Seit 2005 gibt es in Deutschland eine deutliche Steigerung der invasiven häuslichen
Langzeitbeatmung von ca. 1000 auf mittlerweile ca.20 000 Patienten. Die häusliche
Krankenpflege ist aufwendig und teuer: ca. 4 Mrd. Euro jährlich zahlt die Solidargemeinschaft
dafür. Zudem werden in den letzten 2 – 3 Jahren auch zunehmend tracheotomierte Patienten
(meist nach Apoplex) ohne Beatmung nach Hause entlassen.
Sachverhalt
Im Jahr 2005 gab es eine Erhebung der Europäischen Pneumologischen Gesellschaft zur
Häufigkeit der invasiv langzeitbeatmeten Patienten in häuslicher Umgebung [1]. Aufgrund dieser Daten wurden etwa 1000 invasiv beatmete Patienten für Deutschland
geschätzt. Für den Einzelfall liegen die Kosten zwischen 200 000 und 300 000 Euro
pro Jahr, in stationären Pflegeeinrichtungen mit wenigen Beatmeten oder Einrichtungen
der Phase-F sind sie deutlich geringer. Die Kosten der aufwendigen häuslichen Krankenpflege
(HKP) sind dem SGB V zugeordnet. Die Pflegedienste berechnen dann oft die Kosten der
Grundpflege nach SGB XI kaum oder häufig nicht.
Vor mehr als 10 Jahren wurden solche Patienten vorwiegend aus pneumologischen Weaningzentren
nach Hause entlassen. Es war nur eine kleine Gruppe, die nicht entwöhnt werden konnte,
meist neuromuskuläre Patienten [2]. Das hat sich im Verlauf der Jahre bis heute auch nicht wesentlich geändert [3], insbesondere nicht bei den Zentren, die sich im WeanNet einer stringenten Qualitätskontrolle
unterziehen [4]. Hier ist das Entlassmanagement strukturiert und umfasst auch immer die Einarbeitung
des Pflegedienstes für den Einzelfall bereits in der Klinik, wenn eine HKP ansteht.
Mittlerweile ist jedoch die Zahl der zu Hause invasiv beatmeten Patienten schleichend,
aber erheblich gestiegen. Das blieb lange unbemerkt, obwohl u. a. der AOK-Bundesverband
wiederholt auf das Problem hinwies [5]. Viele Krankenkassen nahmen im Prinzip nur wahr, dass die Fälle zwar sehr kostenaufwendig,
insgesamt aber selten sind und oft verstreut liegen.
Die DIGAB (Deutsche interdisziplinäre Gesellschaft für außerklinische Beatmung) packte
das Problem der Fallzunahme als erste Fachgesellschaft an und lud erstmals 2015 zum
Dialog nach Berlin ein. Unter Leitung von Simone Rosseau nahmen u. a. Vertreter verschiedener
Krankenkassen und des Medizinischen Dienstes daran teil. Auch ich selbst habe an den
Sitzungen teilnehmen und später darüber hinaus Originaldaten von Krankenkassen einsehen
können. Eine offizielle Statistik zu den Fallzahlen gab es nicht. Einige Krankenkassen
werteten ihre Daten händisch aus und kamen so auf hochgerechnet 16 000 – 27 000 Fälle
in Deutschland. Geht man von etwa 20 000 beatmeten Patienten aus, entstehen geschätzte
Kosten von ca. 4 Mrd. Euro pro Jahr. Siehe hierzu auch das Positionspapier verschiedener
Fachgesellschaften aus 2017 zur aufwendigen ambulanten Versorgung tracheotomierter
Patienten mit und ohne Beatmung nach Langzeit-Intensivtherapie [6].
Was läuft verkehrt?
Profit und Kontrolle
Zum Vergleich: 4 Mrd. Euro entsprechen in etwa der Summe, die alle beatmeten Patienten
auf allen Intensivstationen Deutschlands pro Jahr kosten (diese Zahl habe ich aus
den Aufstellungen der Kalkulationskrankenhäuser abgeleitet, die aus den jährlichen
Report-Browsern des InEK [Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus] zu erhalten
sind [7]). Wie konnte es dazu kommen, dass eine „ambulante Szene“ mit offensichtlich erheblichem
Profit entstehen konnte? Eine Antwort ist: Die Kontrollmöglichkeiten der Krankenkassen
sind außerordentlich begrenzt.
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Zum Beispiel dürfen diese in Qualitätsprüfungen nur die Qualität der häuslichen Krankenpflege
– also die des Pflegedienstes – überprüfen. Nicht aber die ärztliche Indikation, ob
eine Beatmung überhaupt erforderlich ist oder ob möglicherweise ein Weaningpotenzial
vorhanden ist.
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Außerdem ist es nicht unbekannt, dass bei den Stellenplänen in den Pflegeeinrichtungen
erhebliche Unterschiede zwischen der Papierform und der Wirklichkeit vorkommen. Dies
berichten zum Beispiel Patienten, die wieder stationär aufgenommen werden, oder Pflegedienstmitarbeiter,
die sich mitunter outen.
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Weiterhin blockiert der Datenschutz bereits einfache Kontrollmaßnahmen der Krankenkassen.
Fällt bei einer Qualitätsprüfung z. B. auf, dass eine Pflegekraft erhebliche Defizite
in ihrer fachspezifischen Tätigkeit hat, so ist es kaum möglich, das weiter zu hinterfragen
(Name, Ausbildungsnachweise usw.). Personenbezogene Daten erfahren einen so hohen
Schutz, dass in der Regel erst im Rahmen von Betrugsermittlungen eine Offenlegung
erfolgt. Dieser Aufwand wird allerdings meistens gescheut, auch aus Angst vor einer
schlechten Presse.
Wie profitabel das „Geschäft“ ist, zeigt dieses Beispiel: Im Internet werden Gewinnmargen
von bis zu 30 % für Anteile an Pflegeunternehmen versprochen, die viele häuslich Beatmete
oder Wohngruppen betreuen. Aus der Presse und eigener Erfahrung sind Fälle bekannt,
wo bei Übernahme von HKP-Patienten mit guter Prognose durch andere Pflegedienste schon
mal bis zu 100 000 Euro als Übernahmegeld gezahlt werden.
Ärztliche Indikation und Weaning
Die eigentlichen Auslöser der unnötigen häuslichen Beatmung sind die oft falsche Indikation
zur invasiven Beatmung bzw. zur HKP bei Tracheotomierten und das fehlende oder inadäquate
Weaning. Laut Krankenkassendaten stieg die Zahl der Patienten ohne Beatmung, aber
mit Tracheostoma in den letzten 2 – 3 Jahren deutlich an. Immer mehr Patienten werden
bzw. bleiben tracheotomiert, meistens nach Schlaganfall mit Schluckstörungen. Aus
der Klinik werden sie dann mit aufwendiger HKP nach Hause entlassen. Die Indikation
zur HKP besteht dann in der Überwachung und der Absaugung. Jede Tracheotomie stellt
aber immer ein erhöhtes Infektions- und damit Mortalitätsrisiko dar, denn ein Tubus
schützt nie vor stillen Aspirationen, und er verhindert den lebenswichtigen Hustenstoß.
Eine Absaugung erreicht niemals die peripheren Abschnitte des Bronchialbaums, wo die
Infektion sitzt. Die Rückverlegung einer Tracheotomie in der Klinik vor Entlassung
ist fast immer die bessere Alternative für den Patienten, denn auch bei Schluckstörungen
genügt meist der Hustenstoß, um das Bronchialsystem ausreichend zu reinigen [8].
Weaningexperten schätzen, dass nach Datenlage des MDK und einiger Krankenkassen 60 – 85 %
der invasiv beatmeten Patienten mit HKP vermeidbar sind. Hierbei spielen auch regionale
Aspekte eine Rolle. Die Patienten kommen meistens aus kleineren Krankenhäusern, bzw.
solchen, die kaum Erfahrung mit der Entwöhnung haben. Oft entlassen diese Krankenhäuser
nur einen Patienten alle 1 – 2 Jahre in die aufwendige HKP. Einen eindrucksvollen
Fall hatten wir jetzt in meinem ehemaligen Krankenhaus: Ein Patient war zu Hause jahrelang
beatmet worden, mit aufwendiger HKP und Gesamtkosten von ca. 4 Mio. Euro. Der Patient
konnte nach 3 Tagen entwöhnt werden.
Gefährliche Entwicklungen
Ein weiterer Gesichtspunkt ist die oft schlechte Versorgungslage der Patienten zu
Hause. Zum Beispiel wird nicht selten zum einfachen Wechsel eines Tracheostomas der
Notarzt gerufen. Einen betreuenden Facharzt gibt es kaum – oder er wird nicht hinzugezogen
(auch aus Angst, dass dieser den Patienten gegebenenfalls in ein Weaningzentrum verlegen
könnte). Besonders gravierend ist die Situation in den stationären Pflegeeinrichtungen
und in organisierten Wohneinheiten. Dazu habe ich Unterlagen über den MDK einsehen
können. Oft sind die Patienten nur wenige Stunden – und manchmal gar nicht mehr –
beatmet. Trotzdem läuft die einmal angestoßene aufwendige Betreuung weiter.
Da die Pflegedienste inzwischen fast überall präsent sind, bieten sie den Intensivstationen
einen kompletten Service an, mit sofortiger Übernahme des Patienten und einem „ambulanten“
Weaning (was natürlich nicht geht: bestenfalls geht es geringer Erkrankten im Verlauf
besser, sodass sie wieder spontan atmen können). Das gilt insbesondere für den städtischen
Raum.
Eine Verlegung aus der Klinik in ein Weaningzentrum ist mitunter mühsam oder wird
auch als eigenes Versagen angesehen. Dabei gibt es kaum noch Wartezeiten, denn in
den letzten Jahren ist die Zahl der zertifizierten Weaningzentren deutlich gestiegen.
Trotzdem werden mittlerweile eher weniger Patienten in die Weaningzentren verlegt,
wie eine interne Umfrage ergab. Da die langzeitbeatmeten Patienten in der Klinik gute
Erlöse bringen, werden sie mitunter gar nicht mehr verlegt: Sie bleiben in Krankenhäusern
auf den Intensivstationen lange stationär, u. U. bis sie versterben (dem Autor sind
solche Fälle bekannt). Manche Träger schaffen deswegen sogar neue Intensivbetten an.
Maßnahmen gegen den Missbrauch
OPS-Kodierung?
Seit zwei Jahren gibt es hierzu vermehrt politische Aktivitäten, auch seitens des
Gesetzgebers. Eine aktuelle Änderung der Kodierrichtlinien zwischen der Deutschen
Krankenhausgesellschaft und dem Spitzenverband der Krankenkassen zu diesem Thema ist
gerade gescheitert. Auf Drängen des Bundesministeriums für Gesundheit wurden die beteiligten
Fachgesellschaften jetzt angehalten, einen OPS (Operationen- und Prozedurenschlüssel)
zu generieren, der den Weaningprozess im Krankenhaus besser erfassbar macht.
Ein früherer Antrag einiger Fachgesellschaften fand 2017 beim DIMDI (Deutsches Institut
für Medizinische Dokumentation und Information) keinen Konsens. Auf Druck des Ministeriums
wurde jetzt von den beteiligten Fachgesellschaften kurzfristig ein guter OPS-Kode
erarbeitet, der dann auch direkt vom DIMDI in den Katalog aufgenommen wurde. Jedoch
dürfte der OPS wohl kaum regulierend eingreifen, da häufig Prozeduren nur kodiert
werden, wenn sie erlösrelevant sind (obwohl die Kliniken per Gesetz zur OPS-Kodierung
verpflichtet sind). Um in einigen Jahren erlösrelevant zu werden (im Rahmen einer
neuen DRG), benötigt das InEK Daten, die es aber von den eigentlichen „schwarzen Schafen“
nicht bekommt.
Qualitätsprüfung?
Seit dem 1. 1. 2017 gibt es neue Qualitätsprüfungskriterien für intensivpflegerische
Patienten außerhalb der Klinik. Hier prüft der MDK auf Veranlassung der Pflege- und
Krankenkassen. Für MDK-Prüfungen ist aber auch immer die Zustimmung der Patienten
erforderlich. Diese bekommt man jedoch bei den Problemfällen so gut wie nie: Entweder
werden die Briefe nicht beantwortet oder es kommt vom Rechtsanwalt eine einstweilige
Verfügung im Auftrag des Patienten.
Aber auch Bemühungen der Krankenkassen selbst sind nicht erfolgreich. So habe ich
selber mit einer großen Krankenkasse zahlreiche Patienten angeschrieben, um ggf. noch
einen Entwöhnungsversuch in aussichtsreichen Fällen anzubieten. Es kam praktisch nie
eine Antwort. In der Regel blockiert der Pflegedienst diese Initiative, oft in Verbindung
mit den Angehörigen. Der Patient ist häufig zu Hause de facto entmündigt, obwohl er
meistens noch voll geschäftsfähig ist.
Neuerungen im SGB V?
Eine andere Möglichkeit ist das neue Gesetz zum Entlassmanagement (§ 39 SGB V), das
seit einem Jahr existiert. Hier haben die Krankenkassen die Möglichkeit, bei der Entlassung
mitzuwirken, insbesondere wenn es um eine aufwendige HKP geht. Allerdings muss auch
hier der Patient zustimmen. Dieses Verfahren scheint bisher kaum zu greifen.
Seitens der kassenärztlichen Bundesvereinigung ist in Verbindung mit dem Bundesverband
der Pneumologen ein Mustervertrag entstanden: Auf der Grundlage der integrierten Versorgung
(§ 140a, SGB V) sieht dieser eine fachpneumologische Betreuung vor Ort vor. Allerdings
sind die Bedingungen relativ aufwendig, sodass nur ganz wenige Praxen in der Lage
sind, sie zu erfüllen. Auch hier besteht das offensichtliche Problem: Die eigentlichen
„schwarzen Schafe“ würden nicht in einen solchen Vertrag einsteigen, da sie dann demaskiert
werden.
Alternativen!
Am sinnvollsten wäre ein frühzeitiges Identifizieren von Problempatienten auf der
Intensivstation zu Beginn einer Langzeitbeatmung, in der Regel ab zehn Tagen. So hätte
z. B. der MDK die Möglichkeit, beratend einzugreifen, ggf. in Verbindung mit externen
Weaningexperten. Allerdings: Dies lässt das derzeitige DRG-System nicht zu, denn die
Krankenkassen erhalten in der Regel erst nach der Entlassung des Patienten die relevanten
Daten.
Um kurz- bis mittelfristig eine Verbesserung der innerklinischen Versorgung zu erzielen,
wäre z. B. zu überlegen, ob der OPS nicht nur den Aufwand erfassen sollte, sondern
auch in bestimmten Fällen auf der Intensivstation den Zustand des Patienten. Das würde
auch den Kontrollaufwand der Krankenakte nach Entlassung durch den MDK teilweise oder
ganz überflüssig machen. Jedoch: Dazu müssten die mittelfristig abgeschlossenen Qualitätsverträge
mit den Krankenhäusern erweitert werden. Möglicherweise ist hier noch deutlicher von
Seiten des Gesetzgebers nachzusteuern.
M. E. ist es unabdingbar, dass jeder Patient, der beatmet in die außerklinische Versorgung
gesteuert werden soll, vor seiner Verlegung hinsichtlich seines Weaningpotenzials
unabhängig ärztlich begutachtet werden muss.
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Diese Begutachtung ist an die Zulässigkeit einer Verordnung für die häusliche Krankenpflege
zu koppeln: Ohne Begutachtung, die ein aktuelles Weaningpotenzial ausschließt, kann
der Patient nicht in die HKP verlegt werden.
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In Fällen, in denen aktuell kein Weaningpotenzial vorhanden ist, das aber perspektivisch
in absehbarer Zeit wahrscheinlich wird, sollte die häusliche Krankenpflege nur begrenzt
verordnungsfähig sein. Eine erneute, unabhängige ärztliche Beurteilung sollte dann
über die weitere Behandlung entscheiden.
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Diese Einflussmöglichkeiten müssen auch für Patienten gelten, die ausschließlich mit
einem Tracheostoma in die ambulante Versorgung verlegt werden.
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Zusatzeffekt: Diese Maßnahmen würden durch den Rückgang der aufwendigen HKP auch dem
Mangel an Fachkräften gegensteuern, denn diese Pflegedienste ziehen viele Fachkräfte
ab.
Aber: Eine Begutachtung ist nur möglich, wenn Zugriff auf diese Fälle besteht, z. B.
über eine Zentralstelle des MDK, ggf. mit externer Expertise. Ein solches Feedbacksystem
müsste etabliert werden.
Erstveröffentlichung
Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht in: Dtsch Med Wochenschr 2019; 144: 1–4.