Gesundheitsbezogene Lebensqualität eingeschränkt – Umschriebene Entwicklungsstörung
der motorischen Funktionen (UEMF)
Kinder mit einer umschriebenen Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen (UEMF)
haben neben Einschränkungen in den ADLs und im Schulalltag auch viele sozioemotionale
Schwierigkeiten. Zu diesem Ergebnis kommt Ergotherapeutin Dr. Jill Zwicker mit ihrem
Team an der University of British Columbia in Vancouver, Kanada.
Die Forscher befragten insgesamt dreizehn Kinder mit Verdacht auf UEMF hinsichtlich
ihrer gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Die drei Mädchen und zehn Jungen waren
zwischen acht und zwölf Jahre alt. Ihre Angaben wurden thematisch analysiert und erbrachten
vier Themen:
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Der Kampf mit alltäglichen Aktivitäten: Die Kinder bleiben Gleichaltrigen gegenüber bei Aktivitäten wie Essen, Ankleiden
und Fahrradfahren deutlich zurück. Sie benötigen viel Zeit und Kraft, um diese Dinge
zu lernen, und haben Angst davor.
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Schule als harte Arbeit: Einschränkungen beim Schreiben hindern die Kinder daran, erfolgreich am Unterricht
teilzunehmen. Sie schreiben unordentlich, langsam und un leserlich. Technik in Form
von Tablets hilft nur bedingt, da ihnen das Schreiben an Geräten ebenfalls Schwierigkeiten
bereitet. Lehrer zeigen oft wenig Verständnis.
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Psychosoziale Probleme: Die Kinder sind frustriert, dass sie an sportlichen Aktivitäten aufgrund mangelnder
Ausdauer und Koordination nicht so teilnehmen können wie andere. Sie fühlen sich ausgeschlossen,
werden gemobbt und gehänselt.
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Coping-Strategien: Sie versuchen Aktivitäten zu finden, in denen sie trotz ihrer motorischen Einschränkungen
gut sind. Das können nichtmotorische Tätigkeiten sein wie im Chor singen, Songs schreiben
und lesen oder sportliche Aktivitäten, bei denen man nicht im direkten Wettbewerb
mit anderen steht, wie Tanzen und Schwimmen.
Die vorliegende Studie ist die erste, die Kinder selbst befragt und ihre gesundheitsbezogene
Lebensqualität beleuchtet. Dadurch zeigen sich psychosoziale Stressfaktoren und Gründe
für den Rückzug von körperlichen Aktivitäten.
Alle, die mit Kindern mit UEMF arbeiten, sollten berücksichtigen, wie viel emotionale
Kraft diese aufbieten müssen, um an alltäglichen Aktivitäten teilhaben zu können.
Schule ist für sie nicht nur eine akademische Herausforderung, sondern auch eine soziale.
Wichtig ist es, den Kindern Aktivitäten näherzubringen, bei denen sie erfolgreich
sind und die sich an ihren Stärken orientieren.
kj
Br J Occup Ther 2018; 81: 65–73
Höhere Reflexionskompetenz trotz struktureller Mängel – Hochschulische Erstausbildung
in therapeutischen Berufen
Studiengänge in therapeutischen Gesundheitsfachberufen tun sich noch schwer damit,
Hochschul- und Berufsrecht angemessen zu verbinden. Allerdings weisen die Absolventen
bei komplexen beruflichen Anforderungen eine höhere Reflexionskompetenz auf als ihre
Kollegen ohne Hochschulabschluss. Zu dieser Einsicht kamen Ingrid Darmann-Finck vom
Institut für Public Health und Pflegewissenschaft in Bremen und
Bernd Reuschenbach von der Katholischen Stiftungsfachhochschule München.
Die Forscher evaluierten dreizehn Modellstudiengänge (sechs Physiotherapie-, vier
Logopädie- und drei Ergotherapiestudiengänge) bezüglich zwei Schwerpunkten:
Für die strukturelle Evaluation führten sie eine Dokumentenanalyse durch und werteten
sie qualitativ inhaltsanalytisch hinsichtlich Studiendauer, Workload, institutioneller
Kooperation und Integration der Praxisphasen aus. Obwohl die strukturelle Konzeption
der deutschen Modellstudiengänge sehr heterogen ist, sind alle ausbildungsintegrierend
und müssen daher gleichzeitig dem Berufsrecht und dem Hochschulrecht gerecht werden.
Das entspricht je nach Interpretation der Berufsgesetze inhaltlich, methodisch und
vom Anforderungsniveau her nicht den kompetenzbasierten Curricula der hochschulischen
Ausbildung. Zur Erfassung der Kompetenzen wandten die Forscher ein Mixed-Methods-Design
an. Dazu befragten sie zunächst mittels Fragebogen 286 Absolventen. Diese waren durchschnittlich
23,8 Jahre alt, etwa 15 Prozent waren Männer. 88 Prozent der Befragten glaubten, dass
das Studium besondere Fähigkeiten forme. Die 29 ergänzend geführten Interviews mit
Berufstätigen bestätigten das Ergebnis – Hochschulabsolventen und studierte Berufstätige
verfügen im Vergleich zu beruflich ausgebildeten Fachkräften über einen Mehrwert hinsichtlich
der Kompetenzen.
Damit erreichen die Kompetenzziele der Hochschule die Versorgungspraxis. Die Forscher
empfehlen, die hochschulische Ausbildung regelhaft berufsgesetzlich zu verankern.
ari
Gesundheitswesen 2019; 81: 325–331
Neoliberale Ideen gehen mitunter an Versorgungspraxis vorbei – Geistige Behinderung
Einrichtungen mit betreuten Wohngruppen für Menschen mit geistiger Behinderung berufen
sich oft auf neoliberale Ideen, wenn sie ihre Politik oder ihre Angebote beschreiben.
Dabei liegt ein wesentlicher Zielfokus darauf, die Bewohner zu einer selbstständigen
und selbstbestimmten Lebensführung zu befähigen. Auch wenn diese Zielstellungen die
Persönlichkeitsentwicklung unterstützen können, sind sie kein Garant für eine gute
Versorgungsqualität. Zu dieser Schlussfolgerung kommt der Ergotherapeut und Sozialanthropologe
Georg Gappmayer an der Universität Wien und an der Fachhochschule Wiener Neustadt,
Österreich.
Das Unterstützen dominiert die alltägliche Praxis in Einrichtungen, wird aber nur
selten auf die Fertigkeiten der Bewohner abgestimmt.
Er führte zwischen 2011 und 2015 eine ethnografische Feldforschung in drei betreuten
Wohngruppen für Menschen mit geistiger Behinderung durch. Neben gezielten Beobachtungen
vor Ort interviewte er auch zwei Bewohner, acht Betreuungskräfte und einen Vertreter
der Organisation. Außerdem analysierte er 28 interne oder externe Dokumente der beiden
Organisationen, denen die Wohngruppen zugeordnet waren. Das gesammelte Datenmaterial
wertete er im Rahmen eines Grounded-Theory-Ansatzes und mithilfe von Situationsanalysen
aus.
Dabei stellt er fest, dass fünf handlungsleitende Zielstellungen in der Versorgungspraxis
vorherrschen: Selbstbestimmung, Selbstständigkeit, Zugehörigkeit, Sicherheit und Unterstützen/Konsumieren.
In den Wohngruppen dominiert häufig das „Unterstützen/Konsumieren“ die alltägliche
Praxis. Dabei stimmt das Betreuungspersonal die gegebene Unterstützung nur teilweise
auf das Fertigkeiten-Level der Bewohner ab; oftmals geht es auch da rum, Haushaltstätigkeiten
oder Abläufe effektiv durchzuführen. In alltäglichen Situationen kommt es zudem häufig
vor, dass einzelne Zielstellungen andere verdrängen, etwa das „Gewährleisten von Sicherheit“
die „Selbstbestimmung“. Mögliche Gründe hierfür können sein, dass Bewohner die Konsequenzen
ihres Handelns für sich und andere nicht einschätzen können oder dass ihre Wünsche
mit den Abläufen und Routinen in der Einrichtung kollidieren.
5 Ziele
Die Versorgungspraxis zielt ab auf Selbstbestimmung, Selbstständigkeit, Zugehörigkeit,
Sicherheit und Unterstützen/Konsumieren.
Entgegen der beobachteten Versorgungspraxis schreiben sich die Einrichtungen vor allem
Ziele wie Selbstständigkeit und Selbstbestimmung auf ihre Agenda, während das „Unterstützen/Konsumieren“
kaum Erwähnung findet. Auch die geführten Interviews und alltäglichen Dialoge heben
die Bedeutung dieser neoliberalen Zielstellungen hervor, die offenbar am stärksten
geschätzt werden.
Georg Gappmayer schlussfolgert, dass eine Diskrepanz zwischen den Einrichtungspolitiken
und der tatsächlichen Versorgungspraxis besteht. Er führt diese Kluft auf idealisierte
westliche Persönlichkeitsvorstellungen zurück, wonach Selbstbestimmung und Selbstständigkeit
zentrale Werte darstellen. Für viele Menschen mit geistiger Behinderung bleiben entsprechende
Zielstellungen aber oftmals unerreichbar.
fk
J Occup Sci 2019; 26: 258–274
Missverhältnis zwischen Theorie und Praxis
„Meine Argumentation ist, dass beide, die alltägliche Praxis und die Dokumente, ein
Spannungsfeld hervorrufen, in dem alle Akteure steckenbleiben. Auf der einen Seite
stehen die hochgeschätzten Ziele, selbstständig und selbstbestimmt zu sein, die Betätigungen
auf einem normativen Level beeinflussen. Auf der anderen Seite wird die Mehrheit der
täglichen Praktiken durch das Ziel des ‚Unterstützens/Konsumierens‘ geprägt, aufgrund
des niedrigen Fertigkeiten-Levels einiger Bewohner und der routinierten Abläufe alltäglicher
Betätigungen.“
(aus dem Englischen übersetzt)
J Occup Sci 2019; 26: 258–274
Folgt man der anthropologischen Tradition, lässt sich die Feldforschung durch ihre
Offenheit und Flexibilität charakterisieren. So kann sich die Forschungsfrage während
der Forschung entwickeln und verändern. Durch intensive Beobachtungen nimmt der Forscher
selbst am Setting teil und kommt dem alltäglichen Leben der Akteure oder Situationen
sehr nah.
J Occup Sci 2019; 26: 258–274