Schlüsselwörter Motivationsfaktoren - Allgemeinmedizin - Fachrichtungswahl - gezielte Nachwuchsgewinnung - Medizinstudierende - Fachrichtung
Key words Motivational factors - career choice - targeted recruitment - medical students - speciality - general practice
Einleitung
Der demografische Wandel, die anlaufende Ruhestandswelle, eine wachsende
Inanspruchnahme von Teilzeitstellen im ambulanten Bereich, aber auch die noch immer
zu geringen Nachwuchszahlen stellen die ambulante Primärversorgung vor
große Herausforderungen [1 ]
[2 ]
[3 ]. Sofern es nicht gelingt, mehr
Ärzte für diesen Sektor zu gewinnen, droht laut Prognosen der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) bis 2030 eine
großflächige Unterversorgung der Patienten, v. a. in
ländlichen Gebieten [4 ]. Daher ist die
nachhaltige Gewinnung von Nachwuchs in der Allgemeinmedizin (AM) ein aktuelles Thema
für Entscheidungsträger im Gesundheitswesen. Entsprechende Studien
zur Fachrichtungswahl von Medizinstudierenden und den Beweggründen
hierfür können erste Anhaltspunkte für den
Entwicklungsbedarf und zielgerechte Veränderungen liefern. Seit 2011 wurden
hierzu drei bundesweite [5 ]
[6 ]
[7 ] und eine regionale [8 ] Studie veröffentlicht, denen zufolge
nur ca. 9% der Studierenden eine Weiterbildung in der AM [5 ]
[7 ] planen, und auch nur ca. 30% die
AM als eine Option neben anderen Fachrichtungen sehen [6 ]. Als Beweggründe für oder
gegen die Fachrichtungswahl Allgemeinmedizin werden in diesen Studien folgende
Faktoren identifiziert: Work-Life-Balance, Familie und Freizeit, Berufsprestige und
Einkommen, Teamorientierung, Abwechslung im Beruf, Wissenschaftsorientierung,
Patientenorientierung, Karriere, Image, persönliche Ambition,
Zukunftsperspektiven, Bürokratische Hemmnisse, hohe Arbeitsbelastung [5 ]
[6 ]
[7 ].
Die statistischen Zusammenhänge zwischen der Fachrichtungswahl
Allgemeinmedizin und möglichen Beweggründen wurden bisher nur in 2
regionalen Studien an kleineren Kohorten (N<1000) untersucht [9 ]
[10 ], wobei der Fokus jeweils auf
ausgewählten Faktoren lag. Es zeigte sich zum einen, dass das weibliche
Geschlecht und das Vorhandensein eines Lehrstuhls für Allgemeinmedizin am
Ausbildungsort [9 ] und zum anderen praktische
Erfahrung während des Studiums [10 ] in
starkem Zusammenhang mit der Motivation zu einer hausärztlichen
Tätigkeit stehen. Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine amerikanische
Meta-Analyse [11 ]. Zusätzlich wiesen
bei einem Sample von 659 Studierenden das Alter, die Familie oder Freunde in der AM,
das Erwägen des Hausarztberufs zu Studienbeginn, die Bevorzugung eines
Arbeitsplatzes in ländlicher Umgebung, ein breites Patientenspektrum und die
langzeit-Arzt-Patienten-Beziehung einen Zusammenhang mit der Fachrichtungswahl AM
auf [10 ]. Sowohl die mit der Fachrichtungswahl
Allgemeinmedizin zusammenhängenden Faktoren als auch die Stärke
solcher Zusammenhänge können richtungsweisend für das
Priorisieren von Entwicklungsbedarfen und zielgerechten Veränderungen sein.
Die Ermittlung solcher Zusammenhänge mit den Beweggründen in einer
repräsentativen Kohorte ist deshalb essenziell. Mit ca. 19% stellt
Nordrhein-Westfalen (NRW) einen bedeutenden Anteil der insgesamt 92011 zum
Wintersemester 2016/2017 in Deutschland eingeschriebenen Nachwuchsmediziner
[12 ] und bietet damit gute Voraussetzungen
für eine Studie zu Zusammenhängen zwischen Einstellungen und
Charakteristika von Studierenden und der Fachrichtungswahl. Das Ziel der
vorliegenden Studie ist es, anhand eines repräsentativen Samples aus allen
Medizinstudierenden NRWs Faktoren für die Entscheidung Medizinstudierender
zur Wahl der Fachrichtung Allgemeinmedizin zu extrahieren und deren Zusammenhang mit
dieser Fachrichtungswahl zu quantifizieren, um daraus Empfehlungen zur
Nachwuchsgewinnung abzuleiten.
Methodik
Als Grundlage für diese Studie dienen die Daten einer Online-Umfrage.
Über den Kompetenzverbund Allgemeinmedizin NRW (http://www.allgemeinmedizin-nrw.de ), einen
Zusammenschluss der Abteilungen für Allgemeinmedizin der acht medizinischen
Fakultäten NRWs (Aachen, Bonn, Bochum, Duisburg-Essen, Düsseldorf,
Köln, Münster, Witten/Herdecke) wird eine
flächendeckende Beforschung des medizinischen Nachwuchses in NRW
ermöglicht.
Im Rahmen der vorliegenden Querschnittstudie wurden im Zeitraum vom 31.10.2016 bis
zum 31.01.2017 (WS 2016/2017) alle in NRW immatrikulierten
Medizinstudierenden zur Teilnahme an einer Online-Umfrage zu ihrer Fachrichtungswahl
und ihren Beweggründen für ihre Wahl eingeladen. Abhängig
vom Studienstandort und dessen Vorgaben wurde über E-Mail-Verteiler der
Studiendekanante, Ausschreibungen (Schwarzes Brett), soziale Medien und Dozenten
rekrutiert. Während des Erhebungszeitraumes fanden nach Möglichkeit
bis zu 2 Nachfassaktionen pro Standort im November und Januar statt, um eine
möglichst hohe Rücklaufquote zu erzielen. Als Anreiz zur Teilnahme
wurden Bargeld und Thieme-Gutscheine (ohne sonstige Beteiligung des Thieme-Verlags
an dieser Studie gespendet) unter den Teilnehmenden verlost.
Online-Umfrage
Der Fragenkatalog für die Online-Umfrage ist in Zusammenarbeit mit dem
Institut für Allgemeinmedizin und evidenzbasierte Versorgungsforschung
der Medizinischen Universität Graz entwickelt worden, da die Umfrage
auch in Österreich durchgeführt werden sollte. Die Fragen wurden
teils neu konzipiert und teils aus bestehenden Fragebögen
übernommen [5 ]
[7 ]. Der finale Fragenkatalog enthielt 34
überwiegend geschlossene Fragen. Gegenstand der gegenwärtigen
Untersuchung waren Fragen zu den demographischen Daten der Teilnehmenden
(z. B. Alter, Geschlecht, Studienabschnitt, Studienstandort, Anzahl der
Kinder, Herkunftsort, Verwandte in der AM), Fragen zur Erfahrung mit der
praktischen und theoretischen allgemeinmedizinischen Lehre (z. B.
„Haben Sie bereits theoretische Erfahrung (z. B. Vorlesungen,
Seminare) mit der Allgemeinmedizin?“, „Haben Sie bereits
praktische Erfahrung mit der Allgemeinmedizin?“), sowie 5
Fragenblöcke, die 24 mögliche Beweggründe für
und gegen die Fachrichtungswahl Allgemeinmedizin enthielten (z. B.
„Der Hausarztberuf ist für mich attraktiv, weil
…“, „Eine Facharztqualifikation in einem anderen Fach
ist für mich attraktiver, weil …“). Die Studierenden
konnten hier in Form einer 5-Punkte-Likert-Skala von „trifft zu“
bis „trifft nicht zu“ angeben, was für sie den
Hausarztberuf attraktiv macht (z. B. der umfangreiche und
unterschiedliche Patientenkontakt) oder weshalb eine andere Fachrichtung der
Allgemeinmedizin vorzuziehen sein könnte (z. B. weil man dort
sein Wissen speziell vertiefen kann). Zusätzlich wurde die angestrebte
Fachrichtungswahl der Teilnehmenden erfragt und als Pflichtfrage programmiert
(„Welchen Ausbildungsweg möchten Sie aus heutiger Sicht
einschlagen?“). Es konnte mit einer von 4 Antwortoptionen auf die Frage
geantwortet werden: „für mich kommt nur Allgemeinmedizin in
Frage“, „Allgemeinmedizin ist neben anderen Fachrichtungen eine
Option“, „für mich kommt nur ein anderer Facharzt in
Frage“ und „ich weiß es noch nicht“.
Im September 2016 wurde der Fragenkatalog in Einzelinterviews mit je zehn
Studierenden der Universität Witten/Herdecke und der
Universität Graz auf Vollständigkeit und
Verständlichkeit überprüft und entsprechend angepasst
(comprehension probing) [13 ].
In der Online-Umfrage wurde zugunsten der Anonymität der Teilnehmenden
ausschließlich mit Cookies gearbeitet, um die Wahrscheinlichkeit einer
wiederholten Teilnahme gering zu halten. Darüber hinaus wurden einige
Fragen als Pflichtfragen programmiert, um zu verhindern, dass Teilnehmer sich
ohne Angaben durch die Umfrage klicken. Für die Datenerhebung wurde
Limesurvey verwendet (https://www.limesurvey.org/de/ ).
Statistische Auswertung
Eine Faktorenanalyse mit Hauptkomponentenanalyse und Varimax Rotation wurde zur
Dimensionsreduktion der Items (N=24) zu den Beweggründen
für die Fachrichtungswahl durchgeführt. Die Anzahl der Faktoren
wurde nach dem Kaiser-Guttman-Kriterium bestimmt. Die Eignung der Daten
für die Faktorenanalyse wurde nach dem Kaiser-Meyer-Olkin-Kriterium
geprüft. Bei inhaltlichen Überlappungen, wurde das Item mit der
geringsten Anzahl fehlender Werte eingeschlossen. Während der Analyse
wurden zusätzlich Items exkludiert, die eine Faktor-Ladung<0,5
aufwiesen, auf mehr als einen Faktor luden, oder laut Einschätzung der
Arbeitsgruppe nach ausführlicher Diskussion von
vernachlässigbarer Bedeutung für diese Fragestellung waren
(z. B. „… weil man mit einer Kassenstelle nicht genug
Zeit für den/die einzelne/n Patienten/in und
Gespräche hat). Die zusammenhängenden Items wurden
anschließend jeweils unter einer gemeinsamen Skala zusammengefasst.
Fehlende Werte der Skalen wurden mithilfe des EM-Algorithmus ersetzt, um eine
möglichst hohe Fallzahl für die statistischen Analysen
gewährleisten zu können [14 ]. Zusätzlich wurde eine Complete-Case-Analysis (CCA)
durchgeführt, bei der fehlende Werte exkludiert wurden. Zur Bestimmung
der internen Konsistenz wurde Cronbach‘s Alpha für die
unterschiedlichen Skalen berechnet und nach Bland und Altman (1997)
interpretiert.
Im Hinblick auf die Fragestellung der vorliegenden Studie wurden Fälle,
in denen die Pflichtfrage zur Fachrichtungswahl nicht oder mit
„weiß ich nicht“ beantwortet war, exkludiert. Zudem
wurden Fälle mit der Fachrichtungswahl „Für mich kommt
nur AM in Frage“ und „Allgemeinmedizin ist neben anderen
Fachrichtungen eine Option“ zur Gruppe
„AM-Interessierte“ zusammengefasst. In die weiteren Analysen
wurden nur AM-Interessierte und Nicht-AM-Interessierte einbezogen.
Für die Populationsmerkmale wurden Häufigkeiten, Mittelwerte und
Unterschiede zwischen den Gruppen mittels T-Test und Chi-Quadrat-Test
ermittelt.
Zusammenhänge zwischen den Beweggründen der Studierenden und
ihrer Fachrichtungswahl wurden mit einer logistischen Regression errechnet. Als
abhängige Variable wurden die Gruppenvariable zur Fachrichtungswahl
(AM-Interessierte vs. Nicht-AM-Interessierte) und als unabhängige
Variable die Skalen zu den Beweggründen eingeschlossen. Adjustiert wurde
für Populationsmerkmale, die signifikante Unterschiede
(α<0,01) zwischen den Gruppen zeigten (Geschlecht, Kinder,
Verwandte in der AM). Die logistische Regression wurde zur
Sensitivitätsanalyse mit den Complete-Cases-Skalen wiederholt. Odds
Ratios und deren Konfidenzintervalle wurden verwendet, um Zusammenhänge
zu interpretieren. Die erhobenen Daten wurden statistisch mit SPSS 23 (IBM
Statistics) ausgewertet.
Ergebnisse
Rücklauf
Laut Studiendekanaten waren im Wintersemester (WS) 2016/2017 insgesamt
17 554 Medizinstudierende in NRW immatrikuliert. Davon haben 3976
(22,6%) an der Umfrage teilgenommen und konnten in die Faktorenanalyse
eingeschlossen werden. 3414 (19,4%) haben die Pflichtfrage zur
Fachrichtungswahl beantwortet, davon N=121 (3,5%)
„für mich kommt nur Allgemeinmedizin in Frage“;
N=1584 (46,4%) ,„Allgemeinmedizin ist neben anderen
Fachrichtungen eine Option“; N=1157 (33,9%)
„für mich kommt nur ein anderer Facharzt in Frage“;
N=552 (16,17%) „ich weiß es noch nicht“.
Insgesamt N=1705 Teilnehmer konnten der Gruppe
„AM-Interessierte“ zugeordnet werden. Gemeinsam mit den 1157
Nicht-AM-Interessierten („für mich kommt nur ein anderer
Facharzt in Frage“) konnten somit insgesamt 2862 (16,3%)
Medizinstudierende in die Analysen eingeschlossen werden ([Abb. 1 ]). Die 522 Studierenden, die
„ich weiß es noch nicht“ angegeben hatten, wurden
exkludiert.
Abb. 1 WS, Wintersemester; AM, Allgemeinmedizin.
Die Anzahl eingeschlossener Medizinstudierenden variierte unter den
Hochschulstandorten zwischen 7,6 und 27,3%, wobei die Anzahl der zum
Wintersemester 2016/2017 (WS 2016/17) eingeschriebenen
Medizinstudierenden bei den jeweiligen Studiendekanaten erfragt wurde.
Faktorenanalyse und Reliabilität
Das Maß der Stichprobeneignung nach dem Kaiser-Meyer-Olkin-Kriterium lag
bei 0,867, womit sich die Daten nach Möhring & Schlütz
(2013) für die anschließende Faktorenanalyse eigneten [15 ]. Die Faktorenanalyse der
Beweggründe für oder gegen den Hausarztberuf ergab eine
Fünf-Faktoren-Lösung, bei der 18 der ursprünglich 24
Items eingeschlossen werden konnten ([Tab.
1 ]). Der erste Faktor „umfassender Patientenkontakt“
erklärte mit sieben Items 26,4% der Gesamtvarianz und wies mit
einem Cronbach’s Alpha von α=0,89 eine hohe
Reliabilität auf. Faktor 2 beschrieb „höhere(s)
Karrierechancen, Einkommen & Ansehen in anderen Fachrichtungen“
und setzte sich aus 3 Items zusammen (13,4% erklärte Varianz,
α=0,80). Faktor 3 „flexible Arbeitsbedingungen“
wurde aus 2 Items gebildet, erklärte 9,5% der Gesamtvarianz und
wies mit α=0,79 ebenfalls eine gute Reliabilität auf.
„Nachteile der Niederlassung“ (3 Items, 7,1% der
Gesamtvarianz, α=0,55) und „mehr Spezialisierung,
Forschung und Teamarbeit in anderen Fachrichtungen“ (3 Items,
5,9% der Gesamtvarianz, α=0,50) bildeten die Faktoren 4
und 5, die im Gegensatz zu den ersten 3 Faktoren Cornbach’s Alpha
Werte<0,70 ergaben und damit schwächere Reliabilität
aufweisen. Die erklärte Gesamtvarianz der 5 Faktoren lag bei
62,3%. Die korrigierte Inter-Skala-Korrelation zeigte eine hohe interne
Konsistenz; Sie lag für alle Items im Referenzbereich
0,2–0,8.
Tab. 1 Faktorenanalyse und interne Konsistenz
(N=3976).
Item
Erklärte Varianz
Faktor Ladung
Korrigierte Inter-Skala-Korrelation
Item Mittelwert (SD)
Faktor 1: umfassender Patientenkontakt
(α=0,89)
26,4%
Der Hausarztberuf ist für mich attraktiv, …
weil ich als Allgemeinmediziner/in oft ganze Familien
über Generationen hinweg ärztlich
begleite
0,816
0,743
3,70 (1,26)
weil ich für meine Patienten/innen der erste
Ansprechpartner bin
0,807
0,722
3,77 (1,15)
wegen der persönlichen und langjährigen
Beziehungen zu den Patienten/innen
0,796
0,738
3,94 (1,20)
weil ich bei der Versorgung meiner Patienten/innen
neben den körperlichen Beschwerden auch
psychologische, soziale und kulturelle Einflussfaktoren
berücksichtigen kann
0,778
0,697
3,72 (1,25)
weil ich sowohl banale Krankheiten wie auch Notfälle
selber versorgen kann und muss
0,755
0,671
3,69 (1,18)
weil Patienten/innen mit chronischen Krankheiten
behandelt werden
0,732
0,619
3,07 (1,23
wegen der vielen unterschiedlichen Patientenkontakte
0,717
0,653
3,89 (1,20)
Faktor 2: höhere(s) Karrierechancen, Einkommen
& Ansehen in anderen Fachrichtungen
(α=0,80)
13,4%
Eine Facharztqualifikation in einem anderen Fach ist
für mich attraktiver, …
weil man dort mehr verdienen kann
0,855
0,634
2,79 (1,38)
weil ich dort bessere Karrierechancen habe
0,812
0,674
2,98 (1,39)
weil man dort ein besseres Ansehen erlangen kann
0,778
0,605
2,46 (1,33)
Faktor 3: flexible Arbeitszeiten
(α=0,79)
9,5%
Der Hausarztberuf ist für mich attraktiv, …
wegen der guten Arbeitszeiten und der flexiblen
Zeiteinteilung
0,897
0,658
3,59 (1,31)
wegen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie
0,875
0,658
3,62 (1,21)
Faktor 4: Nachteile der Niederlassung
(α=0,55)
7,1%
Aus heutiger Sicht kann mich davon abhalten
Allgemeinmediziner/in zu werden, …
dass ich zu viele administrative Tätigkeiten
hätte
0,745
0,398
3,34 (1,23)
dass mir das wirtschaftliche Risiko zu groß ist
0,706
0,369
3,09 (1,30)
dass ich von den Krankenkassen zu viele Vorgaben gemacht
bekäme
0,646
0,322
3,95 (1,04)
Faktor 5: mehr Spezialisierung, Forschung und Teamarbeit
in anderen Fachrichtungen (α=0,50)
5,9%
Eine Facharztqualifikation in einem anderen Fach ist
für mich attraktiver, …
weil man dort sein Wissen speziell vertiefen kann
0,721
0,330
3,93 (1,16)
weil ich als Facharzt/ärztin besser in der
Forschung arbeiten kann
0,658
0,327
2,64 (1,49)
weil Teamarbeit als Facharzt/ärztin leichter
ist]
0,637
0,284
2,85 (1,29)
α, Cronbach’s Alfa
Unterschiede in Populationsmerkmalen (AM-Interessierte und
Nicht-AM-Interessierte)
AM-Interessierte sind häufiger weiblich, haben häufiger Kinder
und haben öfter Eltern oder nahe Verwandte, die in der AM tätig
sind ([Tab. 2 ]).
Tab. 2 Populationsbeschreibung nach Fachrichtungsgruppen
„AM-Interessierte“ &
„Nicht-AM-Interessierte“ mit Darstellung der
Unterschiede zwischen den Gruppen.
Populationsmerkmale
fehlende Werte
Fachrichtungswahl
Unterschiede
AM-Interessierte
Nicht-AM-Interessierte
p-Wert
N (%)
N=1705
N=1157
Alter
35 (1,2%)
24,3 (SD 4,8)
24,1 (SD 4,2)
0,161
Geschlecht (weiblich)
1220 (71,6%)
742 (64,1%)
0,000*
Studienabschnitt
0,075
Vorklinischer Abschnitt
606 (35,5%)
365 (31,5%)
Klinischer Abschnitt
904 (53,0%)
644 (55,7%)
Praktisches Jahr
195 (11,4%)
148 (12,8%)
Praktische Erfahrungen mit der AM
25 (0,9%)
1123 (66,5%)
751 (65,4%)
0,519
Theoretische Erfahrungen mit der AM
81 (2,8%)
1247 (75,3%)
860 (76,4%)
0,534
Studiengang
0,310
Modellstudien-/Reformstudiengang
1075 (63,0%)
751 (64,9%)
Regelstudiengang
630 (37,0%)
406 (35,1%)
Medizinstudierende mit Kindern
406 (14,2%)
89 (6,0%)
29 (3,0%)
0,000*
Medizinstudierende mit Eltern oder anderen nahen Verwandten,
die hausärztlich tätig
sind/waren
411 (14,4%)
240 (16,3%)
93 (9,5%)
0,000*
*p<0,001; AM, Allgemeinmedizin
Stärke der Zusammenhänge zwischen Fachrichtungswahl und
Beweggründen
[Tab. 3 ] zeigt einen statistisch
signifikanten Zusammenhang zwischen der Fachrichtungswahl und den Faktoren 1, 2,
3 und 5. Studierende mit Wunsch nach umfassendem Patientenkontakt ziehen mit
einer fast 4-mal höheren Chance die AM in Betracht (OR 4,02; 95%
KI [3,5; 4,6]). Ebenfalls steigt die Wahrscheinlichkeit in die AM zu gehen, wenn
die Arbeitszeiten als flexibel und gut mit der Familie vereinbar gesehen werden,
(OR 1,35; 95% KI [1,2; 1,5]). Darüber hinaus wählen
Studierende die Fachrichtung AM, obwohl sie der Meinung sind, dass
Karrierechancen, Einkommen und Ansehen in anderen Fachrichtungen höher
sind (OR 1,14; 95% KI [1,0; 1,3]) und gehen seltener in die AM, wenn sie
bessere Möglichkeiten für Spezialisierung, Forschung und
Teamarbeit in anderen Fachrichtungen sehen (OR 0,55; 95% KI [0,5; 0,6]).
Die Ergebnisse der Complete-Case-Analysis unterschieden sich nur unwesentlich
von der Analyse mit imputierten Daten für fehlende Werte.
Tab. 3 Ergebnisse der Logistischen Regression (Analyse mit
imputierten Daten für fehlende Werte & Complete
Cases) mit Fachrichtungswahl („AM-Interessierte“ vs.
„Nicht-AM-Interessierte“) als abhängige
Variable.
Items
Analyse mit imputierten Daten für fehlende Werte
Complete Cases (CC)
p
OR
CI
p
OR
CI
Faktor 1: umfassender Patientenkontakt
0,000
4,02
3,5–4,6
0,000
3,77
3,2–4,4
Faktor 2: höhere(s) Karrierechancen Einkommen
& Ansehen in anderen Fachrichtungen
0,007
1,14
1,0–1,3
0,010
1,16
1,0–1,3
Faktor 3: flexible Arbeitszeiten
0,000
1,35
1,2–1,5
0,000
1,39
1,2–1,5
Faktor 4: Nachteile der Niederlassung
0,190
1,10
1,0–1,3
0,181
1,10
1,0–1,3
Faktor 5: mehr Spezialisierung, Forschung und Teamarbeit in
anderen Fachrichtungen
0,000
0,55
0,5–0,6
0,000
0,54
0,5–0,6
Geschlecht
0,157
0,86
0,7–1,1
0,491
0,92
0,7–1,2
Kinder
0,003
0,44
0,2–0,8
0,085
0,59
0,3–1,1
Eltern bzw. Verwandte in der AM
0,050
0,73
0,5–1,0
0,163
0,78
0,5–1,1
AM, Allgemeinmedizin
Diskussion
Ziel der Studie war es, den statistischen Zusammenhang zwischen möglichen
Beweggründen von Medizinstudierenden und der Fachrichtungswahl
Allgemeinmedizin darzustellen. Damit schließt diese Studie eine vorhandene
Lücke in der bisherigen Forschungslandschaft und ermöglicht eine
Priorisierung von Handlungsmaßnahmen, um den allgemeinmedizinischen
Nachwuchs zu stärken.
Als wichtigstes Ergebnis ist festzustellen, dass der Wunsch nach umfassendem
Patientenkontakt (Faktor 1) mit der höchsten OR und damit der
stärksten Äußerung des Berufswunsches Hausarzt assoziiert
ist. Das deckt sich mit den Ergebnissen einer lokalen Studie aus Sachsen an einer
kleineren Kohorte (N=659), die ebenfalls einen positiven Zusammenhang
zwischen dem Wunsch, Allgemeinmediziner zu werden, und der
Langzeit-Arzt-Patienten-Beziehung, sowie dem breiten Patientenspektrum zeigte [10 ]. Es ist bekannt, dass Patientenkontakt in
der Lehrpraxis bestehendes Interesse an der Primär-Versorgung
verstärken kann [16 ] und
fortwährende praktische Erfahrung während der Ausbildung mit einem
höheren Anteil an AM-wählenden Studierenden assoziiert ist [11 ]. Dementsprechend sollten die praktische
Erfahrung mit Patienten und das studentische Interesse am Patientenkontakt mehr in
den Vordergrund der studentischen Ausbildung rücken. Um mehr
Medizinstudierende für den Beruf des Hausarztes zu gewinnen, kann die
praktische Ausbildung in den Lehrpraxen besser strukturiert werden, um bestehende
AM-Interessenten zu halten. Um flächendeckend eine hohe Qualität
für studentische Erfahrungen in den Lehrpraxen zu erreichen, ist
zentralisierte Qualitätssicherung notwendig. Die Vereinigung der
Hochschullehrer und Lehrbeauftragten für Allgemeinmedizin legte in diesem
Sinne bereits Strukturempfehlungen für die praktische Ausbildung in
Lehrpraxen vor [17 ]. Solche Ansätze
sollten gefördert und in Zusammenarbeit mit den Lehrärzten ausgebaut
werden. Zentralisierter Austausch über Bedürfnisse der Lehrpraxen,
Universitäten und Studierenden ist hierbei wünschenswert.
Zweitrangig stand der Faktor „Teamarbeit, Forschung und Spezialisierung in
anderen Fachrichtungen“ mit der Berufswahl AM in signifikantem Zusammenhang.
Studierende, denen diese Merkmale wichtig sind, streben eher keine
allgemeinmedizinische Laufbahn an. Hier sind nun die Universitäten gefragt:
Bereits an über 70% der deutschen Fakultäten sind
selbstständige Institute oder Abteilungen für AM eingerichtet oder
in Planung [18 ]
[19 ]. Diese Entwicklung ist
unerlässlich für den Forschungsfortschritt, die Wahrnehmung der
Allgemeinmedizin als selbstständige Fachrichtung und die Vernetzung
innerhalb der Disziplin [19 ]. Es gilt nun,
diesen Weg konsequent weiterzugehen. Der Stellenwert der Allgemeinmedizin als
forschendes Fach, das Spezialkenntnisse und Teamarbeit erfordert, muss aufgewertet
werden. Dies kann sowohl durch eine Förderung allgemeinmedizinischer
Strukturen an den Universitäten als auch durch eine intensivierte,
wissenschaftlich fundierte Lehre in der Allgemeinmedizin geschehen.
Hinsichtlich der Signifikanz steht der Zusammenhang zwischen guter Vereinbarkeit von
Beruf und Familie im Hausarztberuf und der Fachrichtungswahl AM an dritter Stelle.
Die hausärztliche Tätigkeit wird schon jetzt als flexibel und gut
vereinbar mit Freizeit und Familie angesehen. Hier könnten noch weitere
Gestaltungsspielräume im niedergelassenen Bereich (Job-Sharing, Anstellung,
Teilzulassung usw.) mehr Nachwuchs in die Primärversorgung locken.
Ergänzend fällt der hohe Frauenanteil der AM-Interessierten sowohl
in der vorliegenden, als auch in anderen Studien auf [6 ]
[7 ], was teilweise dem steigenden Anteil
weiblicher Medizinstudierender zuzuschreiben ist [20 ]. Für Frauen hat die Vereinbarkeit von Familie und Beruf
häufig eine hohe Relevanz [7 ].
Zuletzt zeigte sich, dass AM-Interessierte zwar erkennen, dass Karrierechancen,
Einkommen und Ansehen in anderen Fachrichtungen höher sind (Faktor 2) [6 ]
[7 ]
[8 ], aber dennoch gewillt sind, AM zu
wählen. Zukünftig sollten Hausärzte hinsichtlich
Karrierechancen, Einkommen und Ansehen den anderen Fächern gleichgestellt
werden, um die Attraktivität des Berufs auch für jene Studierende zu
steigern, für die diese Berufsaspekte eine höhere Priorität
darstellen.
Limitationen & Stärken
Soweit vergleichbare Fragestellungen untersucht wurden, decken sich die
beschriebenen Ergebnisse unserer Studie mit denen vorangegangener Studien [6 ]
[7 ]
[8 ]. Hinsichtlich Geschlecht, Alter und
Nationalität ist die Kohorte der vorliegenden Studie [69,3%
Frauenanteil, 23,0 Jahre (Median), 82,3% deutsche Studierende] mit der
Gesamtheit der Medizinstudierenden in NRW vergleichbar [62,4%
Frauenanteil, 25,0 Jahre (Median), 87,4% deutsche Studierende] [21 ], [22 ] was für eine gute Repräsentativität
unseres Kollektivs hinsichtlich der mit der Wahl der Fachrichtung AM
zusammenhängender Beweggründe spricht. Dies ist nicht zuletzt
der Teilnahme aller Hochschulstandorte in NRW, der hohen Teilnehmerzahl, und der
Verteilung des Kollektivs auf mehrere Hochschulstandorte und alle
Studienabschnitte geschuldet. Rückschlüsse auf andere
Bundesländer sind nur begrenzt möglich angesichts der
unterschiedlichen, bundeslandspezifischen Kontexte. Auch fehlt es an
vergleichbaren Studien aus anderen Bundesländern für einen
direkten Vergleich.
Ein weiterer starker Aspekt der vorliegenden Studie ist, dass direkt nach
Beweggründen für die Fachrichtungswahl gefragt wurde, was es
ermöglichte motivationale Faktoren zu identifizieren. Trotz der
Stärken dieser Studie können der Rücklauf von
22,6% und die teilweise unvollständig ausgefüllten
Fragebögen nicht ignoriert werden. Auch eine Mehrfachteilnahme oder ein
Weitergeben des Umfrage-Links an Personen außerhalb der Zielgruppe kann
trotz Cookie-Einstellungen, die ein doppeltes Ausfüllen von einem
Computer aus blockierten, nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden.
Der Wunsch nach umfassendem Patientenkontakt ist am stärksten
mit der Fachrichtungswahl AM assoziiert.
Zentralisierter Austausch über die Bedürfnisse der
Lehrpraxen, Universitäten und Studierenden könnte
flächendeckend die praktische Erfahrung der Studierenden
aufwerten und dadurch AM-Interessierte Studierende halten.
Der Stellenwert der Allgemeinmedizin als forschendes Fach, das
Spezialkenntnisse und Teamarbeit erfordert, muss aufgewertet werden,
um auch Studierenden mit solchen Prioritäten
entgegenzukommen.
Gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie im Hausarztberuf steht in
positivem Zusammenhang mit der Fachrichtungswahl AM. Weitere
Gestaltungsspielräume im niedergelassenen Bereich
wären der Nachwuchsgewinnung dienlich.
Hausärzte sollten hinsichtlich Karrierechancen, Einkommen und
Ansehen den anderen Fächern gleichgestellt werden, um das
Interesse der Studierenden an der AM zu fördern.