Manfred Wildner
Welcher Bezug besteht zwischen solchen politisch-definitorischen Überlegungen und
dem Gesundheitswesen? Stehen für den Fortschritt nicht vor allem wissenschaftliche,
forschungsbezogene Konzepte aus den Domänen der Medizin, der Lebenswissenschaften
bzw. im Allgemeinen von Public Health im Vordergrund?
Im Forschungszusammenhang finden sich beide Begriffe in der statistischen Testtheorie.
Ein „konservativer“ Test wird eine „Nullhypothese“ nicht so leicht ablehnen, also
eher eine Zufallsschwankung gelten lassen als ein „liberaler“ Test. Maßgeblich für
dieses Urteil ist der p-Wert („p“ wie probability, engl. für Wahrscheinlichkeit),
welcher die Restwahrscheinlichkeit für einen bloßen Zufallseffekt angibt und ggf.
„konservativ“ die (Erkenntnis-)Revolution abwehrt. Sir Ronald Aylmer Fisher, Genetiker
und Statistiker an der Cambridge University, war 1925 in seinem Lehrbuch pragmatisch.
Studienergebnisse sollten dann als „signifikant“ bezeichnet werden, wenn sie sich
bei 20 Studienwiederholungen höchstens einmal zufällig ergeben würden: „it is convenient to take this point as a limit in judging…“ ([2], chapter 3). Einen etwas anderen Ansatz vertritt der Ökonometriker Stephen Ziliak:
Statistik darf und kann immer nur ein Teil eines größeren interdisziplinären wissenschaftlichen
Unterfangens zur Erforschung von Zusammenhängen sein ([3] S. 2303, [4]). Neben Ziliaks Einordnung finden sich auch andere kritische Ansätze [5].
Ist es tatsächlich konservativ, nur dann einen Effekt gelten zu lassen, wenn er bei
großen Fallzahlen mit hoher Signifikanz nachgewiesen wird – oder sieht man so v. a.
die kleinen Effekte geringerer Relevanz, hinter denen Sponsoren mit hoher Finanzkraft
stehen? Wie verhält es sich mit dem Nachweis von Risiken und Nebenwirkungen: Wird
aus „konservativ“ nicht sehr schnell „liberal“, wenn wegen fallzahlbedingter fehlender
Signifikanz relevanten Nebenwirkungen nicht weiter nachgegangen wird [6]
[7]?
In einer Analogie zu den politischen Bedeutungsebenen eröffnen sich verschiedene Interpretationsmöglichkeiten
einer „konservativen“ Bewertung. Zum einen der konservative wissenstheoretische Standpunkt, welcher Erkenntnis erst gründlich absichern will, bevor man sie gelten lässt. Zum
anderen der ebenfalls konservative Vorsorge-Standpunkt, der den Schutz des materiellen bzw. immateriellen Wertes menschlichen Lebens schon
bei begründetem Zweifel in den Vordergrund stellt. Und ist drittens eine Verbindung
von konsistent in eine Richtung weisenden statistischen Ergebnissen mit dazu inhaltlich
kohärenten Erkenntnissen anderer Wissenschaftszweige nicht ebenfalls konservativ,
im Sinne einer interdisziplinären Gesamtschau? Der Weg von der Forschung in die breite
Anwendung sieht sich mit solchen bisweilen kontroversen Fragen konfrontiert. Zulassungsbehörden
stehen dabei verbindend zwischen den Welten von Forschung und Anwendung im Alltag
und kennen nicht nur eine Perspektive. So berücksichtigt die US-amerikanische Food
and Drug Safety Authority (FDA) Risiken und Nutzen sowohl von Handeln (Zulassung)
als auch von nicht Handeln (verwehrte Zulassung) und bezieht die Nutzer darüber hinaus
auch partizipativ nach erfolgter Zulassung in das Risikomanagement mit ein („Think
it through“ – https://www.fda.gov/downloads/Drugs/ResourcesForYou/UCM163235.pdf ).
Ein Beispiel für dieses auch in Deutschland präsente Dilemma ist die Haltung gegenüber
der HPV-Impfung. Der primär relevante Endpunkt – z. B. die Verhinderung von Gebärmutterhalskrebs
und von dadurch bedingten Todesfällen – setzt einen Beobachtungszeitraum von 15 Jahren
und mehr voraus. Mit Bezug zu dem oben Gesagten: Ist hier eine wissenschaftlich konservative
Zurückhaltung–erst einmal 15 Jahre beobachten – auch konservativ bezogen auf den Schutz
menschlichen Lebens? In Deutschland war Ende 2015 nur knapp ein Drittel der 15-jährigen
Mädchen und nur knapp die Hälfte der 17-jährigen Mädchen gegen HPV geimpft. Zu Recht
wird allgemein auch auf unethische Manipulationen durch wirtschaftliche Akteure hingewiesen
– a propos Unvollkommenheit der menschlichen Natur. Ein Beispiel dafür sind die Machenschaften
wirtschaftlicher Akteure in Zusammenhang mit der „Brüsseler Erklärung“ zu Ethik, Wissenschaft
und Politikgestaltung [8–10]. Doch auch Ideologien ohne direkte wirtschaftliche Interessen sind im Blick zu behalten.
Aus Japan wird dazu Kurioses berichtet: Ausgehend von einer Annahme der HPV-Impfung
durch über 70% der Mädchen nach kostenfreier Verfügbarkeit im Jahr 2010 fiel die Impfrate
nach impfkritischen Berichten in der Presse seit dem Jahr 2013 auf unter 1% [11]. Die japanische Ärztin Riko Muranaka ging dieser Impfkritik nach, welche sich als
Wissenschaftsbetrug eines angesehenen Neurologen herausstellte: Nur eine einzelne
seiner Labormäuse hatte HPV-Impfstoff erhalten, die im (Presse-)Bild veröffentlichten
Demenzerscheinungen eines Mäusegehirns waren einer anderen, nicht geimpften Maus zuzuordnen
[12].
In der Einschätzung der Ständigen Impfkommission des Bundes überwiegt der Nutzen der
HPV-Impfung die Risiken bei weitem [13]. Konkret gerechnet: Eine angenommene Impfnebenwirkungsrate an schweren Nebenwirkungen
bei einer von 100 000 geimpften Personen – in den bisherigen Studien haben sich keine
ernsthaften Nebenwirkungen gezeigt – würde sich bei den etwa 380 000 Frauen einer
jährlichen deutschen Geburtskohorte bei 4 dieser Frauen äußern. Dem stehen in der
gleichen Geburtskohorte bis zu 7200 vermeidbare Krebserkrankungen und über 3000 vermeidbare
Todesfälle gegenüber. Hinzu kommen die Krebsfälle bei Männern, die auf HPV-Infektionen
zurückgehen.
Gleichzeitig werden Zweifel an solchen Abschätzungen von Nutzen und Risiken geäußert
[14]. Selbst wenn für diese Zweifel sehr seltene Nebenwirkungen angeführt werden könnten,
reichen sie aus, um ein Nicht-Handeln zu rechtfertigen? Ist es nicht in einem interdisziplinären,
gesamtgesellschaftlichen Ansatz der Daseinsbewältigung vertretbar, auf die sich z. B.
in Australien und Finnland abzeichnenden positiven Entwicklungen hinzuweisen und –
konservativ Leben bewahrend – das kalkulierte Wagnis einer breiten Impfempfehlung
einzugehen? Deutlich wird, dass konservatives Bewahren davon abhängt, was man konkret
bewahren will und daher auch immer wieder das Paradox eines freiheitlichen Wagnisses
für das Leben bedingen kann. Eine „konservative“ Entscheidung kann auch sein, Jugendliche
und ihre Eltern bei der HPV-Impfung nicht durch schwer einschätzbare Meldungen zu
verunsichern und so mit hoher Wahrscheinlichkeit zusätzliche Sterbefälle in Kauf zu
nehmen. Noch allgemeiner betrachtet: Das Gleichgewicht „konservativer“ und „innovativer“
Wissens- und Handlungskultur bildet sich, z. B. ausgelöst von neuen Technologien,
häufig erst evolutionär in einem Nacheinander von bewusstem, auch kontrolliert risikobehaftetem
Ausprobieren und gesellschaftlichem Reflektieren aus.
Auch das vorliegende Heft versucht wieder, bestmögliches Wissen, welches von verschiedenen
Autoren und Autorengruppen erarbeitet wurde, unterstützt durch einen Peer-Reviewprozess
und auch im Bewusstsein von Gefahren weiterzugeben. Themen dieser Ausgabe sind Physician
Assistants / Arztassistenten in Deutschland, Tabakkonsum und Inanspruchnahme medizinischer
Leistungen im Jugendalter (KIGGS Daten), eine Neuberechnung der tabakattributablen
Mortalität für Deutschland, distale Unterarmfrakturen im Kindes- und Jugendalter,
die Verwendung des sozioökonomischen Status in der Gesundheitsforschung, die Verstetigung
von Strukturen und Angeboten der Gesundheitsförderung, die Verknüpfung von Arbeits-
und Gesundheitsförderung im Setting, Netzwerkanalysen in der regionalen Versorgungsforschung,
Hindernisse und Voraussetzungen für die Vermittlung älterer, depressiv erkrankter
Menschen in Psychotherapie, die Durchführung der bundesweiten und einheitlichen Evaluation
von Modellvorhaben nach §64b SGB V sowie eine Wirtschaftlichkeitsanalyse von Therapieoptionen
im Indikationsgebiet Hepatitis C.
Um am Ende noch einmal den Anfang aufzugreifen: Gesundheitspolitische und Verwaltungsentscheidungen
bzw. die Formulierung von Empfehlungen sind mehr als die unmittelbare Anwendung statistischer
Erkenntnisse. Mit Bezug zu den in der Forschung wie in der Politik verwendeten Begriffen
„konservativ“ und „liberal“ stellt sich paradigmatisch die Aufgabe, dabei alle Bedeutungsebenen
– u. a. die Freiheitlichkeit, die Erhaltung von materiellen und immateriellen Gütern,
die Unvollkommenheit der menschlichen Natur, die Betonung der großen Bedeutung von
menschlicher Kultur und eine Abwehr von revolutionären Tendenzen – unter Einbeziehung
von und informiert durch Forschungsergebnisse in einen vernünftigen, ethisch reflektierten
Einklang zu bringen. Gelingendes menschliches wie auch gesellschaftliches Leben ist
nie ohne Spannungen, Wagnisse und Anstrengungen zu haben und auch nicht nur als Kompromiss
– es muss als Konsens der Vernunft und Menschlichkeit erarbeitet werden.