Prof. Dr. med. Michael Forsting
Das Motto des 100. Röntgenkongresses lautet „Einheit in Vielfalt“ – worauf zielt es
ab?
„Einheit in Vielfalt“ soll zeigen, wie vielseitig die Radiologie ist. Wir drei Präsidenten
stehen für drei unterschiedliche Schwerpunkte in der Radiologie: Herr Professor Heindel
ist Allgemeinradiologe, Frau Professor Staatz ist Kinderradiologin und ich bin Neuroradiologe.
Wir gehören aber trotzdem alle einem Fach an. In den vergangenen 40 Jahren wurde häufiger
diskutiert, dass man die Radiologie komplett zerschlagen und eine reine Organradiologie
aufbauen sollte. Diese Diskussion hat sich wieder beruhigt, sodass wir das Motto „Einheit
in Vielfalt“ gewählt haben.
Welchen der fachlichen Schwerpunkte haben Sie als Kongresspräsident geprägt?
Ich bin Neuroradiologe, habe aber nicht das Gehirn zum Schwerpunkt gemacht, sondern
mit dem Thema „Radiologie 4.0“ auf die Digitalisierung der Radiologie fokussiert. Mit Digitalisierung meine ich
die Möglichkeit, mit den uns vorliegenden Daten bessere Diagnosen zu stellen, wenn
wir beispielsweise künstliche Intelligenz (KI) zur Hilfe nehmen.
Warum sollten Ihre Kollegen sich auf den Weg nach Leipzig machen?
Einen 100. Kongress gibt es wirklich nur einmal, und da sollte man dabei sein. Wenn
die Röntgenstrahlen schon in Deutschland entdeckt worden sind und wir es als erste
nationale Gesellschaft für Radiologie schaffen, einen 100. Kongress auf die Beine
zu stellen – also ich würde da nicht fehlen wollen!
Worauf freuen Sie sich besonders bei diesem Kongress?
Ich freue mich auf die Highlights, die wir Präsidenten in den einzelnen Schwerpunkten
und Eröffnungsvorträgen gesetzt haben. Ich hoffe, dass viele Chefs ihre jungen Kolleginnen
und Kollegen für die eine Woche freistellen, damit sie die Gelegenheit haben, nach
Leipzig zu kommen – denn das Weiterbildungsprogramm ist schon ziemlich gut. Und dann
gibt es bei jedem Kongress ja auch gesellschaftliche Ereignisse. Beim 100. Kongress
haben wir uns gedacht, wir feiern jetzt einmal mit 7000 Leuten – das hat es so noch
nicht gegeben.
In Ihrem Schwerpunkt „Radiologie 4.0“ wird es um das Thema KI, Künstliche Intelligenz,
gehen. Was verstehen Sie darunter?
Das Wort „Künstliche Intelligenz“ ist in den zurückliegenden zwei bis drei Jahren
ein häufig verwendetes Schlagwort geworden. Es steht letztlich für eine ziemlich heterogene
Gruppe von Algorithmen, die in der Lage sind zu lernen. In der Radiologie setzen wir
sehr viel Software ein. Bislang wird diese Software programmiert beziehungsweise modelliert:
Wir müssen mathematische Formeln finden, um bestimmte Dinge zu beschreiben. Die KI-Algorithmen
hingegen werden am Ergebnis trainiert. Wir zeigen einem KI-Algorithmus zum Beispiel
eine Mammografie und sagen ihm: Das ist ein Mammakarzinom, ein Brustkrebs. Den Vorgang
wiederholen wir mit etwa 1000 Bildern. Dann hat dieser Algorithmus eigenständig gelernt,
wie ein solches Mammakarzinom aussieht. Für viele mag das eine seltsame Vorstellung
sein, funktioniert aber extrem gut. Der Erfolg von KI in desr Radiologie hängt davon
ab, wie valide die Daten sind, die vorliegen, um Algorithmen zu trainieren. Im Moment
haben wir die Situation, dass die großen Internetplayer wie Google, Amazon oder Apple
zwar über Algorithmen verfügen, nicht aber über radiologische Daten. Deshalb wollen
wir im Lauf des Kongresses auch herausfinden, was wir Radiologen beim Thema KI selbst
entwickeln und auf den Weg bringen können.
Welche Rolle spielt der Datenschutz dabei?
Datenschutz ist insgesamt ein wichtiges Thema in Deutschland und Europa. Aber es gilt:
Wir haben bei KI kein Datenschutzproblem, solange wir unsere radiologischen Daten
nicht an Apple, Amazon oder Google verkaufen. Wenn eine radiologische Abteilung selbst
Algorithmen trainiert, diese dann intelligent werden und ein Mammakarzinom erkennen
können, sind am Ende gar keine Patientendaten mehr enthalten. Das Problem Datenschutz
entfällt somit.
Was kommt auf die Radiologen mit dem Einsatz von KI zu? Müssen sie sich sehr umstellen?
Die Angst der Radiologen vor einer Abschaffung der Radiologie ist völlig irrational.
Das Gegenteil ist der Fall: Wir werden noch besser. Wenn man ganz allgemein sagen
würde, wir geben dem Radiologen Werkzeuge an die Hand, damit er besser und schneller
wird, wäre Angst gar kein Thema. Nur weil man jetzt über Künstliche Intelligenz diskutiert,
die ihn besser und schneller macht, fangen einige an zu zittern. Das ergibt natürlich
keinen Sinn. Man kann KI in der Radiologie mit dem Autopiloten im Airbus vergleichen.
Natürlich waren Piloten vor seiner Erfindung in Notsituationen stärker gefordert.
Trotzdem kann man sich ja nicht vorstellen, dass heute ein Flugzeug ohne Piloten aus
Fleisch und Blut fliegt – auf den Plausibilitätscheck durch Menschenverstand möchte
man nicht verzichten. So ähnlich wird es sich auch in der Radiologie verhalten. Man
wird nicht alle Krankheiten mit KI diagnostizieren können, aber man wird mit KI in
der Diagnostik besser werden und Krankheiten besser verstehen. Ich glaube, dass die
sprechende Medizin durch KI ganz anders herausgefordert wird, weil in der sprechenden
Medizin mehr Fehler möglich sind. Wenn ein radiologisches Bild entsteht und einen
Tumor in der Leber mit 3,5 Zentimetern Größe zeigt, dann wird es sich schon um einen
Tumor von 3,5 Zentimetern Größe handeln. Die Tatsache, dass da ein Tumor ist, wird
man nicht infrage stellen. Wenn jemand hingegen mit Rückenschmerzen zum Allgemeinarzt
geht, ist es eher zweifelhaft, ob der Allgemeinarzt am Ende eine Depression diagnostiziert.
Das wird mit KI künftig sehr viel sicherer gehen. Es gibt bereits Algorithmen, die
anhand einer Stimme analysieren können, ob jemand depressiv ist. Das ist auch gar
nicht verwunderlich, weil ein guter Psychiater das auch macht. Also: Uns Radiologen
wird es weiterhin geben.
Welche Anwendungen von intelligenter Software gibt es bereits im klinischen Alltag?
Es gibt ja in der Radiologie durchaus auch langweilige Tätigkeiten, zum Beispiel das
Bestimmen des Knochenalters bei kindlichen Entwicklungsstörungen. Daran hat niemand
wirklich Freude. Es gibt bereits Lizenzmodelle, mit deren Hilfe ein Computer das analysiert.
Natürlich schaut man noch einmal darauf, um nicht etwa zu übersehen, dass die Hand
gebrochen ist. Das kann dieser Algorithmus nämlich nicht erkennen. Aber man muss nicht
mehr dicke Bücher wälzen, um herauszufinden, wie alt der Knochen tatsächlich ist.
Ähnliche Algorithmen gibt es auch schon für Schlaganfalldiagnostik und für die Mammografie.
Das sind kommerzielle Produkte, für die die amerikanische Regulierungsbehörde Food
and Drug Administration (FDA) ein Standardverfahren (Standard Operating Procedure,
kurz: SOP) entwickelt hat, mit dem man solche Softwarelösungen zulassen kann.
Wir haben jetzt viele Vorteile von KI-Anwendungen gehört. Gibt es auch Nachteile?
Alles hat Vor- und Nachteile. Man könnte auch über die Nachteile der Magnetresonanztomografie
nachdenken: Die Untersuchungszeiten sind etwas länger, man muss in einem Tunnel liegen
… Das stimmt alles, aber gemessen an den Vorteilen ist das kein Nachteil. Wenn man
über Softwarelösungen mit KI nachdenkt, könnte einem einfallen: Der Radiologe lernt
gar nicht mehr, das Knochenalter zu bestimmen, weil das immer die Software macht.
Das stimmt, aber als ich studiert habe, musste man auch noch den Herzfehler mit einem
Stethoskop erkennen. Das muss heute keiner mehr, weil man inzwischen weiß, dass dabei
eine Menge falsch war. Ist es jetzt ein Nachteil, dass ein Arzt heute kein Stethoskop
mehr benutzt? Ich glaube nicht. Aber es wird sicher sehr schlaue Menschen geben, die
einen Nachteil finden.
Kann es Fehldiagnosen geben?
Es wird immer Fehldiagnosen geben. Denn die Annahme, dass ein Bild immer nur ganz
spezifisch für eine Krankheit stehen muss, ist falsch. Manchmal weiß man nicht genau,
ob das Bild wirklich nur eine Erkrankung oder nicht vielleicht doch zwei oder drei
Erkrankungen zeigt. Das ist wie mit Husten. Sie können husten, weil Sie sich gerade
verschluckt haben, oder weil Sie unter einer Viruserkrankung oder einem Lungentumor
leiden. Insofern können Sie auch mit dem Symptom Husten nicht immer auf nur eine Erkrankung
schließen. Genauso verhält es sich mit dem Bild. Algorithmen sind immer nur so gut
wie die Daten, mit denen sie trainiert werden. Und wenn in den Daten ein Fehler steckt,
dann hat dieser Algorithmus automatisch auch einen Fehler. Am Ende wird es aber so
sein, dass die Algorithmen weniger Fehler machen als die Menschen – und genau das
ist der wesentliche Vorteil. Wenn ein selbstfahrendes Auto in Kalifornien ein Kaninchen
überfahren hat, dann steht das heute auf der Titelseite. Würde man das bei jedem Unfall
machen, der durch menschliches Versagen entstanden ist, wäre die tägliche Ausgabe
der Tageszeitung mehrbändig. Man muss schon richtig skalieren und prüfen: Wie viele
Fehler machen wir als Radiologen, und wie viele Fehler macht die Maschine?
Wird sich das Arzt-Patienten-Verhältnis verändern, wenn solche Werkzeuge eingesetzt
werden?
Das Arzt-Patienten-Verhältnis hat sich in der Radiologie durch die Einführung der
Computer- oder der Magnetresonanztomografie auch nicht verändert. Im Gegenteil, vielleicht
hat der Patient sogar mehr Vertrauen zu uns gewonnen, weil er merkt, dass wir schneller
und besser geworden sind. Aber natürlich diskutiert man darüber: Wird Medizin unmenschlicher,
wenn Computer die Diagnose übernehmen? Man muss sich aber auch die Frage stellen:
Was wollen wir denn eigentlich als Patienten? Doch möglichst schnell eine richtige
Diagnose. Es hilft uns überhaupt nicht, wenn ein äußerst empathischer Arzt nach 48
Stunden Überlegen eine falsche Diagnose stellt. Dann kommt es natürlich auch darauf
an, wie man dem Patienten erklärt, wie krank er ist oder dass er vielleicht auch gar
nicht krank ist. Aber die Tatsache, dass wir schneller und besser in unserer Diagnose
werden, wird das Arzt-Patienten-Verhältnis eigentlich nur verbessern können.
Wohin wird sich die Radiologie entwickeln?
Die diagnostischen Fächer müssen sich genau überlegen, wohin sie sich entwickeln wollen.
Dazu zählen Radiologie, Nuklearmedizin, Pathologie und genau genommen auch alle Laborfächer
sowie die Genetik. In diesen Fächern werden schnell viele Daten digital vorliegen.
Da müssen wir uns fragen: Wie wollen wir in Zukunft kooperieren? Ich sage nicht, dass
man die Fächergrenzen aufbrechen muss. Aber ich glaube schon, dass es Plattformen
geben sollte, die alle Befunde so integrieren, dass man am Ende sehr individualisiert
zu einer Diagnose kommt. Das ist bei Tumoren heute fast schon üblich. Man macht Tumorboards,
an denen nicht nur der Radiologe teilnimmt, sondern auch der Genetiker, der Pathologe
und so weiter, weil es auf die Gesamtheit der Befunde ankommt. Und wir Radiologen
sind eine große Berufsgruppe, wir könnten uns auf den Fahrersitz setzen, um eine Antwort
zu finden auf die Frage: Wie erhalten wir eine Integration aller Befunde? Auch darüber
werden wir auf dem 100. Röntgenkongress sprechen.
Der 100. Deutsche Röntgenkongress findet vom 29. Mai bis 1. Juni 2019 im Congress
Center Leipzig statt. Weitere Informationen unter https://www.roentgenkongress.de
Einen Kurzfilm mit dem Kongresspräsidenten Professor Dr. med. Michael Forsting finden
Sie online unter https://youtu.be/FPQRFCRM5Jg