Klin Padiatr 2018; 230(06): 336-338
DOI: 10.1055/a-0750-5882
Kurzmitteilung
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Der kleine Fall aus der Neonatologie: Stockfisch und blaue Lippen

A Short Neonatologic Case Report: Salt Cod and Blue Lips
Bettina Bohnhorst
1   Department of pediatric pneumology, allergology and neonatology, Hanover Medical School
,
Christoph M. Happel
2   Department of pediatric Cardiology and pediatric intensive care, Hanover Medical School
,
Matthias Lange
2   Department of pediatric Cardiology and pediatric intensive care, Hanover Medical School
› Author Affiliations
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Korrespondenzadresse

Dr. Matthias Lange
Klinik für Pädiatrische Pneumologie,Allergologie und Neonatologie
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Straße 1
30625 Hannover
Phone: +49/511/5328 895   
Fax: +49/511/5323 895   

Publication History

Publication Date:
06 November 2018 (online)

 

Einleitung

Ursache einer postnatalen Zyanose sind meist pulmonale Krankheitsbilder wie eine respiratorische Anpassungsstörung oder ein Atemnotsyndrom. Auch angeborene Herzfehler oder ein Amnioninfektionssyndrom müssen differenzialdiagnostisch berücksichtigt werden. Wir berichten hier über eine seltene Ursache einer neonatalen Zyanose, nämlich eine kongenitale Methämoglobinämie (Met-Hb-ämie) aufgrund einer Hämoglobinanomalie (Hb-Anomalie).

Methämoglobin (Met-Hb) entsteht, wenn das zweiwertige Eisen (Fe2+) des Hämoglobinmoleküls zu dreiwertigem Eisen (Fe3+) oxidiert wird. Oxidierende Substanzen sind Wasserstoffperoxid (H2O2), Nitritverbindungen (Salze und Ester der Salpetrigen Säure) und aromatische Amino- und Nitroverbindungen. Der Met-Hb-Anteil im menschlichen Blut liegt normalerweise < 1,5%. Die NADH-abhängige Met-Hb-Reduktase (synonym: NADH-Cytochrom-b5-Reduktase (CB5R)) nimmt bei der ständigen Reduktion von Met-Hb zu Hämoglobin eine entscheidende Rolle ein.

Mit zunehmendem Met-Hb-Anteil wird die O2-Affinität des verbleibenden Hämoglobins stärker, sodass es zu einer Linksverschiebung der O2-Bindungskurve und einer reduzierten Abgabe von O2 ins Gewebe kommt. Außerdem ist Met-Hb nicht in der Lage, O2 zu binden, sodass die Sauerstofftransportkapazität abnimmt. Beide Mechanismen bewirken synergistisch die Gewebehypoxie mit den entsprechenden klinischen Symptomen. Ab einem Met-Hb-Anteil von 10% kommt es zu einer sichtbaren Zyanose, ab 30% zu Kopfschmerzen, Verwirrtheit, Übelkeit und Erbrechen, Tachykardie, metabolischer Azidose, Dyspnoe und Somnolenz. Der Tod tritt bei Konzentrationen von 60–80% ein. Met-Hb-haltiges Blut hat eine charakteristisch schokoladenbraune Farbe (Umbreit J, Am J Hematol 2007; 82: 134–144).

Viele Medikamente können eine Erhöhung des Met-Hb-Spiegels induzieren. Dazu gehören insbesondere Lokalanästhetika wie z. B. Bupivacain, Stickstoffmonoxid (NO), Rasburicase und Sulfonamide. Die Erythrozyten von Säuglingen sind gegenüber Met-Hb-bildenden Oxidantien besonders sensibel, da die Aktivität der CB5R zum Zeitpunkt der Geburt nur 50% der Aktivität im Alter von 3 Monaten beträgt (Ross JD, Blood 1963; 21: 51–60). Neben den erworbenen Met-Hb-ämien existieren seltene hereditäre Formen. Ihnen liegen entweder eine Hb-Anomalie (alle Ketten (α, β, γ) können betroffen sein) oder ein Enzymdefekt der CB5R (Cytochrom-b5-Reduktase-Mangel, synonym: NADH-Diaphorase-Mangel) zu Grunde. Wir berichten hier über eine Met-Hb-ämie als Folge einer Hb-Anomalie mit der Bezeichnung Hb-FM-Osaka.


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Falldarstellung

Das kleine Mädchen kam bei pathologischem CTG und grünem Fruchtwasser (Blasensprung 5 Stunden vor Geburt) nach 40 4/7 Schwangerschaftswochen per Sectio zur Welt. Die Sectio erfolgte in Spinalanästhesie. Als Anästhetikum wurden 8 mg Bupivacain appliziert. Die postnatale Adaptation verlief unkompliziert (APGAR 9/10/10, NapH 7,38), Geburtsgewicht, Länge und Kopfumfang waren mit 3180 g, 50 cm bzw. 33 cm im unteren Normbereich (P 5-20). Bei der Mutter (41 J.) war ein allergisches Asthma bekannt. Die Schwangerschaft wurde durch einen Gestationsdiabetes kompliziert. Beim Vater (gebürtig aus Spanien) musste wenige Tage nach seiner eigenen Geburt eine Austauschtransfusion durchgeführt werden. Die Ursache war nach Angaben des Vaters der übermäßige Verzehr von Stockfisch durch seine Mutter in der Schwangerschaft gewesen.

30 Min postnatal fiel bei dem Neugeborenen eine Zyanose auf, die pulsoxymetrisch gemessene Sättigung (SpO2) betrug 72%. Die körperliche Untersuchung war bis auf die Zyanose unauffällig, es lagen keine Tachydyspnoe oder ein Herzgeräusch vor. Weder die Atemunterstützung mittels CPAP noch eine Sauerstoffgabe (FiO2 max. 1,0) führten zu einem Anstieg der SpO2. Radiologisch imponierten beidseits regelrecht belüftete Lungen. Echokardiografie und Schädelsonografie waren unauffällig. Eine Infektion wurde ausgeschlossen. In der CO-Oximetrie ließ sich ein Met-Hb-Anteil von 9,7% nachweisen. Es wurde eine Met-Hb-Bestimmung bei der Mutter veranlasst, der Wert war 24 Stunden postpartal 5,4%. Somit wurde der V.a. eine medikamentös induzierte, erworbene Met-Hb-ämie gestellt.

Während sich bei der Mutter der Met-Hb-Spiegel rasch normalisierte, fiel er beim Neugeborenen nur langsam und minimal (siehe [Abb. 1]). Deswegen wurde die Diagnostik erweitert. Die Messung der CB5R ergab mit 5,8 IU x gHb−1 einen Normwert (Bereich bei Säuglingen: 9,6±3,85). Bei der Sequenzierung des vollständigen Cytochrom-b5-Gens fanden sich keine Auffälligkeiten. Damit war eine Met-Hb-ämie aufgrund eines Enzymdefektes ausgeschlossen. Als nächstes erfolgten die Sequenzierungen der Globin-Gene bei Eltern und Kind. Bei Vater und Tochter konnte die gleiche Mutation im Exon 2 des Gγ-Gens nachgewiesen (Gγ 63 CAT>TAT) und die Diagnose einer heterozygoten Hb-Anomalie mit der Bezeichnung Hb-FM-Osaka gestellt werden. Die diagnostischen Blutabnahmen in Verbindung mit einem relativ niedrigen postnatalen Hb führten zu einer relevanten Anämie, die am 22. Lebenstag eine Bluttransfusion erforderlich machte. Nach 10 Wochen hatte sich der Met-Hb-Anteil beim Kind normalisiert. [Abb. 1] zeigt die zeitliche Dynamik der relevanten Parameter.

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Abb. 1 Entwicklung der Sättigung, des Gewichtes, des Methämoglobins und des Hämoglobins in den ersten 2 ½ Lebensmonaten

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Diskussion

In dem vorliegenden Fall kam es direkt postnatal zu einer persistierenden Zyanose. Durch die CO-Oximetrie konnte die Diagnose „Methämoglobinämie“ gestellt werden. Bei der CO-Oximetrie wird die Lichtabsorption des Hämoglobins bei 4 verschiedenen Wellenlängen gemessen, die jeweils charakteristisch für Deoxyhämoglobin, Oxyhämoglobin, Carboxyhämoglobin und Met-Hb sind. Met-Hb absorbiert Licht sowohl bei 660 nm als auch bei 940 nm, sodass Pulsoximeter bei steigendem Met-Hb die SpO2 zunächst unterschätzen, bei Konzentrationen >30% aber überschätzen (Wright RO et al., Amn Emerg Med 1999; 34: 646–656). Steht eine CO-Oximetrie nicht zur Verfügung, ist der V.a. eine Met-Hb-ämie zu äußern, wenn bei einer Zyanose der Sauerstoffpartialdruck im Blut normal gemessen wird.

Bei den hereditären Met-Hb-ämien werden Enzymdefekte autosomal rezessiv, Hb-Anomalien autosomal dominant vererbt.

Das für die CB5R codierende Gen CYB5R3 liegt auf Chromosom 22 (22q13.2). Beim Typ I besteht der Enzymdefekt ausschließlich in Erythrozyten, beim Typ II auch in anderen somatischen Zellen. Typ II zeigt einen deutlich schwereren Verlauf, neben der Zyanose treten in der Regel eine mentale Retardierung, motorische Störungen sowie eine Wachstumsretardierung auf. Die Symptomatik ist progredient (Davis CA et, Arch Bichem Biophys 2004; 431: 233–244). Heute sind mehr als 40 Mutationen des CYB5R3-Gens bekannt. Bei Typ I überwiegen Missense-Mutationen, bei Typ II Kettenabbruch- und Splice-Mutationen. Beide Typen können aber alle Mutationsarten nebeneinander aufweisen (Percy MJ et al., British J Haematol 2008; 141: 298–308).

Hb-Anomalien sind noch seltener als Enzymdefekte. Jede Untereinheit des Hämoglobins besteht aus einer Polypeptidkette, dem Globin und der prosthetischen Gruppe, dem Häm. Beim Erwachsenen besteht das Hämoglobinmolekül aus 4 Globinketten, von denen je 2 identisch sind (in der Regel 2 α- und 2 β-Ketten, HbA). Das fetale Hämoglobin (HbF) setzt sich aus 2 α- und zwei γ-Ketten zusammen. Beim Neugeborenen ist das Verhältnis von HbF zu HbA etwa 80:20 (Wilber A et al., Blood 2011; 117(15): 3945–3953). Das Häm besteht aus einem Porphyrinring, der zentral Fe2+ komplex binden und ein O2-Molekül anlagern kann.

Bei der Hb-Anomalie, vom Typ Hb-FM-Osaka, liegt eine Mutation der γ- Ketten vor. Mit zunehmendem Verschwinden des HbF in den ersten Lebenswochen sistiert auch die Zyanose spontan. Hb-FM-Osaka wurde 1980 erstmalig in Japan beschrieben (Hayashi A et al., Hämoglobin 1980; 20: 169–173). Durch einen genetischen Defekt wird an Position 63 der γ- Ketten Tyrosin durch Histidin ersetzt. Daraus resultiert eine strukturelle Veränderung des Häms (Da-Silva SS et al., Pediatrics 2003; 112: e158–e161), welche die spontane Oxidation des Fe2+. zu Fe3+ und damit die Methämoglobinbildung begünstigt. Die betroffenen Menschen sind nur in den ersten Lebenswochen symptomatisch und später völlig unauffällig, können aber die Mutation vererben.

Neben der fetalen Hb-FM-Osaka gibt es weitere Formen, denen gemeinsam ist, dass sie den Namen ihres Entdeckungsortes tragen. [Tab. 1] gibt eine Übersicht über Defekte der α-, β- und γ- Ketten (Hooven TA et al., BMJ Case report 2016:10.1136). [Abb. 2] zeigt die Differenzialdiagnosen der neonatalen Met-Hb-ämie.

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Abb. 2 Differenzialdiagnosen der Methämoglobinämien

Tab. 1 Übersicht über Defekte der α-, β- und γ-Ketten.

Defekte der α-Kette

Defekte der β-Kette

Defekte der γ-Kette

  • Hb M Iwate

  • Hb M Boston

  • Hb M Yantai

  • Hb M Saskatoon

  • Hb M Milwaukee

  • Hb M Hyde Park

  • Hb M Ratnagiri

  • Hb FM Osaka

  • Hb FM Fort Ripley

  • Hb FM Circleville

  • Hb FM Cincinnati

  • Hb FM Tomas River

  • Hb FM Visseu

Eine Option zur Therapie schwerer Met-Hb-ämien ist die Gabe von Methylenblau (Tetramethylthioninchlorid, 1–2 mg/kg über 5–10 Min langsam i. v.). Sie ist ab einem Met-Hb-Anteil von 15–20% indiziert. Methylenblau liefert Wasserstoff zur Reduktion von NAD im Pentosephosphatzyklus, sodass NADPH entsteht. Dieses kann für die Met-Hb-Reduktion genutzt werden. Methylenblau ist somit ein sinnvolles Therapeutikum bei der Medikamenten-induzierten und der durch einen Enzymmangel bedingten Met-Hb-ämie. Liegt eine Hb-Anomalie vor, ist die Methylenblaugabe angesichts der Pathophysiologie sinn- und erfolglos (Alonso-Ojembarrena A et al., J Pediatr Hematol Oncol 2016; 38: 173–175). Hier bleibt als ultima ratio die Austauschtransfusion zur Senkung der Met-Hb-Konzentration.

Die beim Vater vor über 40 Jahren postnatal erforderliche Austauschtransfusion wurde mit dem übermäßigen Verzehr von Stockfisch seitens der Mutter begründet. Stockfisch enthält viel Pökelsalz und damit einen hohen Anteil an Nitrit. Offensichtlich hatte man damals die Met-Hb-ämie erkannt, nicht aber die hauptsächlich zugrunde liegende Ursache. Wie auch - die Hb-Anomalie vom Typ Hb-FM-Osaka war zum damaligen Zeitpunkt noch unbekannt.


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Kernaussagen

  • Die Methämoglobinämie ist eine seltene Differenzialdiagnose einer neonatalen Zyanose

  • Eine Methämoglobinämie kann erworben (z. B. Lokalanästhetika) oder hereditär (CB5R-Mangel oder Hämoglobin-Anomalie) sein

  • Eine Therapie mit Methylenblau ist ab Konzentrationen von 15–20% indiziert, aber nur bei der erworbenen bzw. durch einen Enzymmangel bedingten Met-Hb-ämie sinnvoll.


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Stellungsnahme zur Autorenschaft

As head of Department, she was mainly responsible for the examination und treatment of the patient, B. Bohnhorst As cardiologist on the pediatric intensive care unit, the patient was submitted under his watch and he paved the way for further examinations and treatment, Ch. Happel. As resident, he attended to the patient on a daily basis and wrote this case report, M. Lange.


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Korrespondenzadresse

Dr. Matthias Lange
Klinik für Pädiatrische Pneumologie,Allergologie und Neonatologie
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Straße 1
30625 Hannover
Phone: +49/511/5328 895   
Fax: +49/511/5323 895   

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Abb. 1 Entwicklung der Sättigung, des Gewichtes, des Methämoglobins und des Hämoglobins in den ersten 2 ½ Lebensmonaten
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Abb. 2 Differenzialdiagnosen der Methämoglobinämien