Informationen aus Orthodontie & Kieferorthopädie 2019; 51(02): 147-149
DOI: 10.1055/a-0860-4099
Leser fragen – Experten Antworten
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Was muss ich bei der kieferorthopädischen Behandlung übergewichtiger Patienten beachten?

What do I Have to Consider when Treating Overweight Patients Orthodontically?
Julia von Bremen
1   Poliklinik für Kieferorthopädie, Justus-Liebig-Universität Gießen und Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH – Standort Gießen
› Institutsangaben
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
05. Juli 2019 (online)

Preview

Antwort

Ehrlich gesagt, wissen auch wir das noch nicht so ganz genau. Es gibt aber einige Punkte, die man bei der kieferorthopädischen Therapie im Hinterkopf haben sollte, zumal der Anteil übergewichtiger Kinder und Jugendlicher in den letzten Jahren rasant angestiegen ist. Heutzutage sind in Deutschland 15% der 3- bis 17-jährigen Kinder übergewichtig, jedes zweite bis dritte ist sogar als adipös einzustufen. Damit sind etwa 2 Mio. Kinder in Deutschland zu dick [1] und somit auch keine Seltenheit mehr in der kieferorthopädischen Praxis. Da seit Mitte der 90er-Jahre bekannt ist, dass Fettgewebe nicht nur ein Speicherort für Energie, sondern auch ein aktives endokrines Organ ist, was durchaus Folgen für den Knochenstoffwechsel und das Parodont haben kann, lohnt es, sich ein paar Gedanken zum Thema Adipositas und Kieferorthopädie zu machen.

1. Reife

Bezüglich der skelettale Reife sind gerade adipöse Mädchen ihren normalgewichtigen Altersgenossinnen offensichtlich voraus. Schon 1970 haben Frisch und Revelle [2] ihre „critical body-weight hypothesis“ beschrieben, nachdem sie festgestellt haben, dass bei 181 Mädchen zum Zeitpunkt der Menarche zwar nicht die gleiche Größe, wohl aber das gleiche mittlere Gewicht erreicht war. Hieraus entstand die Vermutung, dass bei Mädchen das Erreichen einer kritischen Körpermasse dazu führt, dass die Pubertät einsetzt. Die aktuelle Studienlage scheint dies zu bestätigen: Während extrem übergewichtige Mädchen deutlich früher in die Pubertät kommen als ihre normalgewichtigen Altersgenossinnen [3] [4] [5], gibt es für übergewichtige Jungen widersprüchliche Ergebnisse. Zum einen konnte die Arbeitsgruppe um Aksglaede [6] in ihrem Probandengut sowohl bei Jungen als auch bei Mädchen nachweisen, dass je schwerer die Kinder im Alter von sieben Jahren waren, desto früher kamen sie in die Pubertät. Auf der anderen Seite zeigten Lee et al. [7], dass Jungen, die im Alter zwischen 2–11,5 Jahre einen erhöhten Body-Mass-Index (BMI) hatten, deutlich später in die Pubertät kamen als Normalgewichtige. Dies bestätigen zahlreiche andere Studien [3] [5] [8].

Dazu kommt, dass verschiedene Studien zeigen konnten, dass der Zahnwechsel bei extrem übergewichtigen Kindern früher stattfindet als bei normalgewichtigen Gleichaltrigen [9] [10] [11] [12] [13], was aus kieferorthopädischer Sicht impliziert, dass die Erstuntersuchung bei übergewichtigen Kindern eher früher stattfinden sollte, wenn wir den Zahnwechsel noch steuern wollen.

Für die Planung einer funktionskieferorthopädischen Therapie bei adipösen Kindern ist es daher dringend nötig, einen besonderen Blick auf Zahnstatus und skelettale Reife zu werfen. So kann es bei adipösen Mädchen eher ratsam sein, etwas früher mit der Therapie zu beginnen und bei adipösen Jungen, vorausgesetzt der Zahnwechsel war nicht zu früh, aufgrund der verzögerten Pubertät unter Umständen eher etwas später.


2. Kooperation

Bei allen Formen kieferorthopädischer Therapien ist eine gute Patientenmitarbeit Schlüssel zum Erfolg. Sowohl bei der Behandlung mit herausnehmbaren Geräten als auch bei der Multibracket (MB)-Behandlung ist ein gutes Ergebnis nicht ohne Kooperation der Patienten (Tragen des Gerätes, der Gummizüge, Mundhygiene usw.) erreichbar. Und hier scheinen übergewichtige Patienten mehr Aufmerksamkeit zu benötigen als normalgewichtige Patienten. In einer in unserer Abteilung durchgeführten Studie an 175 Patienten, die mit einer MB-Apparatur behandelt wurden, zeigten lediglich 20,9% der adipösen Patienten eine gute Kooperation gegenüber 42,8% der Normalgewichtigen [14]. Dementsprechend hatten Übergewichtige auch eine längere Behandlungsdauer, mehr Termine und am Ende der Therapie deutlich mehr Gingivitiden und White-Spot-Läsionen als ihre normalgewichtigen Altersgenossen. Auch bei der Therapie mit herausnehmbaren Apparaturen ließ sich eine direkte Korrelation zwischen BMI und Tragedauer nachweisen. In einer Untersuchung mit Mikrosensor-Tragedauermessung zeigte sich, dass mit zunehmendem BMI die Tragedauer von Plattenapparaturen signifikant abnahm [15].

Selbstverständlich ist das Übergewicht per se nicht die Ursache für eine schlechtere Kooperation. Da bekannt ist, dass übergewichtige Kinder v. a. in Familien mit schwächerem Sozialstatus zu finden sind [16] und diverse Studien zeigen konnten, dass hier eher mit Kooperationsproblemen zu rechnen sein muss, sollte der erhöhte BMI den Behandler lediglich wachsamer sein lassen. Denn nicht nur die oft fehlende Unterstützung seitens der Familie kann ein Problem werden. Auch die Tatsache, dass übergewichtige Kinder deutlich häufiger in der Schule gehänselt oder sogar gemobbt werden [17] [18] kann dazu führen, dass sie das Tragen einer Zahnspange lieber vermeiden.


3. Parodontopathien/proinflammatorische Zytokine/Adipokine

Für die Parodontologen ist Adipositas seit Längerem als Risikofaktor bekannt. In ihrer systematischen Literaturübersicht zeigten Martens et al. [19], dass nicht nur für Erwachsene, sondern auch für Kinder mit erhöhtem BMI ein signifikant erhöhtes Risiko für Parodontalerkrankungen vorliegt. Die Ursache sind unter anderem proinflammatorische Zytokine, v. a. IL-6 und TNF alpha, von denen man weiß, dass sie auch bei jeder kieferorthopädischen Zahnbewegung zu finden sind. Noch weiß man nicht, was dies für Konsequenzen hat. Bei einem von vorneherein erhöhten Status dieser Zytokine könnte die Knochenresorption zwar theoretisch schneller gehen, sich die Zähne vielleicht also leichter bewegen lassen, aber wie es bezüglich des Knochenaufbaus aussieht, ist absolut unklar. 2017 zeigten Saloom et al. [20], dass sich die Zähne bei Adipösen in der Nivellierungsphase schneller bewegten als bei vergleichbaren normalgewichtigen Patienten. Zusätzlich fiel auf, dass die adipösen Patienten die initiale kieferorthopädische Zahnbewegung als deutlich schmerzhafter empfanden und sie signifikant mehr Schmerzmittel benötigten als Normalgewichtige [21]. Auch weiß man, dass eine vermehrte Ausschüttung proinflammatorischer Zytokine zu einer erhöhten entzündlichen Reaktion der Gingiva führen kann [22] [23] [24]. Dies stellt erneut ein Problem für Patient und Behandler bei der MB-Behandlung dar.

Zusätzlich zu einem erhöhten Grundlevel von proinflammatorischen Zytokinen bei Adipösen zeigt diese Patientengruppe einen veränderten Knochenmetabolismus durch Adipokine. Hierbei handelt es sich um sogenannte Fettgewebshormone (bspw. Leptin, Adiponektin, Resistin, Visfatin usw.), die direkt oder indirekt die Osteoblasten- und Osteoklastenaktivität beeinflussen [25] [26] [27]. Inwieweit dies zu Veränderungen bei der kieferorthopädischen Zahnbewegung führt, ist bis dato noch nicht geklärt.

Es gibt also noch viele offene Fragen, wenn es darum geht, was der Kieferorthopäde bei der Behandlung adipöser Patienten beachten muss. Generell lässt sich aber zusammenfassen, dass wir nicht davon ausgehen können, dass diese Patientengruppe kieferorthopädisch genauso reagiert wie normalgewichtige Patienten. Der optimale Behandlungszeitpunkt kann aufgrund der dentalen und skelettalen Reife variieren und die Patienten brauchen im Allgemeinen mehr Aufmerksamkeit, um eine adäquate Kooperation sicherzustellen. Wie sich auf zellulärer Ebene die kieferorthopädische Zahnbewegung von normal- und übergewichtigen Patienten unterscheidet, lässt sich momentan noch nicht beantworten. Aber es lohnt sich ja bekanntermaßen immer, etwas über den Tellerrand zu schauen. Und wenn die Parodontologen die Adipositas als einen Risikofaktor für Parodontalerkrankungen anerkannt haben und wir als Kieferorthopäden ebenfalls durchaus im parodontalen Bereich tätig sind, dann sollten wir zumindest wachsam sein und ein besonderes Augenmerk auf die gingivale und parodontale Situation unsere Patienten vor, während und nach der Behandlung haben.