Laut Sozialgesetzbuch sind Physiotherapeuten als Leistungserbringer im Rahmen der
gesetzlichen Krankenversicherung verpflichtet, sich am Stand der wissenschaftlichen
Erkenntnisse und der fachlich gebotenen Qualität zu orientieren (SGB V; § 135a, Abs.
1). Für das therapeutische Handeln werden somit die externe Evidenz als wissenschaftlicher
Wirkungsnachweis sowie die Rolle einer evidenzbasierten Praxis elementar. Eine evidenzbasierte
Therapie integriert die besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse in die
klinische Entscheidungsfindung [1]. Persönliche Erfahrung und Forschung führen gemeinsam zur bestmöglichen Behandlung
[2].
Doch wie können Therapeuten angesichts der Vielzahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen
herausfiltern, was qualitativ hochwertig und für ihre Patienten hilfreich ist? Um
evidenzbasiert zu arbeiten, müssten sie aktuelle Forschungsergebnisse kennen sowie
deren Relevanz und Anwendbarkeit einschätzen [3]. Für diese Herkulesaufgabe bieten Leitlinien eine wertvolle Unterstützung. Sie bewerten
den Erkenntnisstand zur bestverfügbaren aktuellen wissenschaftlichen Evidenz und leiten
daraus Empfehlungen zum optimalen Handeln ab [4].
Entstehung von Leitlinien
Entstehung von Leitlinien
In Ländern wie Großbritannien, den Niederlanden und den USA ist die Physiotherapie
eigenständiger, und die Therapeuten verfügen für ihren klinischen Alltag über detailliertere
Handlungsempfehlungen. Dagegen werden Leitlinien in Deutschland gemäß der Arbeitsgemeinschaft
der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) exklusiv als „systematisch
entwickelte Hilfen für Ärzte zur Entscheidungsfindung“ definiert. Dementsprechend
allgemein formuliert sind die meisten Empfehlungen für therapeutische Interventionen
[5].
Kernelement des Arthrose-Managements ist die Bewegungstherapie.
Je nach Aufwand und Umsetzbarkeit entstehen Leitlinien durch ein repräsentatives Gremium,
das Studien systematisch analysiert oder strukturiert einen Konsens findet [6]. Demzufolge kann es je nach Methode bzw. Gremium zu unterschiedlichen Bewertungen
der Belege und somit zu divergenten Empfehlungen kommen. In den letzten zehn Jahren
wurden im In- und Ausland zahlreiche Leitlinien zur Arthrose der unteren Extremität
publiziert. Diese unterscheiden sich unter anderem in der Methodik und der zu bewertenden
Behandlungsart (operative, medikamentöse oder konservative Verfahren).
Suchen und bewerten
Mit dem Ziel, in diesem Artikel möglichst genaue evidenzbasierte physiotherapeutische
Handlungsempfehlungen vorzustellen, sind im Folgenden ausschließlich qualitativ hochwertige
Leitlinien zusammengefasst. Es wurde nach Empfehlungen zu nicht operativen und nicht
medikamentösen Therapien gesucht und nach Art und Stärke der Empfehlung differenziert.
Die Suche nach geeigneten Leitlinien erfolgte mittels PubMed in der Datenbank Medline
des National Center for Biotechnology Information (NCBI). Als Suchbegriffe dienten
„osteoarthritis“ und „guideline“. Eingegrenzt wurde die Titelrecherche auf frei zugängliche
Publikationen der letzten zehn Jahre. Aus insgesamt 26 Treffern wurden – in Anlehnung
an die Einschlusskriterien der Physiotherapie-Evidenz-Datenbank (PEDro) – jene Leitlinien
herausgefiltert, die folgende Kriterien erfüllen [7]:
-
Die klinische Praxisleitlinie entstand unter Federführung eines Fachverbands für Gesundheit,
einer gesellschaftlichen, öffentlichen oder privaten Organisation oder einer Regierungsbehörde.
-
Im Zuge der Entwicklung wurden eine systematische Literaturrecherche sowie ein Review
der vorhandenen wissenschaftlichen Evidenz, die in Fachzeitschriften mit Peer-Review
veröffentlicht wurde, durchgeführt.
-
Die Leitlinie enthält systematisch entwickelte Statements, Empfehlungen, Strategien
oder andere Informationen zu Entscheidungen über angemessene Versorgungsleistungen.
-
Mindestens eine Empfehlung betrifft eine Intervention, die Teil physiotherapeutischer
Praxis ist oder werden könnte.
-
Physiotherapeutische Empfehlungen basieren auf mindestens einer randomisierten kontrollierten
Studie oder einer systematischen Übersichtsarbeit.
Nach Sichtung aller Rechercheergebnisse wurden neun Leitlinien zur Therapie von Kox-
oder Gonarthrose in die Analyse mit einbezogen [8]–[17]. Diese Leitlinien sind ausschließlich von Fachgesellschaften und größtenteils mindestens
unter Einbezug physiotherapeutischer Expertise auf der Basis systematischer Literaturrecherchen
erstellt worden.
Die Therapieempfehlungen der neun eingeschlossenen Leitlinien weisen je nach Qualität
der zugrunde liegenden wissenschaftlichen Belege unterschiedliche Stärken auf. In
den meisten Fällen greifen die Wissenschaftler darin auf das GRADE-System (PHYSIOPRAXIS
4/15, S. 16) zurück. Dieses System dient dazu, die Qualität der Evidenz in systematischen
Übersichtsarbeiten und Leitlinien einzuschätzen und Leitlinienempfehlungen abzustufen
[18]. Gemäß vier „Quality of Evidence“-Stufen werden analog starke und schwache Empfehlungen
formuliert [19].
Mithilfe einer Tabelle sind auf der folgenden Seite die Leitlinienempfehlungen zur
Arthrosetherapie und die Qualität der zugrunde liegenden Evidenz in fünf Stufen dargestellt.
Die rot markierten Felder zeigen beispielsweise, wenn Evidenz und Empfehlung gegen
eine Therapieform sprechen ([TAB.], S. 36).
TAB. Leitlinienempfehlungen zur Therapie bei Kox- und Gonarthrose
Abb.: C. Kemper, grafische Umsetzung: Thieme Gruppe
ABB. 2 Therapieoptionen nach Stärke der Empfehlungen
Abb.: C. Kemper, grafische Umsetzung: Thieme Gruppe
Bewegungstherapie
Als Kernelement der Arthrosetherapie sehen alle Leitlinien die Bewegungstherapie an.
Grundsätzlich muss der Therapeut das Management von Patienten gemäß der Befundung
von Strukturen, Aktivitäten, Teilhabe, Umweltfaktoren und personalen Faktoren bzw.
Ressourcen individuell abstimmen. Die Bewegungstherapie soll abhängig von Alter, Komorbidität,
Schmerzintensität und Bewegungseinschränkungen Übungen zur Kräftigung und Mobilisierung
umfassen, aber auch zur Steigerung der körperlichen Belastungsfähigkeit. Bei Einschränkungen
der funktionellen Beweglichkeit empfehlen die Leitlinien Techniken der passiven Gelenkmobilisation,
die sie ebenfalls als Element der Bewegungstherapie definieren.
Selbstmanagement und Edukation
Signifikante Effekte erzielt der Therapeut zudem, wenn er den Patienten zum Selbstmanagement
instruiert und edukative Elemente einsetzt. Techniken und Fähigkeiten zum Schmerzmanagement,
zur Entspannung und regelmäßigen Bewegung sind hier besonders sinnvoll [20].
Motivation
Im Zentrum des Selbstmanagements steht laut Leitlinien die Motivation des Patienten,
das selbstbestimmte Eigenübungsprogramm fortzuführen. Physiotherapeuten sollten frühzeitig
einbezogen werden, wenn es darum geht, eine individuelle Behandlungsstrategie festzulegen,
Symptome zu kontrollieren und die funktionelle Beweglichkeit zu verbessern, um eine
OP weitestgehend zu vermeiden [21].
Therapieoptionen mit geringer Evidenz
Auf Basis einer mäßigen bis schwachen Evidenz empfehlen die Leitlinien Koordinationsübungen,
Bewegungstherapie im Wasser, hydrotherapeutische Maßnahmen sowie die Thermo und Elektrotherapie
als optionale Unterstützung. Auch Taping und Orthesen am Kniegelenk kommen nur zu
einer eher schwachen Empfehlung. Wenige Leitlinien nennen zusätzliche Hilfsmittel
wie Gehstöcke oder Sitzerhöhungen. Wenn doch, werden sie auf Basis von Evidenz niedriger
Qualität empfohlen. Die Evidenzlage zur Massage ist meist schwach – die niederländische
Leitlinie der KNGF rät sogar explizit davon ab.
Konsequenzen für die Praxis
Konsequenzen für die Praxis
Als Fazit aus der Analyse der Leitlinien lässt sich zusammenfassen, dass die Arthrosebehandlung
auf Basis einer ganzheitlichen Befundung erfolgen soll. Auch die EU und das von der
„European League Against Rheumatism“ (EULAR) geförderte Projekt eumusc.net zur Förderung
der muskuloskelettalen Gesundheit in Europa empfiehlt: Um Patienten mit Arthrose effektiv
zu behandeln, sollte zunächst ein Assessment zu Schmerz, Funktion und Aktivität erfolgen.
Gleichzeitig betonen die Leitlinien, wie wichtig ein individualisiertes Aktivitäts-
und Bewegungsprogramm ist. Patienten mit Arthrose sollten Zugang zu Leistungen wie
Physio- und Ergotherapie haben, um ihre funktionelle Beweglichkeit und Teilhabe zu
optimieren [22].
Der Heilmittelkatalog sollte dringend gemäß wissenschaftlicher Evidenz überarbeitet
werden.
Auf Grundlage evidenzbasierter Leitlinien kann man die Arthrose-Interventionen in
Empfehlungsstufen unterteilen (ABB. 1, S. 35):
-
Kernelemente sind Bewegungstherapie, Patientenedukation sowie die Förderung des Selbstmanagements.
-
Aktivierende und passive Maßnahmen der Bewegungstherapie verbessern funktionelle Beweglichkeit
und reduzieren Schmerzen.
-
Eine Verhaltensänderung soll die Anleitung und Förderung eines individuellen Bewegungsprogramms
beinhalten.
-
Unterstützende Maßnahmen können Orthesen, Bewegungstherapie im Wasser oder Elektro-,
Thermo- und Hydrotherapie sein.
-
Nur optional sollten zusätzliche Hilfsmittel, Übungen zur Koordination oder Taping
zum Einsatz kommen.
Dass ein Therapiemanagement mit den genannten Kernelementen wirksam ist, zeigen klinische
Studien etwa mit dem britischen Interventionsprogramm „ESCAPE-pain“ (www.escape-pain.org). Das Programm für Patienten mit chronischen Gelenkschmerzen umfasst Edukation, Selbstmanagement
und Coping-Strategien und beinhaltet eine individuelle Übungsbehandlung in zwölf Einheiten
über sechs Wochen. Die signifikanten Effekte der Intervention zeigen randomisierte
kontrollierte Studien anhand des Western Ontario and McMaster Universities Osteoarthritis
Index (WOMAC) [23], [24].
Leitlinien vs. Heilmittelkatalog
Leitlinien vs. Heilmittelkatalog
Die adäquate Implementierung von Leitlinienempfehlungen, wie sie in Programmen wie
ESCAPE-pain erfolgt, stößt im deutschen Gesundheitssystem jedoch an enge Grenzen.
Der Heilmittelkatalog für physikalische Therapie führt Arthrose unter der Kategorie
„Verletzungen/Operationen und Erkrankungen der Extremitäten und des Beckens mit prognostisch
kurzzeitigem Behandlungsbedarf“ auf. Demnach können dann bis zu sechs Einheiten und
je nach Leitsymptomatik vorrangig Maßnahmen der Bewegungstherapie (Krankengymnastik,
Manuelle Therapie, gerätegestützte Krankengymnastik) oder Massagen verordnet werden.
Leitlinien können, insbesondere wenn sie systematisch auf aktueller wissenschaftlicher
Evidenz basieren, dazu beitragen, die Patientenversorgung zu verbessern. Allerdings
sollen und können sie nicht als medizinischer oder therapeutischer Standard dienen.
Die Adhärenz zu Leitlinienempfehlungen garantiert nicht den Behandlungserfolg. Dazu
müssen die persönliche klinische Expertise der Behandler sowie die individuellen Befunde
und Präferenzen des Patienten gleichermaßen in die Entscheidungsfindung einfließen
[15].
Die Physiotherapie muss – um gesetzlichen Qualitätsansprüchen und dem internationalen
Standard gerecht zu werden – evidenzbasiert und patientenorientiert ausgerichtet sein
[25]. Dabei spielen Leitlinienempfehlungen eine wichtige Rolle. Für Patienten mit Kox-
und Gonarthrose empfehlen die Leitlinien neben der Bewegungstherapie mit aktivierenden
und passiven Maßnahmen ebenso deutlich die Patientenedukation. Diese Kernelemente
des therapeutischen Arthrose-Managements sollen dem individuellen Bedarf der Patienten
angepasst sein. Der extensive Einsatz konservativer Maßnahmen, die auch das Selbstmanagement
der Patienten umfassen, sind auf Basis bestehender Evidenz allen anderen Optionen
vorzuziehen [26]. Einzelne Studien zeigen zudem, dass mit Edukation und Bewegung der Zeitpunkt für
einen operativen Gelenkersatz deutlich hinausgezögert werden kann [27].
Die restriktiven Vorgaben des Heilmittelkatalogs sind nach wissenschaftlichem Stand
veraltet. Zu einer effektiven und effizienten Therapie der Arthrose sind Rahmenbedingungen
und Modelle notwendig, die es ermöglichen, die Kernelemente der Therapie evidenzbasiert
und patientenorientiert einzusetzen. Oder um es mit Goethe zu sagen: „Es ist nicht
genug zu wissen – man muss auch anwenden. Es ist nicht genug zu wollen – man muss
auch tun.“