Diabetologie und Stoffwechsel 2019; 14(S 02): S119-S141
DOI: 10.1055/a-0898-7372
DDG-Praxisempfehlung
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Glukosemessung und -kontrolle bei Patienten mit Typ-1- oder Typ-2-Diabetes

Lutz Heinemann
1   Arbeitsgemeinschaft Diabetes & Technologie der Deutschen Diabetes Gesellschaft e. V., Ulm
,
Dorothee Deiss
1   Arbeitsgemeinschaft Diabetes & Technologie der Deutschen Diabetes Gesellschaft e. V., Ulm
2   Arbeitsgemeinschaft für Pädiatrische Diabetologie e. V., Münster
,
Thorsten Siegmund
1   Arbeitsgemeinschaft Diabetes & Technologie der Deutschen Diabetes Gesellschaft e. V., Ulm
,
Sandra Schlüter
1   Arbeitsgemeinschaft Diabetes & Technologie der Deutschen Diabetes Gesellschaft e. V., Ulm
,
Michael Naudorf
1   Arbeitsgemeinschaft Diabetes & Technologie der Deutschen Diabetes Gesellschaft e. V., Ulm
,
Simone von Sengbusch
2   Arbeitsgemeinschaft für Pädiatrische Diabetologie e. V., Münster
,
Karin Lange
1   Arbeitsgemeinschaft Diabetes & Technologie der Deutschen Diabetes Gesellschaft e. V., Ulm
2   Arbeitsgemeinschaft für Pädiatrische Diabetologie e. V., Münster
,
Guido Freckmann
1   Arbeitsgemeinschaft Diabetes & Technologie der Deutschen Diabetes Gesellschaft e. V., Ulm
› Author Affiliations
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Publication History

Publication Date:
29 October 2019 (online)

Überblick

Diabetes mellitus ist gekennzeichnet durch ausgeprägte Glukoseschwankungen infolge fehlender oder insuffizienter physiologischer Regelungssysteme. Ziel der Diabetestherapie ist es, diese Schwankungen durch Gabe von Insulin, Antidiabetika oder durch Lebensstiländerungen zu begrenzen. Regelmäßige Glukosemessungen sind zur Verlaufskontrolle der Diabetestherapie unverzichtbar, um entweder sofortige Entscheidungen zur geeigneten Dosierung der antidiabetischen Medikation oder zur Zufuhr von Kohlenhydraten zu treffen. Die retrospektive Analyse der Stoffwechsellage durch die HbA1c-Messung dient vor allem der Abschätzung des Langzeitrisikos für mikro- und makrovaskuläre Komplikationen. Der HbA1c-Wert gibt aber keinen Aufschluss über Glukoseschwankungen, die zu akuten Komplikationen wie Hypoglykämien und Ketoazidosen führen.

In den vergangenen Jahrzehnten erfolgten die Stoffwechselselbstkontrollen durch Messung der kapillären Blutglukose mit entsprechenden Messsystemen („Blutzuckermessgeräte“; SMBG-Systeme). Diese wurden über die letzten 30–40 Jahre hinweg sowohl in Bezug auf Größe und Handhabbarkeit als auch in analytischer Hinsicht wesentlich weiterentwickelt. So erreichen einige Systeme inzwischen eine Messgenauigkeit, die an die von Laborsystemen heranreicht. SMBG hat aber den entscheidenden Nachteil, nur einen Glukose-Einzelwert anzuzeigen – ohne gleichzeitige Aussagen über die Änderungsrate und -geschwindigkeit (Anstieg, Abfall) der Glukose zu machen. Dies kann unpassende Therapieentscheidungen zur Folge haben, z. B. durch Gabe von Korrekturinsulin bei rasch abfallender Glukose. Außerdem ist die Zahl der SMBG-Daten von der Möglichkeit und der Entscheidung des Patienten abhängig, die Messungen durchzuführen. Infolgedessen bleiben z. B. häufig nächtliche oder asymptomatische Hypoglykämien unentdeckt.

Seit etwa 15 Jahren stehen Systeme zum kontinuierlichen Glukosemonitoring (CGM) in der interstitiellen Gewebsflüssigkeit (ISF) zur Verfügung: Während Messungen mit SMBG-Systemen unter Alltagsbedingungen bei Erwachsenen mit Typ-1-Diabetes durchschnittlich 4- bis 7-mal täglich durchgeführt werden, liefern CGM-Systeme einen vollständigen Überblick über 24 Stunden, i. d. R. mit Messwerten in 5-minütigen Abständen. Die registrierten CGM-Profile visualisieren den Glukoseverlauf, d. h., sie zeigen Schwankungen in den Glukosekonzentrationen an, die Folge nicht genau vorhersagbarer und nur bedingt beeinflussbarer Stoffwechselprozesse sind, wie z. B. Mahlzeiten, körperliche Aktivitäten, Stress, Krankheit und diverse andere. Im Sinne einer besseren Glukosekontrolle ist eine zeitnahe Kenntnis des aktuellen Glukosewerts und seiner Dynamik eine wichtige Information, um diese optimieren und gleichzeitig akute Komplikationen vermeiden zu können. Wenn auch bei etlichen Patienten mit ausreichend häufigen SMBG-Messungen eine befriedigende Glukosekontrolle möglich ist, können durch CGM die Teilhabe am Leben gefördert und psychische Belastungen reduziert werden. Dies gilt insbesondere für Kinder mit Typ-1-Diabetes, die noch nicht in der Lage sind, körperliche Symptome, z. B. einer Hypoglykämie, zu identifizieren. Die Zahl der täglich erforderlichen Blutglukosemessungen liegt bei ihnen oft über 20 – mit entsprechender Belastung der Kinder und Eltern. Dies gilt insbesondere für regelmäßige nächtliche Messungen. CGM-Systeme stellen zudem eine technische Innovation dar, die erst die Etablierung von Systemen mit automatisierter Insulinabgabe (Automated Insulin Delivery (AID)-Systemen) ermöglicht.

Für Menschen mit Diabetes war in der Vergangenheit das Ausüben von Berufen erschwert, bei denen sie im Fall einer Hypoglykämie sich selbst und andere Menschen hätten gefährden können, z. B. Pilot, Busfahrer oder Polizist. Durch CGM-Systeme kann eine Teilhabe am Arbeitsleben mit Aufrechterhaltung der Erwerbsfähigkeit erreicht werden (gesetzlich vorgesehen im § 49 SGB IX und gesamtgesellschaftlich notwendig und sinnvoll).

In der Praxis werden Systeme eingesetzt, die die Messergebnisse unmittelbar anzeigen, die sogenannten Real-time-CGM-Systeme (rtCGM). Aktuelle Glukosewerte werden numerisch und grafisch dargestellt, ebenso Glukosetrends mit Angabe der Richtung und der Änderungsgeschwindigkeit des Glukosewerts. Zusätzliche Sicherheit entsteht durch programmierbare Alarme, die vor Hypo- und Hyperglykämien warnen. Eine langfristige Stoffwechseloptimierung setzt jedoch eine kontinuierliche Nutzung der rtCGM-Systeme voraus, wobei bisher nicht gut untersucht wurde, wie Patienten CGM-Systeme in der Realität nutzen.

Die aktuellen Generationen der rtCGM-Systeme besitzen im Vergleich zu Systemen früherer Generationen eine erheblich verbesserte Messgenauigkeit. Davon unabhängig kann es aufgrund einer physiologischen zeitlichen Verzögerung zwischen Blut- und Gewebeglukosekonzentration vor allem bei raschen Anstiegen und Abfällen im Glukoseverlauf zu Abweichungen zwischen den Messwerten in den beiden Kompartimenten kommen. Die rtCGM-Systeme beruhen meist auf sogenannten „Nadelsensoren“, die eine unmittelbare Anzeige der gemessenen Glukosewerte auf speziellen Empfangs- und Anzeigegeräten („Handhelds“), Insulinpumpen oder über eine App auf einem Smartphone ermöglichen. Als Alternative zu den Nadelsensoren, die im einwöchigen oder zehntägigen Rhythmus ausgetauscht werden müssen, steht zurzeit ein implantierbarer Langzeitsensor für ein rtCGM-System zur Verfügung (Nutzungsdauer bis zu 6 Monate).

Eine weitere, vielfach verwendete Variante von CGM-Systemen stellt ein Nadelsensorsystem dar, bei dem zum Anzeigen/Auslesen der Messwerte das Lesegerät in die Nähe des Sensors gehalten werden muss (intermittent scanning CGM; iscCGM). Nach dem Scannen werden der aktuelle Glukosewert und retrospektiv die kontinuierlichen Glukosedaten (alle 15 min) der letzten 8 Stunden angezeigt. Dieses System kann nicht kalibriert werden. Ein weiterer Vorteil besteht in den geringeren Kosten. Dieses CGM-System wird auch von Patienten mit Typ-2-Diabetes eingesetzt; es stellt eine Alternative zur SMBG dar. IscCGM kann auch – wenn es nur kurzzeitig situativ eingesetzt wird – ein wichtiges „Schulungsinstrument“ sein. Die Möglichkeit der Evaluierung all der Faktoren, die einen Einfluss auf den Glukoseverlauf haben, ist ausgesprochen aufschlussreich. Bei der ersten Gerätegeneration war ein Nachteil das Fehlen von Alarmen. Dank des relativ einfachen und schnellen Scannens konnte schon mit der ersten Gerätegeneration die Zahl an Hypo- und Hyperglykämien reduziert werden. Die zweite Gerätegeneration bietet nun Alarmfunktionen an (s. u.).

Aktuelle Auswertungen aus den USA von einer großen Zahl von Patienten mit Typ-1-Diabetes, die CGM-Systeme nutzen, deuten bei einem großen Teil der Anwender auf eine mangelnde Verbesserung in der Glukosekontrolle hin. Unserer Ansicht nach ist dies der Beleg dafür, dass die Bereitstellung der technischen Optionen per se nicht ausreichend ist, sondern Patienten und Diabetesteams müssen in der adäquaten Nutzung dieser diagnostischen Option ausreichend geschult werden. Außerdem ist eine regelmäßige retrospektive Datenanalyse zur Anpassung der Therapie notwendig, um eine anhaltende Stoffwechselverbesserung zu erreichen. Viele Patienten nutzen nur die Real-time-Anzeige ihres Anzeigegeräts oder Smartphones, um auf den angezeigten aktuellen Glukosewert und den Trendpfeil mit Therapieanpassungen zu reagieren („Navigationshilfe“). Sie laden sich aber nicht in regelmäßigen Abständen die CGM-Daten auf einen Computer oder ihr Smartphone herunter, um den Gesamtverlauf über die Zeit hinweg zu beurteilen. Deshalb sollte dies bei den Arzt-Patienten-Gesprächen auf jeden Fall erfolgen, auch wenn diese Kommunikation zeitintensiv sein kann. Die Hersteller unterstützen die Nutzer durch immer bessere Softwarelösungen bei den Auswertungen der CGM-Daten. Solche Analysen können auch konkrete Hinweise für die Anpassung der Diabetestherapie liefern. Insgesamt sollte der Patient einen „aktiven“ Blick auf die Glukosewerte haben und mit ihnen „arbeiten“. Ebenso sollten Arzt und Diabetesteam den Patienten regelmäßig mit einer konstruktiven Datenanalyse unterstützen.

Im Folgenden werden die verschiedenen Optionen zur Glukosemessung unter Verwendung einer einheitlichen Gliederungsstruktur erläutert. Der Entscheidungsbaum dazu in [Abb. 1] vermittelt einen raschen Überblick, welches Glukosemesssystem für welchen individuellen Patienten am besten geeignet erscheint. Dabei ist die Ausgangsituation, dass der Patient in die Praxis/Klinik kommt und es gilt, sein medizinisches Problem zu erkennen und die verschiedenen Optionen der Glukosemessung mit ihm zu besprechen. Die Entscheidung dazu, welche Option realisiert wird, sollte gemeinsam durch Patient, Diabetologe und Diabetesberaterin erfolgen. Ein Wechsel des verwendeten CGM-Systems soll je nach medizinischem Bedarf des Patienten erfolgen. Aufgrund der langen Laufdauer der Krankenkassenrezepte für jegliches Produkt braucht ein Produktwechsel unter Umständen einen gewissen Vorlauf.

Die Entscheidung für eine Option sollte primär durch medizinische und soziale Indikationen (z. B. Hypoglykämien, Schwangerschaft, berufliche und private Lebenssituation) geleitet werden, nicht durch ökonomische Aspekte. Dabei stellt SMBG die erste Stufe dar, die jeder Patient unbedingt beherrschen und nutzen sollte. Erst dann sollte eine Umstellung auf rtCGM/iscCGM erfolgen. Die Entscheidung darüber, welche der beiden derzeit angebotenen CGM-Optionen geeignet ist, hängt von den individuellen Bedingungen des Patienten ab. Eine intensive Schulung in der jeweiligen Diabetestherapieform ist Vorbedingung und für die CGM-Version begleitend erforderlich. Bei mangelnder Nutzung der Möglichkeiten von rtCGM stellt der Wechsel auf iscCGM eine Option dar. Umgekehrt kann bei Nichterreichen der Therapieziele oder instabiler Glukosekontrolle unter iscCGM der Wechsel auf rtCGM sinnvoll sein. Mangelnde Adhärenz bei rtCGM oder iscCGM sollte zur Beendigung der Nutzung dieser Systeme führen.

Bei Kindern kann das Vorgehen davon abweichen. Diese erhalten heutzutage häufig schon initial eine Insulinpumpe und rasch ein CGM-System. Kinder unter 2 Jahren bekommen vielfach primär direkt beides, weil bis zu 20 SMBG-Messungen pro Tag eine zu hohe Belastung für Kind und Eltern darstellen. Diese Patientengruppe profitiert besonders von den neuen technischen Optionen.

Aussagen zur therapeutischen Nutzung der beim Glukosemonitoring erhaltenen Messwerte bei verschiedenen Patientengruppen werden in den jeweiligen anderen Praxisempfehlungen der DDG gemacht.

Die vorliegenden Praxisempfehlungen nennen keine Produktnamen bei Blutzuckermesssystemen, obwohl der Bedarf für eine Positivliste deutlich vorhanden ist. Ebenso werden keine Angaben zu technischen Details von spezifischen Produkten gemacht, da deren Weiterentwicklung zu rasch verläuft (s. Homepages der Hersteller).

Bei dieser Praxisempfehlung handelt es sich nicht um eine evidenzbasierte S3-Leitlinie. Entsprechend werden Aussagen nicht durch Literaturzitate belegt. Die Empfehlungen beruhen auf klinischen und praktischen Erfahrungen der Autoren und der aus Studien abgeleiteten Evidenz im Sinne einer möglichst guten Nutzbarkeit im Alltag. Außerdem werden keine Aussagen zur Diabetesdiagnose und zum Einsatz von Systemen zur Glukosemessung in diesem Zusammenhang gemacht (s. dazu die entsprechende Praxisempfehlung).

Die Autoren dieser Praxisempfehlung sind Mitglieder der AG Diabetes & Technologie e. V. (AGDT) und/oder der Arbeitsgemeinschaft für Pädiatrische Diabetologie e. V. (AGPD), die als Arbeitsgemeinschaften unter dem Dach der DDG verortet sind. Die AGDT hat eine Reihe von Stellungnahmen und Publikationen zu Aspekten erstellt, die in dieser Praxisempfehlung behandelt werden; diese sind auf der DDG- und der AGDT-Homepage zu finden. Diese Praxisempfehlung wurde mit der Kommission für Labordiagnostik in der Diabetologie (KLD) konzertiert. Ebenso fließen Aussagen aus der aktuellen S3-Leitlinie zum Typ-1-Diabetes, publiziert im März 2018, sowie der S3-Leitlinie bei Kindern und Jugendlichen [Neu A, Bürger-Büsing J, Danne T, Dost A, Holder M, Holl RW, Holterhus PM, Kapellen T, Karges G, Kordonouri O, Lange K, Müller S, Raile K, Schweizer R, von Sengbusch S, Stachow R, Wagner V, Wiegand S, Ziegler R. Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus im Kindes- und Jugendalter. S3-Leitlinie der DDG und AGPD 2015. AWMF-Registernummer 057-016 © Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) 2015. S. 1–18] ein, die unter der Federführung der AGPD im Jahr 2015 publiziert wurde.