Die bisherigen Erfahrungen mit peripherer Stimulation der oberen Extremität
verweisen auf deutliche Verbesserungen des Tastsinns, der Propriozeption,
der haptischen und motorischen Performanz, was sich in einer erhöhten
Alltagskompetenz niederschlägt. (Quelle: kubko/stock.adobe.com)
Einleitung
Die nach einem Schlaganfall auftretenden massiven sensomotorischen Beeinträchtigungen
haben trotz vorhandener rehabilitativer Behandlungen weitreichende physische,
psychologische, finanzielle und soziale Auswirkungen. Beeinträchtigungen der
Willkürmotorik und der Somatosensorik gehören zu den häufigsten Folgen des
Schlaganfalls, wobei die Auswirkungen auf obere und untere Extremitäten vergleichbar
sind. Es herrscht heute Einigkeit darüber, dass die Unversehrtheit des
somatosensorischen Inputs nicht nur für die taktile Wahrnehmung, sondern auch für
die sensomotorische Leistung von entscheidender Bedeutung ist. Der Verlust
sensorischer Fähigkeiten der oberen Extremitäten, insbesondere der Hand, verstärkt,
trotz möglicher Erholung motorischer Funktionen, die Komplikationen bei Nutzung der
Hand für allgemeine Alltagstätigkeiten [3].
Therapeutische Intervention und Leistungssteigerung Grundsätzlich nutzen alle
auf neuroplastischen Prinzipien basierenden Rehabilitationsmaßnahmen nach
Schlaganfällen aufgabenspezifisches Training in Verbindung mit erheblichem
Übungsaufwand, um Plastizitätsprozesse auszulösen und damit sensomotorische
Funktionen zu verbessern [26]. Da viele Patienten
an eingeschränkter Mobilität leiden, sind diese Therapieansätze aus oben genannten
Gründen oft nur bedingt zu realisieren. Demzufolge werden die bisherigen
Erkenntnisse zur Effektivität von Standardtherapieverfahren im Rahmen der
Leistungswiederherstellung von Patienten kontrovers diskutiert. Insbesondere für die
oberen Extremitäten konnte bislang nur ein bedingter Zusammenhang zwischen dem
Umfang therapeutischer Intervention und der daraus resultierenden
Leistungssteigerung festgestellt werden [17]. Nach
einer 2014 veröffentlichten Metastudie gab es zum genannten Zeitraum keine
„high-quality evidence“ für Interventionsmaßnahmen, die im Rahmen der
Routineversorgung von Schlaganfallpatienten im Einsatz sind [22]. Aus diesem Grund ist die Entwicklung
zusätzlicher Ansätze notwendig, die konventionelle Trainingsprozeduren ergänzen und
verstärken.
Neue Rehabilitationsmaßnahmen In den letzten Jahren wurden Anstrengungen
unternommen, die Wirksamkeit und Realisierbarkeit neuartiger
Rehabilitationsmaßnahmen auf ihre Effizienz hin zu untersuchen. Neben direkter
zentralnervöser Stimulation wie TMS oder tDCS und roboter- und gerätegestützter
Rehabilitation wurden Ansätze mithilfe peripherer Stimulation untersucht.
Repetitive sensorische Stimulation in der Rehabilitation
Repetitive sensorische Stimulation in der Rehabilitation
Das Konzept sensorischer Stimulation zur Auslösung von Plastizitätsprozessen wird
von
verschiedenen Labors untersucht, die unterschiedliche Motivationen und Begriffe
nutzen wie beispielsweise „peripheral nerve stimulation“ [24], „somatosensory stimulation“ [5],
[27], „unattended-based learning“ [9] oder „high-frequency stimulation“ [23]. Das Prinzip der „co-activation“ unterstreicht
die Bedeutung des Hebb‘schen Lernens, wonach im Gehirn synchrone neuronale Aktivität
eine wichtige Voraussetzung zur Auslösung plastischer Veränderungen ist [7]. Manche Labore nutzen „stimulus-selective
response plasticity“ oder „tetanic stimulation“ in Anlehnung an das Konzept der
tetanischen Stimulation im Rahmen synaptischer Plastizitätsuntersuchungen [4]. Der häufig verwendete Begriff „passive
Stimulation“ oder „passives Lernen“ soll deutlich machen, dass zeitlich
strukturierte sensorische Reize verwendet werden, ohne diese aktiv zu beachten oder
beachten zu müssen. Im Rahmen dieses Beitrags wird durchgehend der Begriff
„repetitive sensorische Stimulation“ benutzt.
Elektrische Stimulationsansätze Seit geraumer Zeit kommt bereits eine Reihe
von elektrischen Stimulationsansätzen zum Einsatz, bei denen die Unterstützung der
motorischen Performanz durch Intensivierung sensorischen Inputs im Vordergrund
steht. Dabei unterscheidet man die funktionelle (FES) und die therapeutische
Elektrostimulation (TES) sowie nach ihren technischen und konzeptionellen
Charakteristika die neuromuskuläre Elektrostimulation, EMG-getriggerte
Elektrostimulation, Positions-Feedback-Stimulationstraining oder transkutane
elektrische Nervenstimulation. Zu dem Problem einer einheitlich-verbindlichen
Terminologie kommt eine noch größere Unübersichtlichkeit an Applikationsverfahren
und Stimulationsparametern. Nur bezogen auf die Behandlung der oberen Extremität
wird beispielsweise der Medianusnerv stimuliert, ein einzelner Finger (Fingerspitze)
oder alle fünf Finger einer Hand (tipstim®) oder die ganze Hand (mesh
glove). Als Elektroden kommen Klebeelektroden, Ag-AgCl-Elektroden oder Handschuhe
zum Einsatz („mesh-glove“, tipstim®-Handschuh).
Geringe Vergleichbarkeit Besonders schwer wird eine vergleichende Bewertung
bereits publizierter Arbeiten durch die Verwendung ganz unterschiedlicher
Stimulationsparameter, die sowohl kontinuierliche als auch intermittierende
Stimulationsprotokolle im Bereich zwischen 1 Hz und 100 Hz umfassen. Variabel ist
auch die Dauer einer Stimulationssession, die zwischen Minuten bis mehrere Stunden
betragen kann. Während einige Studien lediglich auf einer Stimulationssession
beruhen, nutzen andere Untersuchungen eine wiederholte Applikation über mehrere
Wochen bis hin zu vielen Monaten. Auch hinsichtlich des Versuchsdesigns gibt es
Unterschiede. So kann repetitive Stimulation als „Stand-alone“-Verfahren genutzt
werden oder in Kombination mit Training und anderen Therapiemaßnahmen. Schließlich
kommen sehr unterschiedliche Arten des Assessments des Interventionsoutcomes zum
Einsatz, wie z. B. die Verwendung von klinischen „rating scales“, von einfachen
Funktionstests bis zu aufwendigen Verhaltenstests. Aufgrund dieser Vielfalt ist die
Aussagekraft von Metaanalysen eingeschränkt [6].
Konzeptioneller Hintergrund der Verwendung repetitiver Stimulation
Konzeptioneller Hintergrund der Verwendung repetitiver Stimulation
Der Königsweg zur Verbesserung sensorischer, motorischer oder kognitiver Leistungen
besteht in lang andauerndem Training und Übung. Neuere Studien an Gesunden zeigen
jedoch, dass vergleichbare Leistungsverbesserung auch ohne Training durch rein
passive Darbietung sensorischer Reize erzielt werden kann. Solches
„trainingsunabhängiges Lernen“ löst nachhaltige Veränderungen der Wahrnehmung und
der neuronalen Verarbeitung aus.
Synaptische Plastizität Die Grundlage aller Lernvorgänge sind Veränderungen in
der Kommunikation zwischen Nervenzellen. Auf zellulärer Ebene erfolgt der
Lernprozess, indem die Signalübermittlung an der Synapse effizienter oder weniger
effizient wird [1], [19]. Diese Modifikation in der Synapsenstärke bezeichnet man als
synaptische Plastizität. Eine Reihe von Modellen beschreibt, wie sich die
synaptische Übertragung im Verlauf des Lernens nachhaltig ändert, z. B. durch
Langzeitpotenzierung (LTP) und Langzeitdepression (LTD). So löst hochfrequente
elektrische Stimulation von Nervenzellen LTP aus, das heißt, die Kommunikation
zwischen den stimulierten Zellen verstärkt sich. Niederfrequente Stimulation
verursacht hingegen LTD; die Effizienz der Kommunikation zwischen den Zellen nimmt
ab. LTD und LTP sind somit zwei zentrale Mechanismen für Lernprozesse. Die
Wirksamkeit der repetitiven Stimulation beruht wahrscheinlich darauf, dass die
verwendeten Stimulationsprotokolle zur Auslösung synaptischer Plastizität nahezu
optimal sind.
Wirkung repetitiver Stimulation bei Gesunden
Wirkung repetitiver Stimulation bei Gesunden
Die Kenntnis der mutmaßlichen Mechanismen, die im intakten Gehirn zu
Plastizitätsprozessen und einhergehenden Verhaltensänderungen führen, sind eine,
wenn auch nicht die entscheidende Voraussetzung für den Einsatz als Intervention bei
Patienten mit Schädigung des ZNS. Ein wichtiger Parameter zur Charakterisierung
neuronaler Verarbeitung mittels nichtinvasiver Verfahren ist die Größe und
Ausdehnung der kortikalen Aktivierung, was auch als Veränderung kortikaler Karten
interpretiert wird. Verbesserte sich durch repetitive sensorische Stimulation der
Tastsinn der Finger, waren im somatosensorischen Kortex die Hirngebiete, die taktile
Informationen im Finger-/Handbereich verarbeiten, vergrößert ([
Abb. 1
]). Dies deutet darauf hin, dass
zusätzliche Ressourcen rekrutiert wurden, um die Signale aus dem Handbereich
effektiver zu verarbeiten. Wenn dies stimmt, sollte die Modifikation der Hirnkarten
kausal mit der veränderten Diskriminationsfähigkeit zusammenhängen. Tatsächlich
zeigen Probanden, bei denen sich diese Fähigkeit nur gering verbessert, auch nur
eine geringe Veränderung der Hirnkarten. Umgekehrt findet bei den Teilnehmern, bei
denen sich die Hirnkarten am stärksten verändern, auch die größte Verbesserung des
Tastsinns statt [20].
Abb. 1 Wirkungsschema der repetitiven Stimulation. Sensorische
Stimulation der Finger mittels LTP-artigen Stimulationsprotokollen löst eine
Kaskade von funktionellen Veränderungen des somatosensorischen Systems aus.
Im Mittelpunkt steht dabei die Annahme, dass die Art der sensorischen
Stimulation plastische Prozesse induziert, die ihrerseits zu
Verhaltensänderungen führen, im Falle von Patienten zu einer
Funktionsrestauration der oberen Extremität. BOLD-Aktivierungen gemessen
während bzw. vor und nach der Stimulation. (Quelle: nach Dinse u. Tegenthoff [10];
Umsetzung: Thieme
Gruppe)
Doppelpuls-Stimulationstechniken Seit einiger Zeit steht die Untersuchung
exzitatorischer und inhibitorischer Effekte auf kortikale Erregbarkeit mittels
Doppelpuls-Stimulationstechniken im Mittelpunkt vieler Studien. Das
Doppelpulsverhalten (paired pulse behavior) ist dadurch gekennzeichnet, dass bei
kurzen Interstimulusintervallen bei gleicher Reizstärke die zweite Reizantwort
signifikant kleiner ist als die erste. Nach repetitiver sensorischer Stimulation war
die Doppelpulssuppression abgeschwächt, wobei der Grad der Suppression positiv mit
dem individuellen Zuwachs der Wahrnehmungsleistung korreliert [14].
Konnektivitätsanalysen Ein umfassendes Bild neuronaler Plastizität verlangt
neben der Betrachtung lokaler Verarbeitungseigenschaften auch die Analyse der
Reorganisation globaler Prozesse, wie dies beispielsweise durch
Konnektivitätsanalysen auf der Basis von MR- oder EEG-Signalen möglich ist.
Untersuchungen der sog. funktionellen Konnektivität mittels EEG oder MR durch
Messung des „resting states“ zeigten, dass es nach repetitiver sensorischer
Stimulation zu einer Erhöhung der Interaktion in den sensomotorischen Netzwerken
kommt [13]. Neuere Untersuchungen haben sogar dafür
Hinweise geliefert, dass es im Bereich des somatosensorischen Repräsentationsgebiets
nach nur 40 min Stimulation zu strukturellen Veränderungen der grauen Substanz kommt
[25].
Diese Befunde zeigen, dass die Gesamtheit der sensomotorischen neuronalen
Verarbeitung durch repetitive sensorische Stimulation nachhaltig verändert wird. Es
erscheint plausibel, dass diese Signaturen die Grundlage der vielfältigen
Verhaltensänderungen bildet.
Generalisierung sensomotorischer Verbesserungen
Generalisierung sensomotorischer Verbesserungen
Das Training einer bestimmten Aufgabe verbessert diese, allerdings sind solche
Verbesserungen immer spezifisch für die trainierte Aufgabe. Vor dem Hintergrund
möglicher potenzieller Einsätze als Intervention wird gegenwärtig untersucht, diese
oft als „Fluch der Spezifität“ bezeichnete Eigenheit zu überwinden, um
Trainingsergebnisse für Alltagssituationen zu generalisieren.
Gezielte Auslösung synaptischer Plastizität Verbesserungen des Verhaltens und
der Wahrnehmung werden bei der repetitiven Stimulation nicht durch Training einer
Aufgabe erzeugt, sondern durch die gezielte Modifikation synaptischer Übertragung
in
neuronalen Netzwerken. Daher wurde die Hypothese aufgestellt, dass passive
Stimulation alle neuronalen Prozesses umgestaltet, die mit taktiler, haptischer und
sensomotorischer Informationsverarbeitung zu tun haben. Eine sich daraus ergebende
Vorhersage ist die, dass repetitive Stimulation nicht nur die taktile
Diskriminationsfähigkeit verändert, die in vielen Studien verwendet wird.
Generalisierung positiver Effekte In einer Serie von Untersuchungen konnte
diese Ausgangshypothese bestätigt werden. So verbesserte sich die taktile
Diskriminationsfähigkeit, die Frequenzdiskrimination, Punkt-Muster-Diskrimination,
haptische Objektwahrnehmung, Reaktionszeiten bis hin zu sensomotorischem Verhalten,
wie beispielsweise Fingergeschicklichkeit [10].
Diese breite Generalisierung positiver Effekte macht den Einsatz der repetitiven
Stimulation naturgemäß besonders geeignet für die Therapie und Intervention nach
Hirnschädigungen.
Pharmakologische Grundlagen
Pharmakologische Grundlagen
Zelluläre Plastizitätsstudien legen nahe, dass nur wenige fundamentale Mechanismen
die synaptische Übertragung kontrollieren.
NMDA So spielt der N-Methyl-D-Aspartat-Rezeptor (NMDA-Rezeptor) eine zentrale
Rolle bei der Regulation synaptischer Plastizität [1], [19]. Um zu zeigen, dass auch die
Effekte der repetitiven Stimulation solchen plastizitätsvermittelnden Mechanismen
unterliegen, wurde die Abhängigkeit der repetitiven Stimulation von NMDA-Rezeptoren
untersucht. Dazu erhielten Versuchspersonen eine einmalige Gabe von Memantin, einer
Substanz, die selektiv NMDA-Rezeptoren blockiert. In dieser placebokontrollierten
Studie zeigte sich, dass Memantin den Lernerfolg nach repetitiver Stimulation
vollständig blockierte, und zwar sowohl auf perzeptueller als auch auf kortikaler
Ebene [7].
GABA Ein weiterer zentraler „Player“ ist GABA. GABA spielt eine wichtige Rolle
in der Aufrechterhaltung der Balance zwischen Erregung und Inhibition und ist
dadurch bei allen Verarbeitungsprozessen sowie bei deren Änderungen aufgrund von
Lernen beteiligt. Beim Menschen kann die Rolle von GABA durch Applikation von
Medikamenten erfolgen, die GABA-Agonisten enthalten. Nach Gabe einer Einzeldosis
eines solchen Medikaments (Lorazepam) wird der typischerweise auftretende Lernerfolg
in Form einer Verbesserung der Tastleistung vollständig blockiert [8]. Diese Untersuchungen unterstützen die Annahme,
dass repetitive Stimulation synaptische Plastizität auslöst, die durch glutamaterge
und GABAerge Rezeptoren kontrolliert wird.
Amphetamin Im Gegensatz zu Ansätzen, plastische Prozesse pharmakologisch zu
blockieren, gibt es wenige Möglichkeiten, kortikale Plastizität pharmakologisch zu
verstärken. So wird beispielsweise die Auslösung von LTP durch adrenerge Substanzen
moduliert. Aus diesem Grund wurden einmalige Gaben von Amphetamin genutzt, um
Lernprozesse beim Menschen, die durch repetitive Stimulation hervorgerufen wurden,
zu verstärken. Es zeigt sich, dass nach Amphetamin-Gabe die typischen Veränderungen
sowohl der taktilen Wahrnehmung als auch der kortikalen Reorganisation nahezu
verdoppelt waren [7]. Diese Befunde zeigen, dass
die Prozesse, die repetitiver Stimulation zugrunde liegen, durch neuromodulatorische
Systeme weiter verstärkt werden können.
Bidirektionale Veränderungen sind frequenzabhängig
Bidirektionale Veränderungen sind frequenzabhängig
Um die Relevanz von LTP- und LTD-Mechanismen für Verhaltensänderungen beim Menschen
zu untersuchen, wurden diese in taktile hoch- oder niedrigfrequente Reizfolgen (tHFS
und tLFS) übersetzt. Diese wurden dann als taktile oder elektrische Pulsfolgen auf
die Finger übertragen. tHFS bestand aus kurzen Pulsfolgen von jeweils 1 s Dauer, in
denen die Einzelpulse mit 20 Hz appliziert wurden. Das Intervall zwischen den
Pulsfolgen betrug 5 s, tLFS bestand aus einer Serie von Einzelpulsen, die mit 1 Hz
appliziert wurden. Beide Protokolle wurden jeweils für 20 min appliziert. Bereits
20
min nach einer hochfrequenten Stimulation waren die Diskriminationsschwellen
signifikant erniedrigt. Umgekehrt führte tLFS im gleichen Zeitraum zu einer
Beeinträchtigung der Diskriminationsfähigkeit [23].
Diese Ergebnisse zeigen, dass die kurze Applikation (< 30 min) von
Stimulationsprotokollen, die denen der zellulär verwendeten LTP- und LTD-Studien
analog sind, verhaltensrelevante und dauerhafte, frequenzabhängige und
bidirektionale Veränderungen der menschlichen Wahrnehmung hervorruft. Vor dem
Hintergrund der oben skizzierten Uneinheitlichkeit der bisher verwendeten
Stimulationsprotokolle (niederfrequent/hochfrequent, kontinuierlich/intermittierend)
hat die Bidirektionalität der Effekte erhebliche Relevanz und muss beim Einsatz als
Intervention entsprechend berücksichtigt werden.
Prädiktion plastischer Prozesse
Prädiktion plastischer Prozesse
Es ist eine Alltagserfahrung, dass es gute und schlechte Lerner gibt. Dies gilt in
gleicher Weise unter Labor- oder klinischen Bedingungen. Warum das so ist, ist
weitgehend unklar. Schlechtes Lernen kann viele Ursachen haben: Beeinträchtigungen
der Sensorik, sodass bereits beim Aufnehmen des Lernstoffs Probleme entstehen, oder
mangelnde Aufmerksamkeit. Es können aber auch Defizite plastischer Mechanismen
vorliegen. Ein Beispiel dafür ist der BDNF-Polymorphismus. Kürzlich konnte gezeigt
werden, dass auch die Balance der Inhibition und Exzitation einen starken Einfluss
auf plastische Prozesse hat. So sagt die mithilfe von MR-Spektroskopie gemessene
GABA-Konzentration im sensomotorischen Kortex mehr als 50 % einer perzeptuellen
Lernaufgabe voraus [12].
Mehr als ein Drittel des Lernerfolgs konnte durch die vor der Induktion von
Plastizität durch repetitive Stimulation gemessene Power der somatosensorischen
Alpha-Oszillationen (Mu-Rhythmus) vorhergesagt werden [11]. Demnach spielen auch „brain states“ vor und während der Stimulation
eine wichtige Rolle. Besonders relevant für klinische Interventionen ist die
Möglichkeit, somatosensorische Alpha-Oszillationen durch Neurofeedbacktraining zu
verändern, was es ermöglicht, den anschließenden Lernausgang entscheidend zu
modulieren [2].
Studien an Patienten
Metastudie Eine kürzlich veröffentlichte Metastudie basierend auf vier Studien
an chronisch durch Schlaganfall betroffenen Patienten (insgesamt 69 Patienten,
Zeitraum bis zum Infarkt zehn Monate bis fünf Jahre) berichtet signifikante
Verbesserungen der Motorperformanz der oberen Extremität (standardisierte mittlere
Differenz, SMD: 1,04; 95 % KI: 0,66…1,42). Als Outcome Measure wurden der
Action-Research-Arm-Test, der Jebsen-Taylor-Test, Handkraft und das
Fugl-Meyer-Assessment verwendet.
Die Stimulation wurde in zwei Studien als „stand-alone“ durchgeführt, in den zwei
anderen jeweils vor dem Training motorischer Aufgaben [6]. In allen Fällen wurde der Medianusnerv stimuliert. Die Stimulation
bestand aus Pulsfolgen (Einzelpuls 1 ms, der Tastgrad, „duty cycle“, war 500 ms an,
500 ms aus, Pulsfrequenz 10 Hz), die Stimulationsdauer war zwei Stunden. Die
Kontrollstimulation bestand entweder in unterschwelliger Stimulation oder in keiner
Stimulation („wait group“). In zwei Studien bestand die gesamte Stimulation nur aus
einer Session, zwei Studien verwendeten eine mehrfache Applikation über zehn Tage
hinweg. Negative Nebeneffekte wurden grundsätzlich nicht beobachtet. Die Autoren der
Metastudie schließen daraus, dass repetitive Stimulation ein sicheres Verfahren ist,
um als zusätzliche Behandlungsmethode bei chronischen Schlaganfallpatienten zur
Behandlung motorischer Defizite der oberen Extremität eingesetzt werden zu können
[6].
Zusätzlich verglichen die Autoren der Metastudie die Effektstärke nach Behandlung
mit
repetitiver Stimulation mit der nach rTMS oder tDCS. Sie berichten, dass diese
größer ist (SMD: 1,4; 95 % KI: 0,66…1,42) als die nach tDCS (SMD: 0,45; 95 % KI:
0,09…0,80) oder rTMS (SMD: 0,55; 95 % KI: 0,37…0,72). Dazu weisen sie darauf hin,
dass andere Studien keine signifikanten positiven Effekte für rTMS gefunden
haben.
Randomisierte klinische Studie Nach Erscheinen dieser Metastudie wurde eine
randomisierte klinische Studie an subakut durch Schlaganfall betroffenen Patienten
publiziert, bei der ebenfalls die repetitive Stimulation zum Einsatz kam [16]. In dieser Studie wurden insgesamt 46 Patienten
untersucht (23 Verum, 23 Placebostimulation, Zeitraum bis zum Infarkt 3–4 Wochen).
Die Stimulation bestand aus Pulsfolgen, 1,4 s an, 5 s aus, Pulsfrequenz 20 Hz für
45
min, 10 Tage, mittlere Stromstärke 10,4 mA. Die Stimulation wurde mithilfe eines
speziell angefertigten Handschuhs übertragen, der über innenliegende
Elektrodenkontakte eine Stimulation der Fingerspitzen aller fünf Finger der
betroffenen Hand ermöglichte. Um die unterschiedlichen Schwellen der medianus- und
ulnarisinnervierten Finger zu berücksichtigen, konnten diese getrennt angesteuert
werden.
Die Kontrollstimulation bestand in unterschwelliger Stimulation, beide Gruppen
erhielten Ergo- und Physiotherapie und spezielles Hand-Arm-Training, allerdings ohne
feste zeitliche Kopplung an die Stimulation. Die Beurteilung der sensomotorischen
Performanz erfolgte durch ein umfangreiches quantitatives Assessment, bei dem die
Berührungsschwelle, die räumliche Diskriminationsschwelle, eine
9-Hole-Pegboard-Aufgabe, Handkraft, propriozeptive Aufgaben und ausgewählte Tests
aus dem Jebsen-Taylor-Testrepertoire getestet wurden. Die Performanz jeder
Einzelaufgabe wurde anschließend in einen Leistungsindex umgerechnet.
Nach der zweiwöchigen Behandlungsdauer zeigte sich für die Gruppe mit der
Kombinationstherapie (Standardtherapie plus repetitive Stimulation) eine signifikant
bessere Erholung der gesamten sensomotorischen Performanz (SMD: 0,57; 95 % KI
-0,013…1,16; p = 0,027). Auch bei Betrachtung der einzelnen Tests lag die
Effektstärke für die Kombinationstherapie jeweils über der der Kontrollgruppe [16].
Untersuchungen und Pilotstudien Zusätzlich zu diesen hier ausführlicher
dargestellten Studien liegen zahlreiche Untersuchungen und Pilotstudien vor, die an
chronischen oder subakuten Patienten positive Effekte nach Behandlung mit
repetitiver Stimulation zeigen, wobei die Stimulation entweder als „stand-alone“
oder als begleitende Intervention genutzt wurde (z. B. [15], [18], [24]). Da die bisherigen Fallzahlen immer noch klein sind, sind weitere
kontrollierte klinische Studien und Multicenter-Studien nötig, um ein tieferes
Verständnis für die Wirksamkeit der repetitiven Stimulation bei Patienten mit
zentralnervösen Schädigungen zu erhalten.
Ausblick
Der Ansatz der repetitiven sensorischen Stimulation wurde bisher vor allem an der
oberen Extremität bei gesunden Probanden systematisch untersucht. Die dort erhobenen
Befunde deuten darauf hin, dass die repetitive sensorische Stimulation zu einer
weitreichenden Reorganisation der sensorischen Verarbeitung durch Erhöhung der
Interaktion in den sensomotorischen Netzwerken führt. Dies führt zu deutlichen
Verbesserungen des Tastsinns, der Propriozeption, der haptischen und motorischen
Performanz, was sich seinerseits in einer erhöhten Alltagskompetenz niederschlägt.
Daten einer randomisierten klinischen Studie, einer Metastudie sowie Daten
zahlreicher Pilotstudien an Patienten sind vielversprechend. Inwieweit die oben
genannten Befunde an Gesunden auf Patienten übertragbar sind, ist zurzeit Gegenstand
wissenschaftlicher Untersuchung.
Neben dem Aspekt geringer Kosten liegt ein besonderer Vorteil der repetitiven
sensorischen Stimulation in der passiven Natur: Es erfordert keine aktive Teilnahme
oder besondere Aufmerksamkeit der Teilnehmer. Es ist daher möglich, die Stimulation
während anderer Beschäftigungen wie beispielsweise Fernsehen oder Lesen anzuwenden,
was die Akzeptanz dieses Verfahrens naturgemäß erhöht und niedrige Abbruchraten zur
Folge hat. Die Möglichkeit, die Stimulation zu Hause über lange Zeit hinweg anwenden
zu können, spielt für chronische Patienten eine wichtige Rolle.
Damit diese Vorteile in der breiten wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen
Öffentlichkeit Beachtung finden, sind breit angelegte systematische Untersuchungen
notwendig. Dabei sind besonders große Fallzahlen und nach Möglichkeit
Multicenter-Studien notwendig. Um eine bessere Vergleichbarkeit zwischen den Studien
zu erreichen, benötigt man Standards für die einheitliche Anwendung und das
Assessment. Weitere Studien sind auch für eine Optimierung der Stimulation
hinsichtlich Parameter, Dauer und Stimulationspausen erforderlich. Interessant wäre
die Kombination mit der Applikation von Pharmaka. Wenig untersucht sind die Rolle
längerer Therapie- und Behandlungszeiten sowie die Auswirkung der
Stimulationstherapie lange Zeit nach Beendigung der Behandlung.
Viele Studien schließen Patienten mit nur mäßiger Schwere der Beeinträchtigung ein.
Daher wären Studien mit stärker betroffenen Patienten wichtig, um den etwaigen
Nutzen der Stimulationstherapie für diese Patientengruppen abschätzen zu können. Vor
dem Hintergrund „individualisierter“ Therapiemaßnahmen [21] sind weiterführende Studien notwendig, um unsere Kenntnisse über
Faktoren und Bedingungen zu erweitern, die Plastizitätsprozesse begünstigen oder
erschweren.