Fortschritte bei Diagnostik und Therapie Neuromuskulärer Erkrankungen: Göttinger Heft
II
Neuromuskuläre Erkrankungen stellen für alle behandelnden Disziplinen eine besondere
Herausforderung dar. Die Gründe hierfür sind die großen klinischen Spannbreiten, die
variablen Verläufe und die dadurch differenzierten Anforderungen an die interdisziplinäre
Diagnostik. Seit den 1950er-Jahren hat sich die nerven- und muskelbioptische Morphologie
zu einem diagnostischen Goldstandard entwickelt. Die Anwendung elektronenmikroskopischer
Verfahren in den 1960er-Jahren und die Einführung immunhistochemischer Techniken in
den 1980er-Jahren hat zu einer enormen Bereicherung der diagnostischen Möglichkeiten
und des pathophysiologischen Verständnisses geführt. Komplexe Proteinnetzwerke und
eine Fülle von Signalwegen sind so in Nerv und Muskel entdeckt und in ihren Interaktionen
aufgeklärt worden. Durch die Anwendung sensitiver molekularer Techniken wird das Wissen
über die Funktionen einzelner Proteine, Metabolite und ultrastruktureller Kompartimente
immer detaillierter. So wird aktuell eine Fülle neuer Biomarker identifiziert, die
in der klinischen Diagnostik und in der Erforschung Neuromuskulärer Erkrankungen zur
Anwendung kommen – und zwar sowohl bei den erworbenen Erkrankungen als auch bei den
genetischen Entitäten.
In dem Beitrag von Sabrina Zechel und Christine Stadermann wird am Beispiel der Myositis
deutlich, wie sehr die Muskel-bioptische Diagnostik von der immunhistochemischen Analyse
spezifischer Immunmarker profitiert. Sie trug wesentlich zu der aktuell diversifizierten
Klassifikation entzündlicher Muskelerkrankungen bei. Wie wichtig die interdisziplinäre
Betrachtung der muskelbioptischen und immunologischen Befunde bei der diagnostischen
Einordnung der klinischen Symptomatik ist, zeigt der Beitrag von Peter Korstan, Jens
Schmidt und ihren Koautoren. Sie beschreiben das „Göttinger Modell“, bei dem im Rahmen
von interdisziplinären Fallkonferenzen die Befunde von Patienten aus den Blickwinkeln
verschiedener Fachdisziplinen bewertet werden und in diagnostische und therapeutische
Strategien münden.
Die Einführung des Next-Generation-Sequencing (NGS) ist ein weiterer diagnostischer
Meilenstein. Es eröffnet die Möglichkeit, den ursächlichen genetischen Defekt nicht
invasiv in einer relativ kurzen Zeit mit vertretbarem finanziellem Aufwand zu identifizieren
und damit zu einer definitiven Diagnose zu gelangen. In einer früher kaum für möglich
gehaltenen Zeit wurden und werden neue Gene und Genfamilien identifiziert, deren gestörte
Funktionen nun mehr oder weniger spezifischen Neuromuskulären Erkrankungen zugeordnet
werden konnten und können. Diese neuen Techniken bereicherten und akzelierten die
molekulare Erforschung immens – und sie tun dies sehr erfolgreich weiterhin …
Wie gewinnbringend die Untersuchung von Biomarkern, die Analyse von Nerv- und Muskelbiopsien
und die Identifikation der ursächlichen genetischen Defekte sind, davon zeugen 3 weitere
Übersichtsartikel in diesem Heft. Alexander Mensch, Stephan Zierz und Torsten Kraya
zeigen am Beispiel der distalen Myopathien, dass sich das genetische Spektrum erheblich
erweitert und zu einer differenzierten Klassifikation geführt hat. Sie entwickeln
daraus diagnostische Handlungspfade, die eine rasche spezifische Diagnosestellung
ermöglichen. Michael Bartl, Michael Sereda und Koautoren beschreiben den eindrucksvollen
Wissenszuwachs bei den Charcot-Marie-Tooth-Erkrankungen. Die Aufklärung der pathophysiologischen
Mechanismen eröffnen bei diesen hereditären Neuropathien völlig neue Therapie-Optionen.
Dass durch die molekulargenetische Aufklärung mittels NGS bislang pathophysiologisch
getrennt angesehene Krankheitsbilder in neuen Erkrankungsgruppen zusammengefasst werden,
wird in dem Beitrag von Peter Freisinger und Thomas Klopstock deutlich. Sie arbeiten
heraus, dass neben der für die betroffenen Familien so wichtigen Diagnosestellung
mit Konkretisierung der Prognose und genetischer Beratung die Erkenntnisse direkt
in pathophysiologisch begründete Therapieansätzen münden können.
Aber nicht nur das klinische Wissen und die diagnostischen Handwerkzeuge haben sich
in den letzten Jahrzehnten diversifiziert. Die symptomatischen Behandlungsoptionen
wurden in den vergangenen Jahrzehnten überaus erfolgreich weiterentwickelt. Als Beispiele
seien die hoch entwickelten orthopädischen Operationstechniken genannt, die personalisierten
Beatmungsmodi, die modernen kardiotropen Arzneimittel und und und. Für eine Vielzahl
von Neuromuskulären Erkrankungen wurden die Erfahrungen der interdisziplinären Behandlungsoptionen
detailliert zusammengetragen und in Form von Empfehlungen oder als Leitlinien international
publiziert. Sie haben bei sehr vielen Patienten zu einer deutlichen Verbesserung der
Lebensqualität und der Prognose geführt.
Das Wissen um die molekularen Abläufe und Funktionsstörungen bei Neuromuskulären Erkrankungen
hat darüber hinaus die Entwicklung innovativer molekularer Therapien ermöglicht. Diese
modifizieren entweder die Auswirkungen des genetischen Defekts auf molekulargenetischer
Ebene oder greifen kompensierend in gestörte Signalwege und Proteinnetzwerke ein.
Der „Orphan Drug Status“ derartiger Arzneimittel hat sicher dazu beigetragen, dass
momentan so viele Pharmaunternehmen klinische Studien auf den Weg gebracht haben und
noch bringen werden. Davon zeugt die Übersicht von Moritz Metelmann, Max Holzer und
Andreas Hermann zum aktuellen Stand kausaler Therapien der Amyotrophen Lateralsklerose.
Sie zeigen, dass mittels Inhibitoren und Anti-Oxidantien die gestörten Signalkaskaden
und Proteinnetzwerke spezifisch beeinflusst werden sollen. Über die klinische Anwendbarkeit
und die klinischen Effekte von Nusinersen, einem für die Behandlung der Spinalen Muskelatrophie
seit 2017 zugelassenen Arzneimittel, berichten abschließend Alma Osmanovic, Olivia
Schreiber-Katz und ihre Koautoren. In ihrem Artikel verdeutlichen sie die Machbarkeit
und Verträglichkeit dieser kausalen Therapie bei Patienten mit Typ 2–4.
Die genannten Beiträge dokumentieren eindrucksvoll die rasanten Entwicklungen im Verständnis
der molekularen Pathophysiologie und das daraus erwachsende Potenzial für die Entwicklung
neuer Therapiestrategien. Sie zeigen, dass die Neuromuskulären Erkrankungen die Vorreiter
sind bei der erfolgreichen Transition „From bench to bedside“.