Adoleszenz
Die Adoleszenz birgt als „psychosoziale Pubertät“ eine Vielzahl an Aufgaben im Übergang
eines Jugendlichen zu einem jungen Erwachsenen. Die Entwicklungsaufgaben für
eine erfolgreich durchlebte Adoleszenz sind uneinheitlich definiert, es scheint aber
Einigkeit zu herrschen, dass kulturelle und gesellschaftliche Konventionen
wesentlich Einfluss darauf haben (u. a. [1], [2]).
Eine zentrale Aufgabe, unabhängig von den kulturellen Rahmenbedingungen, ist die Entwicklung
einer eigenen Identität und Persönlichkeit. Traditionell, in Anlehnung
an die bisherigen Diagnosesysteme (ICD-10 und DSM IV bzw. DSM 5), wird auch die Entwicklung
von Persönlichkeitsstörungen in dieser Lebensphase verortet. Sofern
keine ausreichenden Resilienzfaktoren in der Person selbst oder dem Umfeld des Heranwachsenden
vorliegen, kann es im Fall einer gestörten
Persönlichkeitsentwicklung, entweder aufgrund frühkindlicher Vulnerabilitätsfaktoren
oder auch durch Belastungsfaktoren in der Adoleszenz, zur Ausformung einer
Persönlichkeitsstörung kommen [3].
Es gibt Hinweise darauf, dass in der heutigen Gesellschaft die Gefahr einer gestörten
Entwicklung in der Adoleszenz erhöht ist. Dies erklären Autoren einerseits
durch eine Verlängerung der vulnerablen Phase der Adoleszenz im Vergleich zu vorindustriellen
Gesellschaften [4]. Andererseits wird
auch eine deutliche Akzeleration der psychosozialen Entwicklung beschrieben. Dies
wird beispielhaft mit der Konfrontation mit leicht verfügbaren Informationen in
Internet und sozialen Medien, aber auch durch verbesserte Ernährung, Reduktion von
Infektionskrankheiten und eine erhöhte Hormonbelastung begründet [5].
Störungsbilder in der Adoleszenz
Störungsbilder in der Adoleszenz
In der Adoleszenz manifestiert sich ein Großteil aller psychischen Erkrankungen. Im
Alter von 14 Jahren sind bereits 50 % aller psychischen Erkrankungen nachweisbar,
bis zum 24. Lebensjahr manifestieren sich 75 % aller Lebenszeiterkrankungen [6].
Im klinischen Alltag imponieren bei Heranwachsenden häufig sehr dynamische und emotionale
Syndrome mit Stimmungsschwankungen, ausgeprägten Gefühlen von Scham,
sozialen Ängsten und Befürchtungen, Kränkungen und auch selbstverletzendem Verhalten
und Suizidalität. Die Bilder lassen sich nach ICD-10-Kriterien oft am ehesten
als Hauptdiagnose einer depressiven Erkrankung oder emotional instabilen Persönlichkeitsstörung
zuordnen, wobei psychiatrische Komorbiditäten eher die Regel als die
Ausnahme sind (komorbide Suchterkrankung in 50 % der Fälle, komorbide andere psychische
Erkrankung in 66 % der Fälle) [7].
Im Gegensatz zur traditionellen Diagnostik ist es heute allerdings auch üblicher,
bei Bedarf Mehrfachdiagnosen zu stellen. Hierdurch soll eine situationsadäquate
Beschreibung der Symptomatik erreicht werden. Dabei handelt es sich weniger um eine
„Komorbidität“ als um eine „Kosyndromalität“ [8], sodass auch von polysyndromaler Diagnostik gesprochen wird.
Der Auftrag der Adoleszenzpsychiatrie ist einerseits die frühe Erkennung von psychischen
Erkrankungen und Bereitstellung einer adäquaten Therapie, um
Chronifizierungen zu vermeiden, andererseits die Entstigmatisierung und Vermeidung
unnötiger Regressionsförderung und Institutionalisierung bei Patienten, die eher
im Rahmen einer Adoleszenzkrise ohne Vorliegen einer manifesten psychischen Erkrankung
in das psychiatrische Hilfesystem kommen [9].
Narzissmus
Der Begriff des Narzissmus wird im allgemeinen Sprachgebrauch in unterschiedlichen
Zusammenhängen verwendet. Selbst in der medizinisch-psychiatrischen Literatur
lassen sich kontextabhängig unterschiedliche Schwerpunkte erkennen. Als zentrales
narzisstisches Thema wird u. a. das einer erhöhten Kränkbarkeit vor dem
Hintergrund einer Diskrepanz zwischen Selbstanspruch und Selbstbild sowie den realen
Fähigkeiten und Rückmeldungen aus sozialen Interaktionen beschrieben ([3], S. 390–402).
In der Psychoanalyse hat sich das Konstrukt der „narzisstischen Charakterstörung“
stark gewandelt. Hervorzuheben ist, dass in der Psychoanalyse davon ausgegangen
wird, dass aufgrund der einseitigen Libidobesetzung der eigenen Person eine Übertragungsneurose
kaum ausgebildet werden kann, weshalb Menschen mit ausgeprägtem
Narzissmus schwer behandelbar sind ([3], S. 90–91 und S. 390–402).
Normaler und pathologischer Narzissmus
Normaler und pathologischer Narzissmus
Das Konzept eines „normalen und pathologischen Narzissmus“ wurde von verschiedenen
Autoren entwickelt, um die stabilisierenden Aspekte des Narzissmus einerseits und
die destruktiven Seiten andererseits abzubilden [10], [11].
Als „normaler Narzissmus“ wird die libidinöse Besetzung des Selbst durch die Integration
aggressiver Selbst- und Objektrepräsentanzen in einem kohäsiven
Selbstkonzept beschrieben. So hat der „normale Narzissmus“ in der Persönlichkeitsentwicklung
stabilisierenden Charakter.
Demgegenüber wird der „pathologische Narzissmus“ als destabilisierend und destruktiv
beschrieben. Bei ihm wird ein grandioses Selbst als Abwehr gegen intensive
präödipale und ödipale Konflikte im Zusammenhang mit Liebe und Aggression herausgebildet,
was zu einer pathologischen Selbststruktur führt [11].
Paradigmenwechsel in der Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen
Paradigmenwechsel in der Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen
Der Beginn von Persönlichkeitsstörungen wird in der frühen Kindheit verortet, die
Manifestierung in der Adoleszenz angenommen [12].
Bisher lautete daher die Empfehlung, dass die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung
erst im Erwachsenenalter erfolgen sollte, da sie selten vor dem 16. Lebensjahr
voll ausgebildet sei.
In der psychoanalytischen Theorie wird nichtsdestotrotz angenommen, dass Narzissmus
in sehr frühen Lebensphasen nicht nur entwickelt wird, sondern auch bereits
manifest ist. Hierfür wurden Beobachtungen von Kleinkindern beim Spielen und die Interaktionen
mit Spielkameraden und Eltern herangezogen [10]. Die Konsequenzen des Paradigmas einer Lebenszeitdiagnose sind ein hohes Risiko
der Stigmatisierung der Betroffenen und im
ungünstigsten Fall therapeutischer Nihilismus.
Allerdings stützen Langzeituntersuchungen dieses Bild nicht, da auch Persönlichkeitsstörungen
in ihrer Symptomausprägung über die Lebenszeit deutlichen Veränderungen
unterliegen [13].
Symptome einer Persönlichkeitsstörungen unterliegen deutlichen Schwankungen. Die Kriterien
für eine Persönlichkeitsstörung können zeitweilig erfüllt sein, in
anderen Phasen wieder nicht.
Das Gleiche gilt für die psychosozialen Funktionseinschränkungen [14], [15]. Hier werden
Eigenschaften des Temperaments und Persönlichkeitsstile sowie die daraus resultierenden
Verhaltensweisen hervorgehoben. Bei entsprechend eingeschränkter
Flexibilität in den Verhaltensweisen besteht eine größere Anfälligkeit für Dekompensation
im psychosozialen Funktionsniveau. Symptome einer Persönlichkeitsstörung
können die Folge sein. Diese können in Krankheitsphasen auch über längere Zeiträume
anhalten, aber eben auch wieder remittieren [16].
Im Zuge der Entwicklung eines dimensionalen Ansatzes für Persönlichkeitsstörungen
wurde dies berücksichtigt, indem neben der Persönlichkeitsausprägung nach dem
Fünf-Faktoren-Modell das Ausmaß der Funktionseinschränkung erhoben wird [3], [17]. Diese Anpassung
wurde im Wechsel von dem DSM IV zu DSM 5 berücksichtigt, wobei für den klinischen
Teil die bisherige Einteilung des DSM IV beibehalten wurde. Das dimensionale
Modell der Persönlichkeitsstörungen findet sich zunächst im Forschungsteil des DSM
5.
Das Paradigma wandelt sich von einer „kranken Persönlichkeit“ hin zu individuell ausgeprägten
Persönlichkeitsstrukturen, die mehr oder weniger prädisponierend
für eine langfristige Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung mit entsprechendem
Symptombild sowie sozialen und Alltagsschwierigkeiten sein können [17], [18].
Narzisstische Strukturen in der adoleszentären Entwicklung
Narzisstische Strukturen in der adoleszentären Entwicklung
Abhängig von den Entwicklungsphasen kommen unterschiedliche Persönlichkeitsaspekte
zur Geltung. Narzisstische Themen, die im Zuge einer adoleszentären Entwicklung
stabilisierende Wirkung haben können, sind zum Beispiel die Fähigkeit, Zukunftsperspektiven
zu entwickeln, einen Glauben an sich und den eigenen Wert zu haben und
Autarkie, also die Fähigkeit, eigene Pläne zu entwickeln und umzusetzen. Im Kontext
der adoleszentären Entwicklung lassen sich aber auch häufig Fantasien von
Großartigkeit, ein großes Bedürfnis nach Bewunderung und nicht selten auch ein (noch)
nicht voll ausgebautes Empathievermögen beobachten. Diese Kriterien werden im
DSM 5 als „tiefgreifendes Muster“ für die narzisstische Persönlichkeitsstörung zugrunde
gelegt [19].
Im Gegensatz dazu fallen häufig schwere Minderwertigkeitsgefühle und Selbstabwertungen
auf. Viele Patienten leiden unter mangelhafter Abgrenzungsfähigkeit, was ein
ausgeprägtes Empathievermögen voraussetzt. Jugendliche, die mit internalisierenden
Störungen, wie Depressionen oder Angststörungen, das psychosoziale Hilfesystem
beanspruchen, haben häufig in diesem Bereich Defizite. Hier wäre in Anlehnung an die
DSM-Kriterien von einem gering ausgeprägten Narzissmus auszugehen. Diese
Beschreibungen können bei Adoleszenten auch parallel oder in kurzer Abfolge bei einem
Individuum auftreten, sodass in einem solchen Fall das Zeitkriterium und auch
die prinzipielle Definition der Persönlichkeitsstörung als „tiefgreifendes Muster“
„über einen längeren Zeitraum“ [19] nicht
erfüllt sind.
Die adoleszentäre Entwicklung verläuft nicht linear und in allen Bereichen aufeinander
abgestimmt. Heranwachsende mit psychischen Erkrankungen weisen oft
Entwicklungsdefizite in mehreren Teilbereichen auf [2], [17].
Bei emotional instabilen Syndromen stehen meist dysfunktionale Emotionsregulation
und instabile Selbstwert- und Identitätskonstrukte im Mittelpunkt. Die
narzisstischen Themen haben Überlappungen mit emotional instabilen Kernbereichen [10].
Hier sei das Selbstbild mit einer bei Adoleszenten meist noch nicht gefestigten Identitätsvorstellung
erwähnt, das sich im Fall der Entwicklung einer
Persönlichkeitsstörung bei Narzissten zu einem zentralen, tiefgreifenden Thema entwickelt.
Die Abspaltung des grandiosen Selbstbilds von Realitätsüberprüfungen ist
die notwendige Folge als Abwehr, um auftretende Differenzen aushaltbar zu machen.
Die Integration von Bindung und Selbstentfaltung gelingt meist nicht, da das
Eingehen von Beziehungen und tatsächliche Nähe schwer aushaltbar sind, solange die
Beziehung nicht der Stabilisierung des Selbstwerts dient. Die soziale Kompetenz,
die auch eine gewisse Empathiefähigkeit bedingt, weist (Entwicklungs-)Defizite auf.
So gesehen, sind die genannten narzisstischen Aspekte sowohl bei starker als auch
bei geringer Ausprägung hinderlich für eine gesunde Entwicklung.
KASUISTIK 1: PATHOLOGISCHER NARZISSMUS ALS HINDERNIS IN DER THERAPIE
Die 19-jährige Frau T. stellte sich mit einem depressiv-suizidalen Syndrom in Begleitung
ihrer Mutter in der Zentralen Notaufnahme des Klinikums vor. Stationäre
Aufenthalte in der Kinder- und Jugendpsychiatrie vor 4 bzw. 6 Jahren. Sie kenne depressive
Episoden und passive lebensmüde Gedanken, habe aktuell aber seit
einigen Wochen zunehmende Panikattacken. Vom Hausarzt habe sie Sertralin 50 mg verschrieben
bekommen, worunter sich die Angstzustände zugespitzt hätten.
Krisenauslöser sei ein „Sonnenstich“ gewesen: Sie sei im Park gewesen, um sich zu
sonnen, und sei dort so bewundert worden, dass sie sich zu lange in der Sonne
aufgehalten habe. Ihr sei übel gewesen und sie habe Kopfschmerzen und Herzrasen entwickelt.
In den Tagen danach sei die Angst hinzugekommen, in der
Öffentlichkeit umzukippen und „die Kontrolle zu verlieren“. Als weiterer Belastungsfaktor
zeigte sich, dass Frau T. zwei Monate zuvor von zu Hause ausgezogen
war.
Psychopathologisch fiel eine depressive Stimmung mit Grübeln und Gedankenkreisen bei
erhaltener Schwingungsfähigkeit auf. Frau T. berichtete von zahlreichen
Ängsten, die teilweise sozialen Situationen zugeordnet werden konnten, teilweise aber
auch frei flottierten. Weiterhin war ein Verfolgungs- und
Beobachtungserleben auffällig, sie habe zudem „Menschen im Kopf“, die ihr zuhören
würden und ihr Handeln kommentierten. Bei Aufnahme starke Suizidgedanken, von
denen sie sich aber klar distanzieren könne. Sie möge sich eigentlich zu sehr, um
einen Suizidversuch zu begehen.
Im Stationsgeschehen war das sehr gepflegte und stark geschminkte Erscheinungsbild
auffällig. Frau T. verpasste häufig Termine oder kam zu spät, da sie ohne
Make-up ihr Zimmer nicht verlassen konnte.
Psychotherapeutisch wurde mit viel Validierung gearbeitet, um ein therapeutisches
Bündnis zu ermöglichen. In Kontakten wertete sie ihr Gegenüber durch Sprache
und Gestik häufig ab und konnte zwischenmenschliche Situationen meist nur über sich
selbst überhöhende Bemerkungen gestalten. Dies führte in der Patientengruppe
und dem Behandlerteam gegenüber wiederholt zu konflikthaften Situationen. Es gelang
im Verlauf, hierüber zu reflektieren und retrospektiv Situationen zu
analysieren. So schilderte Frau T. beispielhaft eine Situation, in der sie sich anderen
Mitpatientinnen gegenübergesetzt habe, in der Gewissheit, dass sie
„besser aussehe“. Sie habe in diesen Momenten Glück verspürt.
In der weiteren Therapie lag das Ziel im Bewusstmachen und Abbau von Bewertungen,
was jedoch nur teilweise gelang. Hilfreich waren Elemente aus der Acceptance
and Commitment Therapy (ACT), wie die Busfahrer-Metapher.
Frau T. äußerte häufig Verfolgungs- und Beobachtungsgefühle in einer Intensität, die
teilweise psychotisch anmutete. Im Verlauf ließ sich dies im Rahmen des
ausgeprägten Bedürfnisses nach Bewunderung und Aufmerksamkeit einordnen, eine operationalisierte
Früherkennungsdiagnostik lieferte keine Hinweise auf ein
psychotisches Risikosyndrom.
Im Strukturierten Klinischen Interview für DSM IV (SKID II) erfüllte Frau T. die Kriterien
für eine narzisstische Persönlichkeitsstörung eindeutig (7/9 Punkte,
bei einem Cutoff von 5), für eine paranoide (4/7, Cutoff 4) und Borderline-Persönlichkeitsstörung
grenzwertig (5/9, Cutoff 5).
Der Verlauf war von Stimmungseinbrüchen geprägt. Mehrfache Versuche, die Mutter in
die Therapie mit einzubeziehen, wurden von der Patientin abgelehnt,
Interventionen mit Bezug zur Familie waren nicht möglich. Eine anhaltende Stabilisierung
konnte bis zum Ende nicht erreicht werden. Als größte Hürde für
nachhaltige Interventionen wurde die Unfähigkeit erlebt, im stationären Setting eine
therapeutische Beziehung einzugehen. So wurden jegliche Interventionen
allenfalls auf theoretischer Ebene besprochen, eine emotionale Verarbeitung der Inhalte
war kaum möglich. Die Entlassung konnte nach sechs Wochen stationärer
Krisenintervention nur mit der Aussicht auf eine Wiederaufnahme umgesetzt werden.
KASUISTIK 2: GERING AUSGEPRÄGTE NARZISSTISCHE ZÜGE ALS ENTWICKLUNGSHINDERNIS
Der 18-jährige Herr P. stellte sich auf Zuweisung der Früherkennungsambulanz für Psychische
Störungen bei anhaltend depressiver Symptomatik mit sozialem Rückzug
und Suizidgedanken geplant zur stationären Behandlung vor. Im Vorfeld war es bereits
seit 2 Jahren zu Kontakten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gekommen,
aus denen jedoch keine weiterführende Behandlung resultierte.
Seit einem Jahr sei Herr P. nicht mehr zur Schule gegangen. Der soziale Rückzug habe
sich im Verlauf auf weitere Lebensbereiche erstreckt, sodass er keinerlei
Aktivitäten mehr außer Haus unternommen habe. Aufgrund von Ambivalenz gegenüber der
Behandlung und Misstrauen erfolgte nach nur einer Nacht auf Station die
Entlassung gegen ärztlichen Rat. Zwei Monate später meldete sich Herr P. erneut und
es erfolgte eine tagesklinische Aufnahme im Adoleszenzbereich des UKE.
Ein konkreter Krisenauslöser ließ sich nicht eruieren. Herr P. lebte zu Hause mit
der Mutter und hatte keinen Schulabschluss. Zum Vater bestand seit Jahren kein
Kontakt. Bereits in der Kindheit hatte es zahlreiche Vorstellungen in der Kinderklinik
mit unterschiedlichen körperlichen Beschwerden wie Bauchschmerzen
gegeben. Herr P. beschrieb, dass sich das Jugendamt aufgrund von Vernachlässigung
und Kindeswohlgefährdung bei der Familie eingeschaltet habe, als er 10 Jahre
alt war. Seine Mutter habe viele Auflagen erfüllen müssen, um eine Fremdunterbringung
zu verhindern.
Psychopathologisch fiel eine etwas manierierte Ausdrucksweise und ein niedergestimmter
Affekt mit verminderter emotionaler Schwingungsfähigkeit auf. Herr P.
schilderte Insuffizienz- und Schuldgefühle sowie subjektive Wortfindungs- und Konzentrationsstörungen,
die in der Außenbetrachtung nicht auffielen. In der
Vorgeschichte sei es zu Panikattacken und ritualhaften zwanghaft anmutenden Handlungen
gekommen. Er habe mehrfach versucht sich umzubringen, indem er mit
geschlossenen Augen über die Straße gegangen sei und einmalig durch Erhängen mit einem
Schal. Der Schal sei gerissen.
In der Therapie fiel es Herrn P. zunächst schwer, eigene Ziele zu entwickeln. Die
Formulierungen waren häufig allgemeingültig und wirkten sozial erwünscht; so
wurde als Hauptziel für die Behandlung formuliert, mehr soziale Kontakte zu haben.
Das symbiotische Verhältnis zur Mutter fiel auf mit Tendenzen zur
Parentifizierung. Versuchen, die Mutter in die Therapie mit einzubeziehen, verweigerte
sich Herr P. Er müsse die Mutter schützen, da sie selber auch depressiv
sei.
Der Patient profitierte von dem strukturierten Setting und den sozialen Kontakten
in der Tagesklinik sowie einem Gruppenangebot zur Depressionsbehandlung. Er
hatte in der Patientengruppe die Rolle eines Außenseiters und es gelang ihm nur selten,
sich aktiv in der Gruppe zu beteiligen.
In der Therapie gelang es, Herrn P. zu aktivieren und die Stimmung leicht zu verbessern.
Die Entlassung erfolgte mit der Empfehlung einer Familientherapie, um
den Ablösungsprozess von der Mutter zu begleiten und Eigenständigkeit zu fördern.
Eine gesunde Persönlichkeit setzt sich aus einem breiten Spektrum möglicher Interaktionsstile
zusammen, die flexibel eingesetzt werden können. Den Unterschied
zwischen einer Persönlichkeitsstörung und einer ausgeprägten, facettenreichen Persönlichkeit
macht die Rigidität bzw. die Flexibiltät, in der die
unterschiedlichen Aspekte eingesetzt werden können.
Narzissmus kann sich im Kindes- und Jugendalter sehr destruktiv äußern, indem sich
Betroffene mit einem „pathologischen Narzissmus“ aufgrund ihrer mangelhaften
Beziehungsfähigkeit und leichten Kränkbarkeit isolieren und in der Erkenntnis, ihrem
Selbstbild nicht entsprechen zu können, selbstzerstörerische Tendenzen
entwickeln. Auch zu gering ausgebildete narzisstische Persönlichkeitszüge können sich
als ungünstig erweisen, wenn der Heranwachsende eigene Bedürfnisse nicht
erkennen und keine eigenen Ziele bilden kann.
Ein „normaler Narzissmus“ wirkt hingegen stabilisierend, da er mit einem positiven
Selbstbild Sicherheit vermittelt und eine innere Repräsentanz bildet. Diese
innere Repräsentanz kann zu einer ausgewogenen Persönlichkeitsentwicklung beitragen.
Diese Aspekte sollten in diagnostische und therapeutische Überlegungen einbezogen
werden, um die Entwicklungsmöglichkeiten zu nutzen und Chronifizierungen von
psychischen Erkrankungen, insbesondere Persönlichkeitsstörungen, entgegenzuwirken.