Deutsche Heilpraktiker-Zeitschrift 2019; 14(02): 19-21
DOI: 10.1055/a-0872-7493
Praxis
Hintergrund
© Karl F. Haug Verlag in Georg Thieme Verlag KG

Gar nicht vegetarisch …

Elvira Bierbach
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Publication Date:
12 April 2019 (online)

 

Summary

Heparin, Hyaluron und Co.: Obwohl sie auch synthetisch produziert werden könnten, werden viele Wirk- und Hilfsstoffe aus tierischen Materialien gewonnen. Der Grund sind die niedrigeren Kosten. Die Tiere, die als Quelle für die benötigten Substanzen dienen, werden in der Regel unter den Bedingungen der Massentierhaltung gezüchtet, gehalten und konsumiert. Verbrauchern, aber auch Verordnenden, ist oftmals nicht bewusst, dass ein Medikament oder Nahrungsergänzungsmittel tierische Substanzen (aus der Massentierhaltung) enthält.


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Foto: © Adobe Stock / Dragana Gordic

...und schon gar nicht vegan! in ungeahnt vielen ARZNEI- UND NAHRUNGSERGÄNZÜNGSMITTELN sind tierische Substanzen enthalten.

WAS WÜRDEN Sie tun, wenn Ihnen eine Patientin, die sich lakto- ovo-vegetarisch ernährt, bei der Arzneimittelanamnese verrät, dass sie ein Nahrungsergänzungsmittel mit Chondroitinsulfat einnimmt? Sie leidet an Kniearthrose Stadium 2 und möchte durch die Einnahme das Fortschreiten des Gelenkverschleißes eindämmen. Denn Chondroitinsulfat werden knorpelaufbauende beziehungsweise -erhaltende Eigenschaften zugesprochen.

Sie würden die Patientin womöglich fragen, ob sie weiß, dass Chondroitinsulfat nicht vegetarisch ist. Es wird nämlich aus Knorpel von zum Beispiel Rindern, Hühnern und Haien hergestellt. Sie würden des Weiteren fragen, ob das ein Problem für die Patientin darstellt. Falls ja, würden Sie ihr im besten Fall vegetarische oder gar vegane therapeutische Alternativen vorschlagen.

Doch mal Hand aufs Herz: Hätten Sie auf Anhieb gewusst, dass der Wirkstoff nicht vegetarisch ist? Und hätten Sie die Frage, ob ein Arznei- oder Nahrungsergänzungsmittel tierische Substanzen enthält, überhaupt berücksichtigt? Die folgenden Informationen sollen Sie dabei unterstützen, ernährungsspezifische und tierethische Fragestellungen in der Arzneimittelanamnese zu beachten. Vor allem dann, wenn die vegetarische/vega- ne Lebensweise unserer Patienten dies erfordert. Fangen wir zunächst mit den relativ eindeutigen Wirk- und Hilfsstoffen tierischen Ursprungs an.

Kurz Gefasst
  1. Heparin, Hyaluron und Co.: Obwohl sie auch synthetisch produziert werden könnten, werden viele Wirk- und Hilfsstoffe aus tierischen Materialien gewonnen. Der Grund sind die niedrigeren Kosten.

  2. Die Tiere, die als Quelle für die benötigten Substanzen dienen, werden in der Regel unter den Bedingungen der Massentierhaltung gezüchtet, gehalten und konsumiert.

  3. Verbrauchern, aber auch Verordnenden, ist oftmals nicht bewusst, dass ein Medikament oder Nahrungsergänzungsmittel tierische Substanzen (aus der Massentierhaltung) enthält.

Gelatine ist in vielen Medikamenten

Veganer und Vegetarier achten darauf, möglichst keine Gelatine zu sich zu nehmen, denn diese wird aus der Haut und aus den Knochen von Rindern und Schweinen hergestellt. Viele Hersteller haben sich mittlerweile darauf eingestellt und bieten Gummibärchen, Lakritzkonfekt oder auch Arzneimittel gelatinefrei an. Doch immer noch enthält eine Vielzahl von Medikamenten diese Substanz: Gelatine wird – von Accupro bis Zypre- xa – vor allem bei Tabletten als Trägerstoff und bei Kapseln als Überzug verwendet, insgesamt derzeit bei ca. 4600 Präparaten.


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Schellack ist ein tierisches Ausscheidungsprodukt

Ein anderer Überzug für Dragees sowie für magensaftresistente Arzneimittel und solche mit verzögerter Wirkstofffreisetzung ist Schellack (Lacca). Dieses Produkt wird aus der harzartigen Absonderung weiblicher Lackschildläuse (Kerria lacca), die auf bestimmten Bäumen besonders in Süd- und Südostasien leben, hergestellt. Mittel mit Schellack sind also streng genommen nichts für Vegetarier.


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Schweineschmalz oder Bienenwachs?

Manche galenischen Hilfsstoffe sind deutlich erkennbar tierischen Ursprungs: Schweineschmalz (Adeps suillus) oder Bienenwachs tragen ihren tierischen Spender im Namen. Gelbes Wachs (Cera flava) entsteht durch Ausschmelzen der entleerten Waben der Honigbiene. Durch anschließendes Bleichen stellt man das weiße Wachs (Cera alba) her.


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Schaf oder Kuh?

Wollwachs (Lanolin, Adeps lanae), der Name verrät es schon, wird aus Schafswolle gewonnen. Es hat als wasserfreie, wachsartige Substanz einen charakteristischen Geruch. Wasserhaltiges Wollwachs (Adeps lanae cum aqua) ist eine homogene Mischung von 75 % Wollwachs und 25 % Wasser. Diese und weitere Arten von Wollwachs sind bewährte Salbengrundlagen.

Milchzucker (Laktose), der Trägerstoff in zahlreichen Tabletten, wird durch das Eindampfen der von Lipiden, Proteinen und Mineralstoffen gereinigten Molke gewonnen.


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Tier im Arzneipelz

Es ist längst nicht immer so deutlich erkennbar, dass wir ein Arzneimittel einem Tier zu verdanken haben. Denken Sie an das Chondroitinsulfat vom Eingangsbeispiel. Hier einige weitere Beispiele:

  • Aus den Darmschleimhäuten von Schweinen werden Heparin- Calcium und Heparin-Natrium (zum Beispiel als Injektion zur Thromboseprophylaxe oder als Salbe bei Sportverletzungen) hergestellt.

  • Aus Sperma oder Rogen von Fischen wird Protaminsulfat (Protamini sulfas) gewonnen, das die Antikoagulationswirkung von Heparin mindert.

  • Das Hormon Calcitonin wird zur Behandlung von Osteoporose eingesetzt. Es wird aus Lachs hergestellt.

  • Aus Rinderhoden wird das Enzym Hyaluronidase extrahiert. Es kann Bindegewebe auflösen. Deswegen setzt man es zum Beispiel in der Zahnheilkunde in Kombination mit Lidocain zur Lokalanästhesie oder in der Orthopädie zur Injektion bei Sehnenscheidenentzündungen ein. Bei kosmetischen Behandlungen wird es verwendet, um injizierte Hyaluronsäure zum Beispiel nach Fehlbehandlungen und Unverträglichkeitsreaktionen wieder aufzulösen.

  • Hahnenkämme bilden oft das Ausgangsmaterial für Hyaluronsäure (Natriumhyaluronat), insbesondere für die Verwendung in Nahrungsergänzungsmitteln. Denn tierisches Hyaluron ist billiger als das biotechnologisch durch Fermentation von Bakterien gewonnene Hyaluron.

  • Schweine und Rinder spenden aus ihren Aortenklappen beziehungsweise aus ihrem Herzbeutelgewebe die meisten biologischen Herzklappen.

  • Pankreasextrakte vom Rind oder Schwein werden verwendet zur Herstellung von Chymotrypsin bei Verdauungsstörungen aufgrund von Pankreasunterfunktion, aber auch für Pankreas-Enzympräparate, die oft auch von Heilpraktikern verordnet werden (siehe S. 12).

  • Magenschleimhaut von Rindern, Schweinen oder Schafen enthält Pepsin. Das hieraus hergestellte Medikament fördert im Magen die Eiweißverdauung.

  • Die Galle von Gänsen, Hühnern und vielen Säugetieren enthält Chenodesoxycholsäure, die zur nichtoperativen Entfernung von cholesterolhaltigen Gallensteinen eingesetzt werden kann.

  • Hühnerembryonen stellen die Grundlage für die Herstellung von Impfstoffen und Immunglobulinen dar, weil auf ihnen zum Beispiel die Masernoder Mumpsviren gezüchtet werden.


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Tierisch lukrativ

Jedes Jahr werden durchschnittlich eine halbe Milliarde Eier allein für die Herstellung der Seren für die Grippeschutzimpfung benötigt. Die Hühner, die weltweit diese Impf-Eier produzieren müssen, scharren nicht auf dem Biohof nach Würmern, sondern werden auf speziellen Farmen gezüchtet.

Schon seit einiger Zeit wird nach Alternativen für den enormen Eierverbrauch geforscht, aber aus kommerziellen und nicht aus ethischen Gründen. Rund 5–10 % der Grippeimpfstoffe werden weltweit bereits auf Zellkulturen entwickelt. Diese stammen aus Nierentumoren von Hunden.

Uns als Verbraucher und Verordnende muss klar sein, dass die Massenherstellung von Arzneimitteln aus Tieren oder Tierprodukten nur durch Massentierhaltung möglich ist – Heparin gibt es nicht in Demeter-Qualität. Und oft wird extremes Tierleid in Kauf genommen.


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Wer weiß, was drin ist?

Mediziner untersuchten in einer Studie im Universitätskrankenhaus in Manchester, wie viele Menschen, die auf Tierprodukte in ihrer Ernährung verzichteten, das auch bei Medikamenten tun wollten. 500 Patienten nahmen an der Studie teil. Von ihnen gaben 200 an, auf Fleisch oder andere tierische Inhaltstoffe zu verzichten. Einige waren überzeugte Veganer und lehnten für sich konsequent tierische Produkte ab, andere aßen aus ethischen oder gesundheitlichen Gründen kein Fleisch, wieder andere aßen aus religiösen Gründen kein Schweinefleisch oder kein Rind. Knapp 90 % dieser 200 Personen wollten lieber Medikamente ohne tierische Inhalte einnehmen. 43 % von ihnen gaben sogar an, keinerlei Präparate mit tierischen Bestandteilen zu sich nehmen zu wollen, selbst wenn es keine Alternativen gäbe. Die übrigen würden in diesem Fall doch dazu greifen. Allerdings berichtete nur jeder fünfte Patient, dass er seinen Arzt nach solchen Inhaltsstoffen frage.

Wie die Forscher aus Manchester in einer vorangegangenen Studie festgestellt haben, konzentrieren Ärzte sich meist nur auf den Wirkstoff in einem Medikament. Die weiteren Inhaltsstoffe würden sie kaum beachten. Mehr als die Hälfte der befragten Ärzte konnte nicht sagen, ob Gelatine in den Medikamenten war, die sie verschrieben. Etwa 20 % gingen sogar fälschlicherweise davon aus, dass diese nicht darin enthalten sei. Wohlgemerkt – bei dieser Umfrage ging es nur um Gelatine. Die vielen anderen Inhaltsstoffe tierischen Ursprungs blieben dabei unberücksichtigt. Abzuklären, ob ein Arzneimittel vegan ist, kann sogar Fachleute vor Probleme stellen. Denn dazu muss eine vollständige Liste aller Bestandteile vorliegen und analysiert werden – gar nicht so einfach, sich durch die Fachausdrücke durchzukämpfen. Wer als Verordnender oder Patient auf Nummer Sicher gehen will, muss im Zweifelsfall mit dem Hersteller Kontakt aufnehmen.


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Gewissensfrage versus Gesundheit?

Solange es für viele Medikamente noch keine gelatinelosen Alternativen wie Agar-Agar gibt und noch eine Vielzahl von anderen Arzneimitteln mit Wirkstoffen aus (Massen-)Tierhaltung auf dem Markt sind, wird es für viele Patienten eine Gewissensentscheidung bleiben, ab welchem Leidensdruck sie die Präparate dennoch nehmen.

In vielen Fällen gäbe es längst gute Alternativen zu tierischen Produkten. Die Entscheidung für das tierische Produkt fällt häufig über den Preis – synthetische Herstellung ist oft teurer als die Verwendung von Schlachtabfällen. Die Pharmaindustrie reagiert meist erst dann, wenn ein Arzneimittel – zum Beispiel aufgrund gesundheitlicher Risiken – verboten wird oder einen schlechten Ruf bekommt.

Doch selbst wenn ein Medikament vollständig frei von tierischen Zutaten ist, bedeutet dies noch nicht, dass es nicht an Tieren getestet wurde. Wirklich vegan ist ein Arzneimittel genau genommen nur dann, wenn für seine Entwicklung keine Tierversuche (siehe S. 5) durchgeführt wurden.

Hinweise zur verwendeten Literatur erhalten Sie auf Anfrage bei der Redaktion.

Dieser Artikel ist online zu finden: http://dx.doi.org/10.1055/a-0872-7493


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