Carbon M.
et al.
Tardive dyskinesia risk with first- and second-generation antipsychotics in comparative
randomized trials: a meta-analysis.
World Psychiatry 2018;
17: 330-340
Spätdyskinesien (im Englischen Tardive Dyskinesia oder kurz TD) sind besonders gefürchtete
Nebenwirkungen von Antipsychotika. Sie sind nicht nur sehr belastend, sondern auch
potenziell irreversibel. Viele Ärzte gehen davon aus, dass TDs bei der Behandlung
mit Antipsychotika der zweiten Generation (Second Generation Antipsychotics oder kurz
SGAs) seltener auftreten als bei den Antipsychotika der ersten Generation (First Generation
Antipsychotics oder kurz FGAs). Das hängt möglicherweise damit zusammen, dass FGAs
anders an einen bestimmten Dopamin-Rezeptor (D2) binden. Bei hochdosierter Gabe von
FGAs gilt das Risiko einer TD als besonders hoch, insbesondere dann, wenn bereits
früh im Verlauf der Behandlung ein Parkinsonoid auftritt.
Die Annahme, dass SGAs den FGAs in Bezug auf das Auftreten von TDs überlegen sind,
wurde jedoch in den letzten Jahren in Frage gestellt, weil einige neuere randomisierte
Studien keinen Unterschied zwischen beiden Medikamentengruppen fanden. Maren Carbon
und Kollegen fassten daher in ihrer aktuellen Metaanalyse die Daten von über 10 000
Patienten zusammen, die in 32 randomisierten Studien mit einem FGA oder einem SGA
behandelt wurden. In den meisten Studien dauerte die Behandlung ein Jahr. Die Patienten
waren im Mittel seit 14 Jahren an einer Schizophrenie-Spektrum-Störung erkrankt. Das
Auftreten von TDs wurde mit standardisierten Messinstrumenten festgestellt, aber auch
die klinische Beobachtung eines Auftretens von TDs wurde ausgewertet.
Das Ergebnis: Die jährliche Rate des Auftretens von TDs ist bei SGAs geringer als
bei FGAs. Das gilt sowohl, wenn man die mit den standardisierten Messinstrumenten
erhobenen Daten betrachtet (2,6 vs. 6,5 %, Relative Risk [RR] = 0,47), als auch wenn
man die klinischen Beobachtungen auswertet (0,9 vs. 3,8 %). Dieser Unterschied war
laut den Autoren nicht abhängig von der Dosierung der FGAs. Innerhalb der Gruppe der
SGAs war die Wahrscheinlichkeit eines Auftretens von TDs besonders niedrig bei der
Behandlung mit Olanzapin (RR = 0,67 im Vergleich zu allen anderen SGAs). Bei diesem
Vergleich innerhalb der SGAs wurde Clozapin allerdings nicht mitberücksichtigt. Auch
unter Clozapin treten erfahrungsgemäß sehr selten TDs auf.
Die Stärke des Effekts ist allerdings nicht sehr groß: Für den Vergleich zwischen
FGAs und SGAs beträgt die jährliche Number needed to treat (NNT) 20. Dies bedeutet,
dass bezogen auf den Beobachtungszeitraum von einem Jahr 20 Patienten mit einem SGA
behandelt werden müssen, um das Auftreten von einem Fall von TD zu verhindern. Für
den Vergleich von Olanzapin zu anderen SGAs beträgt die NNT sogar nur 100.
Die Autoren der Studie meinen, dass eine jährliche NNT von 20 das tatsächliche Risiko
einer Spätdyskinesie unterschätzt, da die meisten Patienten über viele Jahre behandelt
werden. Das TD-Risiko ist kumulativ, es steigt also mit jedem Jahr an. Daher könnten
die gefundenen Unterschiede über den gesamten Behandlungsverlauf durchaus sehr relevant
sein. Bei der Entscheidung, ob von den verfügbaren SGAs allerdings tatsächlich Olanzapin
gewählt wird, sollten angesichts der nur gering ausgeprägten Überlegenheit in Bezug
auf die TDs auch andere Nebenwirkungen wie die Gewichtszunahme berücksichtigt werden.
PD Dr. Jan Philipp Klein, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität zu
Lübeck