Die Initialisierung einer orthodontischen Zahnbewegung geschieht in aller Regel durch
Auslenkung eines Werkstoffes, dessen Rückstellkraft sich in geeigneter Weise auf die
Zähne übertragen lässt. Bei den bekannten fest auf den Zähnen angebrachten Apparaturen
sind in den meisten Fällen die elastischen Eigenschaften verschiedener Metalllegierungen
für die Zahnauslenkungen verantwortlich. Aber auch die flexiblen Materialeigenschaften
von bestimmten Kunststoffarten lassen sich zur Zahnbewegung nutzen. Ab der im Jahr
2001 durch einen US-amerikanischen Hersteller erfolgten Markteinführung in Europa
von im CAD/CAM-Großserienverfahren hergestellten, thermoplastischen Polyurethan-Kunststoff-Schienen
[1] gewann diese schon lange vorher bekannte Technik, mittels sogenannter herausnehmbarer
Aligner Kraft auf Zähne zu applizieren in den letzten Jahren weltweit immer mehr an
Bedeutung. Mittlerweile gibt es alleine im europäischen Raum über 50 verschiedene
Aligner-Hersteller [2], wobei Invisalign des Herstellers Align Technology mit bereits mehr als 6 Mio. behandelten
Patienten den globalen Marktführer darstellt [3].
Wurde durch die Deutsche Gesellschaft für Kieferorthopädie (DGKFO) in ihrer Stellungnahme
von 2010 ursprünglich nur ein eingeschränkter Indikationsbereich, unter anderem die
Behandlung dentoalveolärer Korrekturen im Sinne von „moderatem frontalem Eng- und
Lückenstand“ und „geringer In-, Extrusionen“ bei „stabiler neutraler Interkuspidation“
beschrieben [4], hat sich das Therapiespektrum für die Miniplastschienen-Therapie inzwischen deutlich
erweitert [5]
[6]
[7].
Spezifische Attachments zur Extrusionsbewegung, Impressionsflächen in Alignern zur
gezielteren Frontzahn-Torque-Bewegung oder auch flexibleres, mehrschichtiges Alignermaterial
sind unter anderem als Grund eines mit der Zeit gestiegenen Indikationsbereichs zu
nennen. So wurden z. B. spezielle Tools, wie interaktive „Bite Ramps“ auf den oberen
Inzisiven in Kombination mit entsprechenden Attachments zur gezielteren Behandlung
von Tiefbissen entwickelt. Neuerdings wurden auch rampenartige, distobukkal angebrachte
Flügel in Alignern integriert, welche, ähnlich einer funktionskieferorthopädischen
Twin-Block-Apparatur, bei jugendlichen Patienten in der Wachstumsphase zu einer Beeinflussung
der intermaxillären Kieferrelation [8] führen sollen. Neben solchen technologischen Entwicklungen der Aligner-Firmen, was
bspw. auch deren digitale Planungssoftware betrifft, ist auch die jeweils individuelle
Lernkurve des einzelnen Behandlers mit verantwortlich für die steigende Komplexität
der behandlungsfähigen Malokklusionen mittels Aligner. So hat sich diese Therapieoption
in den letzten 20 Jahren zu einem wesentlichen, nicht mehr ignorierbaren Bestandteil
insbesondere in der Erwachsenen-Kieferorthopädie entwickelt. Aber auch immer mehr
Kinder und Jugendliche werden inzwischen selbst bei Lösung komplizierter Behandlungsaufgaben,
bereits in den Wechselgebissphasen mit transparenten Miniplastschienen therapiert.
Steht bei Erwachsenen der ästhetische Aspekt und die geringere Einschränkung im Alltag
und Beruf, was Phonetik und Erscheinungsbild betrifft, im Vordergrund [9], sind es bei jungen Patienten insbesondere auch die Vorteile des scheinbar geringeren
Dekalzifizierungsrisikos während der kieferorthopädischen Behandlung gegenüber festsitzenden
Apparaturen [10], die für eine Aligner-Therapie sprechen.
Trotz der z. T. beschriebenen Weiterentwicklungen auf dem Gebiet der kieferorthopädischen
Schienentechnik verbleiben aufgrund systembedingter, unterschiedlicher Kraft- und
Drehmomentapplikation der Aligner gegenüber festsitzenden Apparaturen nach wie vor
therapeutische Einschränkungen [11]. Wie in der Literatur bereits mehrfach beschrieben, lassen sich aber durchaus auch
komplexere Bewegungen, zu denen auch vertikale Korrekturen zählen, durchaus in einem
bestimmten Ausmaß mit transparenten Aligner durchführen [12], [13]. Diese Erkenntnisse sollen im vorliegenden Artikel an entsprechenden Patientenbeispielen
deskriptiv dargestellt werden.
Die kieferorthopädischen Therapieziele der vertikalen Veränderung bei der Behandlung
von Tiefbissen sind grundsätzlich die Intrusion der Frontzähne, bei idealerweise gleichzeitiger
Extrusion der Seitenzähne, in Abhängigkeit unter anderem von Schädelstruktur, Profil
oder Lippenlinie. Andererseits sind bei einem frontal offenen Biss im Allgemeinen
die Frontzahnextrusion und die Intrusion der posterioren Dentition anzustreben. Dabei
handelt es sich bei dieser Art der orthodontischen Kraftausübung gemäß dem dritten
Newton’schen Axiom jeweils immer um ein reziprok wirkendes Kraftmodell. Nur sind in
der kieferorthopädischen Anwendung die Art und die Höhe der Kraftapplikation durch
die Aligner, die Verankerungsverhältnisse sowie zusätzlich beeinflussende, patientenspezifische
Besonderheiten die entscheidenden Parameter einer wirksamen klinischen Umsetzung ([Abb. 1 a], [b]).
Abb. 1 a Kraftapplikation zur Behandlung von Tiefbiss und offenem Biss – klinische Behandlungsbeispiele
vor Aligner-Therapie. b Kraftapplikation bei Tiefbiss und offenem Biss nach Behandlung mit Alignern.
Die zur Behandlung eines frontal offenen Bisses benötigten realen Extrusionskräfte
lassen sich in der Aligner-Therapie nicht ohne die Anbringung geeigneter Attachments
als Retentionselemente im Frontzahnbereich applizieren. Extrusionsversuche ohne entsprechende
Attachments auf den zu extrudierenden Zähnen, bleiben ab einem Betrag von ca. fünfzehntel
Millimetern ohne zusätzliche Mechaniken wie Gummizüge in aller Regel erfolglos, sofern
es sich dabei nicht um eine reine Retroinklinationsveränderung im Sinne einer relativen
Extrusion handelt [14]. Leicht erkennbar sind dann entsprechende Diskrepanzen zwischen der Inzisalkante
der betreffenden Zähne und dem Alignerrand ([Abb. 2]) infolge unzureichender klinischer Bewegungsumsetzung.
Abb. 2 Extrusionsversuche ohne Attachments führen zur Diskrepanz am Alignerrand – hier am
Beispiel der Zähne 11, 21.
So können spezielle, voraktivierte, softwaredeterminierte Extrusionsattachments ab
einer geplanten absoluten Extrusion von größer 0,5–2 mm die klinische Umsetzung der
vertikalen Bewegung verbessern [15]]. Dabei entsprechen diese in Ihre Grundform nicht exakt den Aussparung des jeweiligen
Aligners und sollen so, abhängig vom angestrebten Bewegungsausmaß, sowie der Form,
Größe und Zahnmorphologie zu einer Effizienzsteigerung beitragen [16]. Die ansonsten mit Aligner ohne Zusatzmechaniken grundsätzlich schwierig durchzuführende
Vertikalbewegung kann durch diese Art der Attachments somit sowohl für Einzelzahn-
als auch für En-Masse-Extrusion aller Frontzähne in ihrer Effizienz zum Schließen
offener Bisse gesteigert werden ([Abb. 3]) .
Abb. 3 Optimized Extrusion Attachments zur Einzelzahn- und En-masse-Extrusion.
Dabei sollte allerdings der Patient vor Durchführung dieser bissschließenden Maßnahme
dahingehend aufgeklärt werden, dass es sich bei dieser Art der Therapie nicht mehr
um eine „nahezu unsichtbare“, sondern nur noch um eine „wenig sichtbare“ Behandlung
handelt, denn die Attachments sind im anterioren sichtbaren Frontzahnbereich sowohl
ohne, als auch noch mehr mit eingesetzten Alignern, je nach Verlauf der Lippenlinie
durchaus erkennbar, wie das „Lächelfoto“ des Patientenbeispiels zeigt ([Abb. 4 a, b]) .
Abb. 4 a Klinisches Erscheinungsbild von Extrusionsattachments ohne Aligner bei Stage 17 von
36. b Klinisches Erscheinungsbild von Extrusionsattachments mit eingesetztem Aligner bei
Stage 17 von 36.
Diese 25 Jahre alte Patientin ([Abb. 5 a]–[d]) wurde bereits im Teenageralter mit einer Multibracketapparatur kieferorthopädisch
behandelt und mittels Lingualretainer im Unterkiefer retiniert. Die unbehandelte,
persistierende Zungendysfunktion führte allerdings trotz intakter Klebestellen zum
deutlich erkennbaren Rezidiv innerhalb von etwa 10 Jahren nach Behandlungsabschluss
([Abb. 6]). Vor Beginn einer erneuten kieferorthopädischen Korrektur wurde daher der erfolgreiche
Abschluss einer vorausgehenden logopädischen Therapie als zwingende Voraussetzung
angesehen. Die skelettale Konfiguration zeigt hier ein typisch vertikales Wachstumsmuster
bei einer weitgehend neutralen Sagittalbeziehung mit leicht protrudiert stehender
Oberkieferfront ([Abb. 7 a, b]) . Die Rekonstruktion der Panoramaaufnahme aus der digitalen Volumentomografie stellt
einen weitgehend unauffälligen Befund ohne Weisheitszähne dar. Auf den intraoralen
Aufnahmen ([Abb. 8 a]–[e]) lässt sich der 1–2 Millimeter große frontal offene Biss bei weitgehender Neutralokklusion
zu Beginn der Behandlung erkennen.
Abb. 5 a Behandlungsindikation offener Biss – extraorale Frontansicht zu Behandlungsbeginn.
b Extraorale Frontansicht mit Lächeln zu Behandlungsbeginn. c Extraorale Schräglateralansicht mit Lächeln zu Behandlungsbeginn. d Extraorale Profilansicht zu Behandlungsbeginn.
Abb. 6 Unterkiefer-Okklusalansicht – trotz suffizientem Retainer in situ zeigt sich ein
deutliches Rezidiv nach vorheriger Behandlung.
Abb. 7 a DVT-Rekonstruktion im FRS-Darstellungmodus zu Behandlungsbeginn. b DVT-Rekonstruktion im Panoramamodus zu Behandlungsbeginn.
Abb. 8 a Behandlungsindikation offener Biss – intraorale Frontalansicht zu Behandlungsbeginn.
b Intraorale rechte Seitenansicht zu Bahandlungsbeginn. c Intraorale linke Seitenansicht zu Bahandlungsbeginn. d Intraorale okklusale Aufsicht des Oberkiefers. e Intraorale okklusale Aufsicht des Unterkiefers.
Entscheidend für den grundsätzlichen medizinischen Erfolg einer Alignertherapie ist
die individuelle, exakte Planung durch einen in dieser Technik erfahrenen Kieferorthopäden
mittels einer geeigneten Behandlungssoftware. Die Festlegung des individuellen Therapiezieles
sollte dabei auf keinen Fall ausschließlich einem „Techniker“ oder einem Computeralgorithmus
überlassen werden. Mit einer interaktiven Planungssoftware wie z. B. dem „ClinCheck-Pro“
von Invisalign hat der Behandler die Möglichkeit in seiner Verschreibung und Planung
auf Basis seiner spezifischen Diagnostik exakt das angestrebte Therapieziel anzugeben.
Dabei existieren durchaus von Anbieter zu Anbieter deutliche Systemunterschiede, welche
technologischen Optionen der Behandler zur Therapieplanung und - umsetzung nutzen
kann. Allerdings dürfen hierbei nie die bekannten allgemeinen und die im speziellen
für die Alignerapplikation geltenden Grundsätze der Biomechanik mit Wirkung und Nebenwirkung
außer Acht gelassen werden, auch wenn eine bunt animierte Computersimulation den unbedarften
Anwender hierzu verleiten mag. Basis muss dabei immer eine umfassende, sorgsame Diagnostik
sein, mit dem kieferorthopädischen Bewusstsein, dass bei bedachter Anwendung sich
durchaus komplexe Behandlungsaufgaben mittels Alignern lösen lassen, aber eben in
klar umschriebenen Indikationsgrenzen. So bestimmt ausschließlich der behandelnde
Kieferorthopäde, ob und in wie weit eine Veränderung der vertikalen Dimension als
Therapieziel angestrebt wird. Danach besteht bei der Entscheidung zum Schließen eines
frontal offenen Bisses die Option sich lediglich auf die Extrusion der Ober- und/oder
Unterkieferinzisiven zu beschränken oder – über die zwangsweise reziproke Kraftapplikation
hinaus – auch „aktiv“ die Molaren zu intrudieren. Diese Vorgehensweise empfiehlt sich
grundsätzlich, sofern kein progener Formenkreis vorliegt, um über den Effekt der Autorotation
der Mandibula das Schließen der Frontzähne zu forcieren [17]
[18]. Die [Abb. 9 a] zeigt die ClinCheck-Planung mittels 35 Alignern jeweils für Ober- und Unterkiefer
(bei späteren 15 zusätzlichen Alignern zur Feinkorrektur) in der Ausgangsposition,
während [Abb. 9 b] das geplante Therapieziel mit Attachments – auch auf den Oberkiefer-Frontzähnen
und aktiv intrudierter posteriorer Dentition erkennen lässt. Im letzten Schritt Nummer
36 ([Abb. 9 c]) wird dabei die endgültige vertikale Okklusion unter simulierter Autorotation der
Mandibula im ClinCheck dargestellt.
Abb. 9 a ClinCheck-Behandlungsimulation bei Ausgangssituation – zur Korrektur sind in jedem
Kiefer 35 Aligner geplant. b ClinCheck-Planung: Endssituation bei Extrusion der Frontzähne und Intrusion der Molaren.
c ClinCheck-Planung: Endssituation mit simulierter Autorotation des Unterkiefers.
Nach 1 Jahr und 5 Monaten aktiver Behandlungszeit, mit 36 Alignern jeweils in Ober-
und Unterkiefer sowie jeweils 16 zusätzlichen Alignern gelang der Behandlungsabschluss.
Dabei konnte sowohl ein Ausformen der Zahnbögen als auch das Schließen des frontal
offenen Bisses gemäß der Behandlungssimulation im Sinne einer Bissenkung klinisch
umgesetzt werden, wie auf den finalen Intraoralaufnahmen ([Abb. 10 a, b, c]) und der Panorama-Rekonstruktion (
[Abb. 11 a]
) zu erkennen ist. Die Frontzahninklination blieb hierbei weitgehend unverändert (
[Abb. 11 b]
), wie die FRS-Rekonstruktion des finalen DVTs zeigt. Bei der exemplarischen Betrachtung
des oberen rechten zentralen und des oberen linken lateralen Inzisivus scheinen in
den korrespondierenden ArchSection-Einzeldarstellungen zu Behandlungsbeginn und -ende
neben der real erfolgten vertikalen Veränderung sich die leichte Retrusion und die
ossären Umbauprozesse der Extrusion offenbar positiv auf die Wurzel-Kortikalis-Relation
ausgewirkt zu haben (
[Abb. 12a–d]
).
Abb. 10 a Erfolgte Bisssenkung bei Behandlungsabschluss – intraorale Frontalansicht des klinischen
Ergebnisses. b Intraorale rechte Seitenansicht zu Behandlungsende. c Intraorale linke Seitenansicht zu Behandlungsende.
Abb. 11 a DVT-Rekonstuktion im Panoramamodus zu Behandlungsabschluss. b DVT-Rekonstruktion im FRS-Modus zu Behandlungsabschluss mit erfolgter Bisssenkung.
Abb. 12 a Arch Section des Zahnes 11 zu Behandlungsbeginn. b Arch Section des Zahnes 11 zu Behandlungsende bei erkennbarer frontaler Bissenkung
und verbesserter Wurzel-Kortikalis-Relation. d Arch Section des Zahnes 22 zu Behandlungsende – auch hier ist eine Bissenkung und
eine verbesserte Wurzel-Kortikalis-Relation nachweisbar.
Als stabile Retentionsmaßnahmen bei den stark rezidivgefährdeten Konstellationen der
Offenen-Biss-Therapie wurden hier sowohl palatinal bzw. lingual geklebte Retainer
im Oberkiefer von Eckzahn zu Eckzahn (
[Abb. 13 a]
)
, sowie im Unterkiefer zu den jeweils ersten Prämolaren geklebt (
[Abb. 13 b]
)
. Zusätzlich erhielt die Patientin stabile Halteschienen für die Nacht.
Abb. 13 a Intraorale Okklusalaufsicht des Oberkiefers mit Kleberetainer von Eckzahn zu Eckzahn
zur Rezivprohylaxe nach Behandlungsabschluss. b Intraorale Okklusalaufsicht des Unterkiefers mit Kleberetainer zu jweils den ersten
Prämolaren nach Behandlungsabschluss.
In der Behandlung von Tiefbissen wird grundsätzlich eine der Therapie des offenen
Bisses entgegengerichtete Vertikalbewegung der Front- und Seitenzähne beabsichtigt.
Daher werden Aligner auch zu bisshebenden Maßnahmen als bedingt geeignetes Behandlungsmittel
mit den oben bereits genannten Vorteilen beschrieben [16]. Als weitere, meist positive Eigenschaft der Aligner-Tiefbiss-Therapie kann die
systembedingte Besonderheit erwähnt werden, dass die Inzisal- und Okklusalflächen
der kieferorthopädisch zu korrigierenden Zähne durch die Miniplastschienen bedeckt
werden. Dies kann sich bei okklusionsaktiven Patienten als zahnhartsubstanzschonend
während der orthodontischen Behandlung auswirken, ebenso kann es in diesem Zusammenhang
bei jeder Art von Schienenapplikation zumindest initial zu einer unspezifischen Muskelrelaxation.
Bedingt durch eine angehobene Vertikaldimension sind in der Literatur bei CMD-Patienten
mit okklusal bedingten Belastungsvektoren auch Entlastungen einer traumatisierten
bilaminären Zone beschrieben worden [19, 20]. Diesem positiven Effekt steht häufig
zugleich – gerade bei Patienten mit vorliegender Bruxismusanamnese, die nicht selten
auch über eine horizontale Gesichtskonfiguration verfügen – der schienenspezifische
Nachteil des Entstehens eines seitlich offenen Bisses während oder nach der kieferorthopädischen
Korrektur gegenüber ([Abb. 14]
). Dieser Nebeneffekt der vertikalen Disklusion im posterioren Dentitionsbereich wirkt
sich umso ausgeprägter aus, je dicker die Schienen gestaltet sind, je länger sie pro
Tag und insgesamt über die Behandlungszeit getragen werden und je kauaktiver sich
der Patient verhält. Dieses Phänomen führt damit häufig durch bereits beschriebene
Autorotation der Mandibula zu einem anterioren Frühkontakt im Schneidezahn- und Eckzahnbereich
bei gleichzeitig vertikalem posterioren Okklusionsverlust.
Abb. 14 Entstehung eines seitlich offenen Bisses während oder nach einer Tiefbissbehandlung
bei okklusionsaktiven Patienten.
Dies ist eine der häufigsten und sehr unerwünschten Nebenwirkungen der Tiefbissbehandlung
mit Alignern, da dies einen vertikalen Okklusionsverlust für die Patienten bedeutet
und der eigentlichen anterioren Bisshebung entgegensteht. Während demnach die Behandlungssimulation
der Planungssoftware, sofern funktionsbedingte Parameter wie Zungeninterposition beachtet
werden, zum tatsächlich erreichbaren Ergebnis bei der Therapie frontal offener Bisse
ziemlich kongruent ist, unterscheidet sich die grundsätzliche Vorhersagbarkeit der
klinischen Umsetzung bei bisshebenden Maßnahmen im Frontzahnbereich deutlich. Hierfür
sind insbesondere patientenspezifische Unterschiede noch mehr als bei bisssenkenden
Maßnahmen von wesentlicherer Bedeutung. Generell lässt sich nach den empirischen Beobachtungen
des Autors, basierend auf einer Fallzahl von über 2000 mit Alignern behandelten Patienten
erkennen, dass eine erfolgreiche Tiefbisskorrektur maßgeblich von der skelettalen
Gesichtskonfiguration, vom Alter sowie den Mm. Masseter- und Temporalisaktivitäten
des Patienten abhängig ist. Dabei stehen sich die Effekte einer aktiven oder reziproken
Extrusion von Prämolaren und Molaren, wie sie sich in der animierten Behandlungssimulation
darstellen lassen und zu einer effektiveren anterioren Bisshebung beitragen könnten,
durch die allgemein erheblichen Unterschiede zwischen orthodontischen und körpereigenen
Kräften deutlich entgegen. So ist bei einem Staging-Protokoll von 0,1 bis 0,25 mm
Auslenkung pro Aligner, bezogen auf den Einzelzahn [14], mit dem vom Marktführer verwendeten Doppelschicht-Aligner-Material [15]] die Kraftapplikation auf maximal 0,4 Newton limitiert [8], während natürliche Kaukräfte durch Mm. masseter und Mm. pterygoideus medialis um
den Faktor 1000 höher sein können [21].
Niedrige Raten der Kraftapplikation werden unter anderem zur Vermeidung von Wurzelresorptionen
allgemein als biologischer angesehen [22], können aber unter Umständen nicht ausreichend genug sein, um eine effektive vertikal
gerichtete Zahnbewegung zu gewährleisten. Aus diesem Grund empfiehlt sich bei einer
Tiefbissbehandlung mittels Alignern zum einen eine deutliche vertikale Überkorrektur
von Anbeginn in der Planungssoftware vorzusehen, zum anderen sollte ein Staging gewählt
werden, welches ein Bewegungsprotokoll von 0,1 mm Intrusion pro Aligner nicht überschreitet.
Als sinnvolle Zusatzmaßnahme haben sich aus Sicht des Autors Aufbiss-Plateaus im Alignermaterial
im Palatinalbereich der oberen Inzisiven bewährt, die sich dem Behandlungsverlauf
dynamisch anpassen und so zu einer Effizienzsteigerung in der Tiefbissbehandlung beitragen
können, in dem durch Ausübung okklusaler, körpereigener Kräfte die Intrusionswirkung
auf die Frontzähne verstärkt wird. Weiterhin sollen gezielte Einkerbungen am Gingivalrand
der Aligner für eine gezieltere Kraftapplikation näher am Widerstandszentrum des Zahns
zur verbesserten Übertragung von Wurzeltorquebewegungen sorgen.
Der mögliche Effizienzgewinn dieser oben genannten Tools (
[Abb. 15]
) lässt sich am Beispiel einer zu Behandlungsbeginn 56-jährigen Patientin darstellen
(
[Abb. 16]
). Hier stand insbesondere die Erhaltung und Einordnung der Frontzähne 11 und 21 im
Vordergrund, die aufgrund ihres fortgeschrittenen parodontalen Attachmentverlustes
bereits einen Lockerungsgrad von II–III aufwiesen und vom Hauszahnarzt alternativ
zur geplanten Extraktion vorerst durch Komposit-Material provisorisch verbockt und
mittels Aufbissschiene zusätzlich stabilisiert wurden (
[Abb. 17a,b]
). Die FRS-Rekonstruktion des DVTs zu Behandlungsbeginn (
[Abb. 18 a]
) zeigt eine Deckbisskonfiguration, auf der Panorama-Rekonstruktion(
[Abb. 18 b]
) lassen sich z. T. ausgeprägte vertikale und horizontale Knochenverluste nachweisen.
Sehr deutlich erkennbar ist der Befund an Zahn 11(
[Abb. 18 c]
), bei dem sich zudem aufgrund des Parodontalverlustes bei ausgeprägter Retroinklination
eine bukkale knöcherne Deckung in der Arch Section-Darstellung radiologisch kaum darstellen
lässt. Intraoral zeigt sich im Oberkiefer zudem das Fehlen der beiden ersten Prämolaren
sowie ein ausgeprägter frontaler Engstand im Unterkiefer (
[Abb. 19 a–e]
).
Abb. 15 Innovative Smart-Force-Features von Invisalign zur Effizienzsteigerung bei Bisshebung
und Torquebewegungen.
Abb. 16 Behandlungsindikation Tiefbiss – extraorale Frontansicht zu Behandlungsbeginn.
Abb. 17 a Provisorische Kompositverblockung der mobilen Zähne 11,21 vor Behandlungsbeginn.
b Zusätzliche Aufbissschiene in situ des überweisenden Hauszahnarztes zu Behandlungsbeginn.
Abb. 18 a DVT-Rekonstruktion im FRS-Modus zu Behandlungsbeginn bei deutlich retroinklinierter
Oberkieferfront. b DVT-Rekonstruktion im Panoramamodus zu Behandlungsbeginn. c Arch Section des steilstehenden, mobilen Zahnes 11 zu Behandlungsbeginn.
Abb. 19 a Behandlungsindikation Tiefbiss – intraorale Frontalansicht zu Behandlungsbeginn.
b Intraorale rechte Seitenansicht zu Bahandlungsbeginn. c Intraorale linke Seitenansicht zu Bahandlungsbeginn. d Intraorale okklusale Aufsicht des Oberkiefers. e Intraorale okklusale Aufsicht des Unterkiefers.
Die ClinCheck-Behandlungsplanung sieht die Hebung des Tiefbisses durch langsames,
kontinuierliches Intrudieren bei gleichzeitigem Torquen der Oberkieferfrontzähne vor,
sowie die Ausformung der Ober- und Unterkieferzahnbögen zur Beseitigung der Engstände
unter Beibehaltung der Seitenverzahnung (
[Abb. 20]
). Hierfür wurden pro Kiefer 45 aktive Aligner geplant, wobei die Intrusionsgeschwindigkeit
nicht mehr als 0,1 mm pro Aligner betrug. Dabei war auch eine vertikale Überkorrektur
von etwa 1 mm vorgesehen. Die
[Abb. 21]
zeigt den Behandlungsverlauf bei Stage 18, zu erkennen sind die als Druckpunkte wirkenden
Einkerbungen an den oberen zentralen und unteren lateralen Inzisivi sowie die zur
Bisshebung vorgesehenen Attachtments, welche immer an den Nachbarzähnen der zu intrudierenden
Dentition angebracht sind.
Abb. 20 Geplante Endsituation der ClinCheck-Simulation mit jeweils 45 Alignern in Ober- und
Unterkiefer.
Abb. 21 Behandlungsverlauf bei Aligner 18 von 45 in situ.
Das Behandlungsziel wurde nach 1 Jahr und 10 Monaten mit insgesamt 10 Visiten – von
der ersten Diagnose bis zur Retentionsphase – bei zwischenzeitlich selbstständigem,
14-tägigem Alignerwechsel gemäß der digitalen Planung erreicht. Weitere, zusätzliche
Aligner im Sinne einer Nachkorrektur waren nicht notwendig. Verantwortlich für die
exakte klinische Umsetzung des vorhergesagten Behandlungsziels ist zum einen neben
der individuellen Planung, auch – wie grundsätzlich bei jeder Therapie mit herausnehmbaren
Geräten – die unbedingte Compliance des Patienten, wobei durch die geringe ästhetische
oder phonetische Beeinträchtigung diese nach unseren Erfahrungen im Allgemeinen meist
als unkompliziert eingestuft werden kann.
Neben der Beseitigung der Engstände im Ober- und Unterkiefer (
[Abb. 23 a, b]
) ist sowohl radiologisch ([Abb. 22 a,b]) als auch klinisch (
[Abb. 23 c]
) eine deutliche anteriore Bisshebung erkennbar, allerdings in etwas geringerem Umfang
als in der digitalen Behandlungssimulation gezeigt. Dies unterstreicht auch hier die
Bedeutsamkeit der notwendigen Einplanung einer vertikalen Überkorrektur. Es hat sich
bei unseren Behandlungen gezeigt, dass diese Überkorrekturmaßnahmen umso ausgeprägter
ausfallen müssen, je älter Patienten sind. Bei der Tiefbissbehandlung jugendlicher
Patienten lassen sich in der Regel vertikale Korrekturen demnach deutlich vorhersagbarer
aus der Behandlungssimulation klinisch umsetzten. Die tatsächliche Reduktion des Overbites
geht im vorgestellten Behandlungsbeispiel einher mit einer signifikanten Inklinationsänderung
der oberen zentralen Inzisivi. In der Arch-Section-Darstellung zum Behandlungsende
([Abb. 22 c]) zeigt sich im Vergleich zur Ausgangssituation (
[Abb. 18 c]
), nun eine klargezeichnete, bukkale kortikale Struktur. Diese scheinbare ossäre Regeneration,
ausschließlich durch die kieferorthopädische Intrusions- und Torque-Bewegung induziert,
steht offenbar in Kausalität mit einer klinisch verbesserten parodontalen Situation
im Bereich der attached Gingiva ([Abb. 23 a]) Der Lockerungsgrad der zentralen Inzisivi entsprach unmittelbar nach kieferorthopädischem
Abschluss dem hierbei physiologischen Grad I. Zur Retention kamen sowohl in Ober-
als auch Unterkiefer herausnehmbare Halteschienen zum Einsatz, die hier ohne weiteren
Scan oder Abformung auf Basis des finalen Aligners (Stage 45) der Planungssoftware
bereits vorab bestellt werden konnten.
Abb. 23 a Intraorale Okklusalaufsicht des Oberkiefers nach Behandlungsabschluss. b Intraorale Okklusalaufsicht des Unterkiefers nach Behandlungsabschluss . c Intraorale Frontalansicht der klinisch erfolgten Bisshebung mit sichtbarer Verbesserung
der Parodontalsituation bei Behandlungsabschluss. d Intraorale rechte Seitenansicht unmittelbar zu Behandlungsende bei moderatem passagerem
seitlich offenem Biss im Bereich der zweiten Molaren. e Intraorale linke Seitenansicht unmittelbar zu Behandlungsende bei moderatem seitlich
offenem Biss distal als Nebeneffekt bei Tiefbissbehandlung.
Abb. 22 a DVT-Rekonstruktion im FRS-Darstellungmodus zu Behandlungsbeginn. b DVT-Rekonstruktion im Panoramamodus zu Behandlungsbeginn. c Arch Section des Zahnes 11 zu Behandlungsabschluss. Nach erfolgter Intrusion und
Inklinationsveränderung ist die Bildung einer bukkalen Knochenlamelle erkennbar.
Auch bei dieser Patientin zeigt sich unmittelbar nach Behandlungsabschluss als Nebeneffekt
einer jeden Schienenbehandlung über einen gewissen Zeitraum, wie bereits oben beschrieben,
ein leicht seitlich offener Biss im Bereich der zweiten Molaren ([Abb. 23 d, e]). In aller Regel ist hier bei diesem Ausmaß mit einem spontanen Settling zu rechnen,
wenn die Schienen-Tragezeiten in der Retentionsphase auf die Nachtstunden reduziert
werden.
Insgesamt konnte bei dieser Patientin durch die Behandlung des Tiefbisses mittels
Alignern eine deutliche Verbesserung der funktionellen und parodontalen Situation
im Sinne der Zahnerhaltung, eines parodontalen Attachmentgewinns sowie der Kiefergelenksprophylaxe
erreichet werden. Gleichzeitig verbesserte sich darüber hinaus das ästhetische Erscheinungsbild
der Patientin (
[Abb. 24]
).
Schlussfolgerung
Die dargestellten Behandlungsbeispiele zeigen, dass seriell hergestellte Miniplastschienen,
basierend auf einer digitalen Planungssoftware heutzutage grundsätzlich geeignet sind,
vertikale orthodontische Veränderungen im Sinne bisshebender oder bisssenkender Maßnahmen
weitgehend vorhersagbar klinisch umzusetzen. Gegenüber bukkal oder lingual fest angebrachten
Apparaturen sind mit der Aligner-Therapie aufgrund einer sich deutlich unterscheidenden
Therapiemethodik und einer systembedingten, generell schwierigeren Kraft- und Drehmoment-Applikation
mittlerweile zwar viele, aber nicht immer alle gewohnten Zahnbewegungen möglich. Da
es zum Wesen der Aligner gehört, dass sie nun mal nicht auf den Zähnen festgeklebt
sind, sollten die alignerspezifischen Parameter bei jeder Therapieplanung gründlich
berücksichtigt werden. Dies setzt zum einen eine geeignete Indikationsstellung auf
Erhebung einer individuellen, umfassenden Anamnese und Diagnostik voraus, zum anderen
verlangt es vom verantwortungsbewussten, behandelnden Kieferorthopädien ein gewisses
Maß an Erfahrung und fachlichen Kenntnissen, die eigens in der Aligner-Therapie erforderlich
sind, um auch komplexere Behandlungsaufgaben erfolgreich lösen zu können. Dabei sollte
der Fachzahnarzt unter Anwendung moderner technologischer Soft- und Hardware-Tools,
die die verschiedenen Aligner-Hersteller mit z. T. sehr unterschiedlichem Entwicklungsgrad
mittlerweile bieten, unbedingt die Prinzipien der bekannten biomechanischen Grundsätze
wahren. Daneben sind die patientenindividuellen Eigenheiten, wie skelettale Konfiguration,
eventuelle Para- oder Dysfunktionen, Parodontalbefund, das Alter sowie bei allen herausnehmbaren
Therapiemitteln grundsätzlich unbedingt erforderliche, zuverlässige Compliance der
Patienten zu beachten. Dann bieten transparente Aligner aufgrund ihrer Unauffälligkeit,
Ihres Tragekomforts, der geringeren Wartungsintensität, der Schonung der Zahnhartsubstanz
sowie einer wahrscheinlich geringeren White-Spot- oder Kariesinzidenz nicht unerhebliche
Vorteile sowohl für den Patient als auch für den Behandler. Nicht zuletzt auch aufgrund
ihres digitalen Planungs- und Herstellungsprozesses kann die Aligner-Therapie in den
Händen des ausgebildeten Fachzahnarztes das traditionelle kieferorthopädische Therapiespektrum
sinnvoll ergänzen und wird in Zukunft wohl auch immer mehr an Bedeutung gewinnen.
Abb. 24 Harmonisch erscheinende Zahn-Lippen-Relation zu Behandlungsende.