behandlung
in einem kinderwirbelsäulenchirurgisch erfahrenen Zentrum notwendig.
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen für diesen Beitrag
ist PD Dr. med. Dr. Michael Kreinest, Ludwigshafen.