Nervenheilkunde 2019; 38(03): 97-102
DOI: 10.1055/a-0817-2588
Schwerpunkt
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Schlafstörungen bei Multipler Sklerose

Christian Veauthier
1   Interdisziplinäres Schlafmedizinisches Zentrum, Charité – Universitätsmedizin Berlin, corporate member of Freie Universität Berlin, Humboldt-Universität zu Berlin, and Berlin
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Korrespondenzadresse

Dr. med. Christian Veauthier
Charité Universitätsmedizin - Berlin, Interdisziplinäres
Schlafmedizinisches Zentrum, Luisenstraße 13, 10117 Berlin
Phone: 030/450513232   
Fax: 030/450513959   

Publication History

Publication Date:
18 March 2019 (online)

 

Zusammenfassung

Gegenstand und Ziel: Patienten mit Multipler Sklerose (MS) leiden häufig an einer die Lebensqualität deutlich beeinträchtigenden Schlafstörung. Es soll ein Überblick über den gegenwärtigen Stand der Literatur gegeben werden. Material und Methoden: Übersichtsarbeit. Ergebnisse: Mehrere Studien haben bei der MS im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung eine erhöhte Prävalenz für ein Restless-legs-Syndrom (RLS) gezeigt, im Besonderen bei MS-Patienten mit einem erhöhten Grad der Behinderung. Rund ein Viertel der MS-Patienten leidet an einer chronischen Insomnie. Es existieren symptomatische Formen der Narkolepsie und der REM-Schlaf-Verhaltensstörung (RBD), am ehesten durch akute Läsionen hervorgerufen. Ob Läsionen auch schlafbezogene Atmungsstörungen verursachen können, kann noch nicht ausreichend beurteilt werden. Schlussfolgerung und klinische Relevanz: Beim Neuauftreten einer Narkolepsie oder eines RBD sollte zügig eine kraniale Kernspintomografie mit Kontrastmittel erfolgen. Bei der Behandlung schlafmedizinischer Erkrankungen kommen die von den Fachgesellschaften empfohlenen Behandlungsrichtlinien zur Anwendung (die Behandlung unterscheidet sich bei MS-Patienten nicht grundsätzlich von der Behandlung dieser Erkrankungen in der Allgemeinbevölkerung). MS-Fatigue-Patienten sollten niedrigschwellig eine Polygrafie oder Polysomnografie erhalten.


Einleitung

Die MS ist eine chronische Autoimmunerkrankung, in deren Verlauf es zu einer Demyelinisierung und zu neu-rodegenerativen Prozessen im zentralen Nervensystem (ZNS) kommt (Gehirn, Optikkussnerv, Rückenmark) [[1], [2]]. Die MS stellt eine häufige neurologische Erkrankung bei jungen Erwachsenen dar, kann mit einer motorischen Behinderung einhergehen und betrifft häufiger Frauen als Männer [[1], [2] ,[3]]. Sowohl genetische Ursachen als auch Umweltfaktoren scheinen in der Entstehung der Erkrankung eine Rolle zu spielen [[4], [5], [6], [7], [8], [9]]. Ungefähr drei Viertel aller MS-Patienten leiden unter einer Schlafstörung, welche zur Entstehung einer MS-Fatigue beitragen kann [[10], [11]]. Darüber hinaus zeigen MS-Patienten, welche an einer Schlafstörung leiden, eine deutlich reduzierte Lebensqualität im Vergleich zu MS-Patienten ohne Schlafstörung [[12]].

Der Behandlung einer gleichzeitig vorliegenden Schlafstörung kommt auch deswegen eine besondere Bedeutung zu, da keine nachgewiesen wirksame medikamentöse Therapie zur Behandlung der MS-Fatigue existiert, abgesehen von einer Vitamin-D-Substitution [[10], [13], [14], [15]]. Die Behandlung einer zugrunde liegenden Schlafstörung als Ursache einer Fatigue stellt somit neben der Verhaltenstherapie und physiotherapeutischen Maßnahmen eine der wenigen Möglichkeiten dar, die Fatigue zu bessern [[16], [17]].


Restless-legs-Syndrom

Die Prävalenz des RLS ist bei MS-Patienten bis zu viermal höher als in der Allgemeinbevölkerung [[18], [19], [20], [21]]. Bis zu 19 % aller MS-Patienten leiden an einem RLS [[21]]. MS-Patienten, die gleichzeitig an einem RLS leiden, haben verglichen mit MS-Patienten, welche nicht an einem RLS leiden, signifikant häufiger spinale Läsionen [[22]]. Bei MS-Patienten mit einem höheren Behinderungsgrad und deutlicher Beeinträchtigung der Gehfähigkeit finden sich zudem periodische Beinbewegungen sowohl im NREM (non rapid eye movement)-Schlaf als auch im REM-Schlaf, was für periodische Beinbewegungen untypisch ist und möglicherweise durch infratentorielle oder spinale Läsionen bedingt sein kann [[23]]. Die Behandlung des RLS sollte bei MS-Patienten genauso erfolgen, wie sie bei Patienten mit einem idiopathischen RLS erfolgt.


Chronische Insomnie

Die häufigste Schlafstörung bei MS-Patienten stellt die chronische Insomnie dar: Ungefähr ein Viertel aller MS-Patienten leiden unter einer Insomnie [[11], [24]]. MS-Patientinnen leiden häufiger an einer chronischen Insomnie als männliche MS-Patienten, und die Insomnie geht bei beiden mit einer verringerten Lebensqualität einher [[12], [25], [26]]. Allerdings fehlen epidemiologische Studien, welche die Prävalenz der Insomnie bei MS im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung untersuchen [[27]]. In der Literatur finden sich zwar immer wieder Angaben, die Prävalenz der Insomnie sei bei MS erhöht, dies kann jedoch aufgrund der schlechten Datenlage nicht als gesichert angesehen werden [[28]]. Die Selbstmedikation mit freiverkäuflichen Schlaftabletten zur Behandlung der Schlafstörung kann jedoch durch den Überhang dieser Medikamente eine MS-Fatigue vortäuschen oder eine bestehende Fatigue verschlechtern [[29], [30]]. Die Insomnie geht im Allgemeinen häufig mit Sorgen über die Konsequenzen der Schlafstörungen einher; die Patienten befürchten häufig tagsüber nicht funktionsfähig zu sein, haben häufig die Hoffnung aufgegeben, dass sich die Insomnie bessert und erwarten deswegen eine Besserung von der Einnahme von Schlaftabletten [[31], [32]]. Allerdings stellen diese dysfunktionalen Annahmen einen der Gründe dafür dar, dass sich die Insomnie nicht bessert und erhalten diese sogar aufrecht [[32]]. Eine kürzlich veröffentlichte Studie untersuchte vergleichend Insomnie-Patienten aus der Allgemeinbevölkerung und MS-Patienten, welche an einer Insomnie leiden, und in beiden Subgruppen fanden sich keine Unterschiede bezüglich der dysfunktionalen Annahmen [[33]]. Die Autoren schlussfolgerten, dass sich die Insomnie bei MS nicht wesentlich von der „normalen” Insomnie in der Allgemeinbevölkerung unterscheidet. Die Behandlung der Insomnie sollte somit analog zu den allgemeinen Leitlinien auch bei MS-Patienten in erster Linie mit kognitiver Verhaltenstherapie erfolgen [[34]].


Schlafbezogene Atmungsstörungen

Es existieren keine Studien, die die Prävalenz von schlafbezogenen Atmungsstörungen bei MS im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung untersuchen [[28]]. In Studien mit konsekutiven MS-Patienten wurden Prävalenzen des obstruktiven Schlafapnoesyndroms (OSA) von 0 % bis 58 % gefunden; allerdings wurden dabei verschiedene diagnostische Untersuchungen eingesetzt (Polygrafie oder Polysomnografie), verschiedene Grenzwerte und Klassifikationssysteme verwendet und die Gruppengröße variierte bei diesen Studien erheblich [[11], [28], [35], [36], [37]]. Vor dem Hintergrund, dass Studien im Bereich der Schlaganfallforschung zeigten, dass es nach infratentoriellen Hirninfarkten vermehrt zu zentralen Schlafapnoen kommt, stellt sich die Frage, ob auch infratentorielle Läsionen im Rahmen einer MS zu einer zentralen Schlafapnoe führen können [[29], [38], [39], [40], [41], [42]].

Braley und Mitautoren untersuchten die mögliche Auswirkung von Hirnstammläsionen im Rahmen einer MS auf die Schlafapnoe. In einer retrospektiven Analyse ihrer polysomnografischen Daten von 48 MS Patienten und 48 nicht an einer MS erkrankten Kontrollen der Datenbank des Schlafzenters, fanden die Autoren eine erhöhte Anzahl an zentralen Apnoen bei denjenigen MS-Patienten, die zentrale Hirnstammläsionen aufwiesen, was ein möglicher Hinweis für die Verursachung von zentralen Apnoen durch Hirnstammläsionen darstellt [[43]]. Allerdings fehlen prospektive, stratifizierte Studien, die diese Zusammenhänge belegen. Eine Fatigue kann bei MS-Patienten auch auf eine OSA zurückzuführen sein und sich nach einer Überdrucktherapie bessern [[16], [17]]. Selbst wenn nach den BUB-Richtlinien eine Diagnostik erst bei einer deutlichen Schläfrigkeit vorgesehen ist, sollten MS-Fatigue-Patienten mit einem Punktwert > 34 in der Modified Fatigue Impact Scale (MFIS) oder einem erhöhten Punktwert > 5 im Pittsburgh Sleep Quality Index (PSQI) niedrigschwellig eine Polygrafie oder Polysomnografie erhalten [[44]]. MS-Fatigue-Patienten mit erhöhten Punktwerten im MFIS (> 34) oder PSQI (> 5) weisen zu 89,8 % eine Schlafstörung auf (Spezifität 58,8 %, positiver prädiktiver Wert 86,3 %, negativer prädiktiver Wert 66,7 %) [[44]].


Narkolepsie und REM-Schlaf-Verhaltensstörung

In der Literatur wurden 26 Fälle von MS-Patienten, welche an einer Narkolepsie erkrankt sind, beschrieben (bei mehr als 2 Millionen an einer MS erkrankten Patienten weltweit) [[45], [46], [47], [48]]. Sofern eine Bildgebung durchgeführt wurde, finden sich in den meisten Fällen bilaterale Hypothalamusläsionen und bei einigen Patienten im Liquor ein Hypokretindefizit [[46]]. Bei zwei Patienten mit einem Hypokretindefizit wurde nach einer Cortison-Puls-Therapie Hypokretin im Liquor erneut bestimmt, und es fand sich im Verlauf eine Normalisierung des zuvor verminderten Hypokretinspiegels, was ansonsten bei einer Narkolepsie nicht beschrieben wurde [[46]]. Diese Remission eines Hypokretindefizits zeigt, dass bei dem Neuauftreten einer Narkolepsie alle MS-Patienten zügig eine kraniale Kernspintomografie mit Kontrastmittel erhalten sollten und dass beim Nachweis ursächlicher akuter Läsionen ohne zeitlichen Verzug eine Cortison-Puls-Therapie erfolgen sollte. Ähnliches wurde auch bei einem RBD beschrieben, mit einer Besserung des RBD durch Behandlung mit ACTH [[46]].

Fazit Für Die Praxis

Schlafstörungen sind häufig bei der MS. Ungefähr drei Viertel aller MS-Patienten leiden unter gleichzeitig bestehenden Schlafstörungen [[11]]. Bei MS-Patienten wurde eine erhöhte Prävalenz für das RLS nachgewiesen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung. Studien, welche die Prävalenz eines OSA und einer Insomnie in MS-Patienten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung untersuchten, fehlen und werden dringend gebraucht. Die Therapie der Schlafstörungen erfolgt bei den einzelnen Schlafstörungen (RLS, Insomnie, OSA, Narkolepsie, RBD) wie in der Allgemeinbevölkerung entsprechend der krankheitsspezifischen Leitlinien resp. Empfehlungen [[49], [50], [51], [52], [53], [54], [55]]. Lediglich die Narkolepsie und das RBD nehmen eine Sonderstellung ein, da bei MS-Patienten mit dem Verdacht auf die Erstmanifestation einer dieser beiden Erkrankungen rasch eine Bildgebung und gegebenenfalls eine Schubtherapie (z. B. Cortison-Puls-Therapie) erfolgen sollte, wobei diese Fälle äußerst selten sind. Es bestehen Algorithmen zur Behandlung der MS-Fatigue, bei denen die Behandlung einer zugrunde liegenden Schlafstörung eine besondere Rolle einnimmt [[13]]. MS-Fatigue-Patienten sollten niedrigschwellig eine Polygrafie oder Polysomnografie erhalten.




Interessenkonflikt

Es bestehen keine Interessenkonflikte.


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