Sportphysio 2019; 07(01): 4-7
DOI: 10.1055/a-0818-3118
Research
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

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Publication Date:
01 February 2019 (online)

Schienbeinkantensyndrom: zuverlässige Diagnose durch Anamnese und Untersuchung

Das Schienbeinkantensyndrom (Medial Tibial Stress Syndrome, MTSS) ist definiert als bewegungsinduzierter Schmerz entlang der posteromedialen Schienbeinkante. Bei der Palpation werden die typischen Schmerzen über eine Länge von ≥ 5 cm provoziert. Es ist eine häufige Überbeanspruchung im Sport mit Inzidenzraten von 4–19 %. Die zugrunde liegende Pathologie ist noch nicht eindeutig geklärt, wobei sowohl eine knöcherne Überlastung als auch eine periostale Entzündung beschrieben wird. Während die Anamnese und die klinische Untersuchung die Eckpfeiler des diagnostischen Prozesses darstellen, wurde die Reliabilität dieses Ansatzes noch nie untersucht. Die Erstellung einer zuverlässigen klinischen Diagnose bildet eine gute Grundlage für die Planung der Behandlung und die Erwartungshaltung des Patienten.

Ziel dieser Studie war es deshalb, anhand der Anamnese und körperlichen Untersuchung zu beurteilen, ob das MTSS zuverlässig diagnostiziert werden kann. Die Wissenschaftler führten eine klinische Reliabilitätsstudie an mehreren sportmedizinischen Standorten in den Niederlanden durch. 49 Athleten (> 16 Jahre; 14 männlich und 35 weiblich) mit nichttraumatischen Unterschenkelschmerzen wurden von zwei Sportphysiotherapeuten bzw. -ärzten, die blind gegenüber den Diagnosen des jeweils anderen waren, auf das Syndrom untersucht. Die Prävalenz des MTSS betrug 74 %. Der Prozentsatz der Übereinstimmung betrug 96 %, mit positiver bzw. negativer Übereinstimmung von 97 % bzw. 92 %. Die Interrater-Reliabilität war fast perfekt mit k = 0,89. Die anderen Unterschenkelschmerzen (26 %) wurden kategorisiert als: vordere Schienbeinmuskelschmerzen (n = 5), Wadenschmerzen (n = 3), Tibiastressreaktion (n = 2) und peroneale Muskelschmerzen (n = 2). Diese Ergebnisse zeigen, dass ein MTSS klinisch reliabel durch die Anamnese und körperliche Untersuchung diagnostiziert werden kann. Von den 34 Sportlern mit MTSS litten 11 zudem an weiteren Schmerzen im Wadenmuskel und im M. tibialis anterior. Therapeuten sollten sich deshalb bewusst sein, dass etwa 1/3 der Athleten mit MTSS koexistierende Unterschenkelprobleme haben.

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Abb. 1 Anamnese und körperliches Untersuchungsinstrument für Unterschenkelschmerzen in der klinischen sportmedizinischen Praxis (nach Winters et al. 2018); CECS = chronisches Kompartmentsyndrom; MTSS = Medial Tibial Stress Syndrome, Schienbeinkantensyndrom. (Quelle: Thieme Gruppe)

Der gebräuchliche Lehrbuchansatz in der diagnostischen Forschung ist der Vergleich von klinischen Tests/Diagnosen mit bildgebenden Verfahren, Operationen oder histologischen Befunden. Dies ist nützlich, wenn die Pathogenese einer Verletzung bekannt ist. Bei Überbelastungen im Sport jedoch, welche viel öfter vorkommen, hat sich herausgestellt, dass die Bildgebung eine schlechte diskriminierende Wirkung hat. Die Bildgebung führt zu Unsicherheiten in der sportmedizinischen Praxis und versucht, herauszufinden, welche bildgebenden „Anomalien“ mit dem klinischen Zustand zusammenhängen, anstatt den Zustand eines Patienten zu klären. Studien zur Bildgebung anderer Sportverletzungen, wie z. B. des femoropatellaren Schmerzsyndroms und der Leistenschmerzen, haben ebenfalls gezeigt, dass es an Unterscheidungsfähigkeit zwischen symptomatischen und asymptomatischen Athleten mangelt. Es scheint eine Notwendigkeit für einen Wechsel des diagnostischen Paradigmas für Sportverletzungen zu geben, bei denen die Pathogenese unklar ist – von der Diagnose auf der Grundlage bildgebender oder histologischer Befunde hin zu einer Diagnose auf der Grundlage klinischer Befunde. Überlastungen können klinisch diagnostiziert werden, ohne durch zusätzliche Untersuchungen Ressourcen zu verschwenden ([ Abb. 1 ]). Dieser Paradigmenwechsel scheint sich zunehmend in der Sportmedizin durchzusetzen, wo die klinische Diagnose heute als Eckpfeiler der Diagnose vieler Sportverletzungen gilt.

Katrin Veit

Winters M, Bakker EWP, Moen MH et al. Medial tibial stress syndrome can be diagnosed reliably using history and physical examination. Br J Sports Med 2018; 52(19): 1267–1272. http://bjsm.bmj.com/content/early/2018/09/11/bjsports-2016–097037.abstract

AUF EINEN BLICK

Design: Klinische Reliabilitäts- und Querschnittsstudie

Teilnehmer: 49 Athleten mit nichttraumatischen Schmerzen am Unterschenkel

Parameter: Prävalenz, Prozentsatz der Übereinstimmung, Prozentsatz der positiven und negativen Übereinstimmung und Kappa-Statistik (Reliabilität) der Diagnostik des Schienbeinkantensyndroms

Resultate: Das Schienbeinkantensyndrom kann klinisch reliabel durch die Anamnese und körperliche Untersuchung diagnostiziert werden.