retten! 2020; 9(01): 24-31
DOI: 10.1055/a-0651-6324
Fachwissen
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Notfälle mit Tieren im Rettungsdienst – Einsatztaktik und Erstversorgung

Jens Tiesmeier
,
Jan Hoberg
,
Jan Persson
,
Lars Holtz
Further Information

Korrespondenzadresse

Dr. med. Jens Tiesmeier
Institut für Anästhesiologie, Intensiv- und Notfallmedizin
Krankenhaus Lübbecke-Rahden, MKK-Mühlenkreiskliniken
Virchowstraße 65
32312 Lübbecke

Publication History

Publication Date:
14 February 2020 (online)

 

Das Spektrum an Kontakten und Notfällen mit Tieren reicht von der allergischen Reaktion nach Insektenstichen bis hin zu Verletzungen oder Vergiftungen nach Bissen einheimischer oder exotischer Tiere. Wird der Rettungsdienst durch die Anwesenheit eines potenziell gefährlichen Tiers im Einsatz überrascht, muss dies zu einer Neubewertung der Einsatzlage führen. Der Beitrag gibt einen Überblick über taktische Aspekte und zur medizinischen Erstversorgung im Umgang mit Tieren im Einsatz und stellt einzelne Tierarten exemplarisch vor.


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Abkürzungen
D-Arzt: Durchgangsarzt
GW: Gerätewagen
SOP: Standard Operating Procedure

Epidemiologie

Die genaue Zahl an Stich- oder Bissverletzungen durch Tiere in Deutschland ist unbekannt, da keine generelle Meldepflicht (Ausnahme bei Verdacht auf oder Erkrankung an Tollwut) besteht. Schätzungen gehen, unabhängig von der Schwere, allein von 30 000–50 000 ärztlich behandelten Hundebissen aller Schweregrade pro Jahr aus [1]. 2010 wurden den gesetzlichen Unfallversicherungen 3610 solche Unfälle gemeldet, davon 75 % durch Hunde und Katzen [2]. Der Jahresbericht 2017 des Giftinformationszentrums Nord beschreibt 306 Anfragen im Zusammenhang mit Tieren [3]:

  • Bienen/Wespen: 58 Anfragen,

  • Schlangen/Spinnen: 64 Anfragen,

  • restliche Tiere 184 Anfragen.

Die auf einer Internetrecherche basierende Gefahrtierstudie berichtet für 2015 über 24 Personenschäden mit Todesfolge (Hund 4, Pferd 16, Katze 1, Nutztier 3, Exoten 0 Fälle). Die mögliche Dunkelziffer ist jedoch unklar [4].


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Begleitender Kontakt mit Tieren – Allgemeine Einsatztaktik

Merke

Die oberste Regel im Einsatz mit Tieren lautet: Versuchen Sie, Ruhe zu bewahren! Viele Tiere spüren die Unsicherheit des Menschen und geraten dadurch noch mehr in Panik!

Tiere in Notlagen oder außerhalb ihres gewohnten Umfelds reagieren häufig nicht so, wie sie es normalerweise tun würden. Auch der sonst so nette Nachbarshund kann beißen. Grundsätzlich muss der Eigenschutz beachtet werden. Dazu gehört auch das Tragen von möglichst bissfesten Handschuhen. Der Kontakt mit toten Tieren ist zu vermeiden.

Ist ein gefahrloses Arbeiten für die Einsatzkräfte nicht möglich, bietet – wie beim allgemeinen Umgang mit Gefahrenstoffen – die GAMS-Regel dazu eine Hilfestellung (s. Übersicht).

Übersicht

GAMS-Regel

G – Gefahr erkennen!

A – Absperren!

M – Menschen retten!

S – Spezialkräfte anfordern!

Wenn an der Einsatzstelle noch ein Tier frei herumläuft oder nicht zuverlässig ausgeschlossen werden kann, dass es sicher in einem Stall oder Käfig ist, gelten bei der Rettung von Menschen aus dem Gefahrenbereich die folgenden Grundsätze:

  • Eine Person hat das Kommando.

  • Es sollen sich nur so viele Personen wie nötig im Gefahrenbereich aufhalten.

  • Keinesfalls sollte versucht werden, gefährliche oder unbekannte Tiere selbstständig einzufangen.

Das Einfangen geschieht bei gefährlichen oder giftigen Tieren nur durch speziell geschultes Personal. Dafür kommen neben dem Besitzer selbst Veterinäre, Fachberater Tierrettung der Feuerwehr oder Fachkräfte aus zoologischen Gärten und Tierauffangstationen infrage. Dieser Personenkreis kann gegebenenfalls auch unbekannte Tiere identifizieren und Aussagen zur Gefährlichkeit und Giftigkeit treffen. Als Beispiel für Spezialkräfte hat die Feuerwehr Bad Oeynhausen einen GW Logistik mit Komponenten der Tierrettung (u. a. Transportkäfig, Fangnetze, Kescher, Blasrohr, Narkosegewehr, Spezialwerkzeuge zum Einfangen von Giftschlangen, z. B. Schlangenhaken, etc.) ausgestattet ([Abb. 1]).

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Abb. 1 Gerätewagen (GW) Logistik mit Komponenten der Tierrettung. a Außenansicht. b Innenansicht.

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Einsatztaktik bei einem Einsatz mit Gifttieren

Da ungeschultes Personal in der Regel keine genaue Artenfeststellung durchführen kann, ist jedes mögliche Gifttier bis zu seiner definitiven Aufklärung durch einen Fachmann als solches anzusehen und zu behandeln. Keinesfalls sollten Gifttiere ohne Sachkunde angefasst und aus Neugier ein unbedachtes Handeln mit ihnen durchgeführt werden. Eine mögliche SOP zur Einsatztaktik bei Gifttieren zeigen [Abb. 2], [3].

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Abb. 2 Einsatztaktik bei Patienten mit Gifttierbiss.
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Abb. 3 Einsatztaktik bei einem Einsatz mit (exotischen) Gifttieren.

A–E-Schema und Übergabe in der Notaufnahme

Da initial vor Ort spezielle Informationen über das Tier und die Art des Giftes begrenzt sind, richtet sich der Fokus im A–E-Schema auf eine allgemeine Sicherung der Vitalparameter. Dazu gehören u. a. die Sicherung der Atemwege, eine Volumentherapie oder die symptomatische Therapie mit z. B. Analgetika, Antihistaminika oder Betablockern.


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SAMPLER-Schema

Im SAMPLER-Schema sind folgende Zusatzinformationen hilfreich [1] [6]:

Übersicht

SAMPLER-Schema

  • S („signs“, „symptoms“) – Bissverletzung:

    • Zeitpunkt und Ausmaß der Bissverletzung

    • Angaben zum Unfallhergang

    • Tier und Halter bekannt?

  • A („allergies“) – Allergien (insbesondere bei Bienen- oder Wespenstichen)?

  • M („medication“) – Einnahme von Immunsuppressiva oder Antikoagulanzien?

  • P – („past medical history“) Erkrankungen des Immunsystems, sekundärer Antikörpermangel? Impfstatus oder -ausweis?

  • L („last oral intake“) – Letzte Mahlzeit (bei notwendiger Narkose zur Gewebeversorgung)?

  • E („events prior to incident“) – Informationen

    • über das Tier:

      • Art

      • Impfstatus des Tieres

      • Hinweise auf Tollwut etc.

    • zu den klinischen Symptomen:

      • Schmerzen

      • Druck

      • Fieber etc.

  • R („risk factors“) – z. B. Antikoagulation oder resistente Keime

Im Idealfall liegt im Gifttierraum ein Notfallplan vor. Dieser enthält Informationen über die Tierart, die Zahl der Tiere, die Giftwirkung, Kontaktdaten und den Standort des Antivenins.


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Säugetiere

Hunde und Katzen

Die größte Gefahrenquelle von Hunden und Katzen, die 80–90 % aller Bissverletzungen ausmachen, sind Gebiss und Krallen, die zu mechanischen Riss-Quetsch-Wunden führen [6]. Tiefer gelegene Gewebe wie Muskeln, Sehnen oder Knochen können verletzt und durch kontagiöse Zähne und Speichel infiziert werden. 25 % aller Bisse erleiden Kinder < 6 Jahren und 34 % Kinder im Alter von 6–17 Jahren [6]. Hauptschädigungsorte sind die Hände, bei Kindern sind häufig Kopf und Nacken mit betroffen [5].

Praxis

Tipp: Umgang mit Raubtieren

Im Normalfall werden diese erst versuchen zu flüchten. Der Angriff erfolgt dann, wenn sie sich selbst bedrängt fühlen. Im Extremfall lassen sie sich durch den Einsatz von z. B. CO2-Löschern kurzfristig auf Abstand halten, sodass die Helfer selbst aus dem Gefahrenbereich herauskommen können.

Die Gesamtinfektionsrate beträgt bis zu 20 % und variiert nach dem Ort der Schädigung (Hände > Beine > Gesicht) [6]. Neben einem Lokalinfekt droht eine Sepsis bis hin zu Infektionen mit Erregern der Tollwut, Diphtherie oder des Wundstarrkrampfs (Tetanus). Zur Reduktion der Keimlast sollte die Wunde mit NaCl 0,9 % oder einer Vollelektrolytlösung gespült werden. Nach Anlage eines sterilen Verbandes empfiehlt sich eine Ruhigstellung des betroffenen Gebiets, um nicht eine weitere Ausbreitung der Erreger zu begünstigen.

Bei Hunde- und Katzenbissen darf nicht vom harmlosen äußeren Aspekt auf eine geringe Gewebeschädigung in der Tiefe geschlossen werden [1] [2]. Besonders durch die dünnen Zähne einer Katze spiegelt die äußere Wunde nicht automatisch die innere Ausdehnung wider.

Merke

Durch Tiere verletzte Personen müssen auf jeden Fall in eine Klinik transportiert werden. Verletztes Rettungsdienstpersonal sollte sich einem D-Arzt vorstellen.

Praxis

Tipp

Wenn ein Hund Arbeiten am Patienten behindert, lässt er sich manchmal durch die Gabe von Futter oder durch das Zeigen der Leine (hängt oft in der Nähe der Haustür oder Garderobe) fortlocken und im Nebenraum einsperren.

Wenn der Eigentümer eines Tieres einer stationären Behandlung zugeführt werden muss, hat die Besatzung des Rettungsmittels die Aufgabe, sich auch um die weitere Versorgung und Unterbringung des Tieres zu kümmern. Hierfür kommt überbrückend die Hilfe der Polizei oder Tierrettungsgruppen der Feuerwehr in Frage. Alternativ kann das Tier durch Angehörige des Patienten, Mitarbeiter der Tierrettung oder einem Tierheim in Obhut genommen werden.


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Huftiere

Huftiere sind Fluchttiere, die sich bei Gefahr den Weg des geringsten Widerstands suchen. Pferde, Kühe, Schweine oder Hirsche setzen zur Verteidigung Hörner/Geweih, Hufe/Klauen oder auch das Gebiss ein. Als Fluchttiere können sie bei Panik Menschen allein durch ihr Körpergewicht schwer verletzen. Bei Patienten, die von einem Pferd oder Rind überrannt wurden, sollte ein mögliches Polytrauma bedacht werden. Als Herdentier kann ein Tier dem anderen folgen.


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Gefahren durch Insekten: Wespen und Bienen

Bienen- und Wespenstiche führen unter den Verletzungen durch Tiere wohl am häufigsten zur Alarmierung des Rettungsdienstes. Bei Angriffen durch einen Schwarm muss der Patient aus dem Bereich der Nester gerettet werden, und der Bereich muss abgesperrt werden.

Neben einem enzymbedingten akuten Schmerz mit Rötung und lokaler Schwellung – dann kann eine kurzzeitige Kühlung zur Linderung führen – besteht die Hauptgefahr in der Reaktion des Immunsystems auf das eingebrachte Gift. Je nach Ausprägung der Sensibilisierung kann die resultierende allergische Reaktion vom Typ I (Soforttyp) bis hin zu einer Anaphylaxie mit Schocksymptomatik führen.

Cave

Eine hohe Gefahr der Atemwegsverlegung durch Ödembildung besteht bei Stichen in den Mundraum. Je nach Ausprägung einer anaphylaktischen Reaktion erfolgt schnellstmöglich die Gabe von Adrenalin i. m., Antihistaminika und Kortikosteroiden i. v.

Der Stich durch die Biene hat eine ca. 10-fach höhere Giftdosis als der Wespenstich.

Praxis

Tipp

Ein Bienenstachel sollte schnellstmöglich vom Hautniveau aus mit einem stumpfen Gegenstand (z. B. Messerkante, Fingernagel, Versichertenkarte) herausgekratzt werden. Keinesfalls einfach mit zwei Fingern oder einer Pinzette greifen. Dadurch kann die Giftblase am hinteren Ende des Stachels gequetscht und eine weitere Dosis des Gifts in die Haut appliziert werden.

Kernaussagen
  • Einsätze mit Gifttieren sind selten, aber sie können jeden Mitarbeiter im Rettungsdienst treffen.

  • Eigenschutz und die Beachtung der GAMS-Regel schützen die Patienten und den Rettungsdienst.

  • Neben der symptomatischen Initialtherapie (z. B. bei anaphylaktischen Reaktionen) sind vor allem bei exotischen Tieren genaue Informationen über die Gattung enorm wichtig – z. B. Notfallplan im Gifttierraum.

  • Einfangen von Gifttieren nur durch fachkundiges Personal.

  • Beim Vorgehen vor Ort können lokale SOPs hilfreich sein.


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Jens Tiesmeier

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Dr. med. Jens Tiesmeier ist Ärztlicher Leiter der Notarztstandorte Lübbecke und Rahden. Er arbeitet als Oberarzt am Institut für Anästhesiologie, Intensiv- und Notfallmedizin am Krankenhaus Lübbecke-Rahden der MKK-Mühlenkreiskliniken, Campus OWL.

Jan Hoberg

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Jan Hoberg arbeitet als Oberbrandmeister und Notfallsanitäter an der hauptamtlichen Feuer- und Lehrrettungswache in Bad Oeynhausen und ist Leiter der Fachgruppe Tierrettung. Berufsbegleitend absolvierte er eine Ausbildung zum Tierpfleger Fachrichtung Zoo, absolvierte den Sachkundenachweis gefährliche Reptilien sowie den Immobilisationslehrgang für Tiere und Großtierrettung.

Jan Persson

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Dr. med. Jan Persson, Facharzt für Anästhesiologie, Intensiv- und Notfallmedizin, ist Lehrkoordinator für das Querschnittsfach Notfallmedizin am Campus OWL und beschäftigt am Universitätsinstitut für Anästhesiologie, Intensiv- und Notfallmedizin der Ruhr-Universität Bochum am Johannes Wesling Klinikum Minden, MKK-Mühlenkreiskliniken, Campus OWL.

Lars Holtz

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Lars Holtz arbeitet als Notfallsanitäter in der Abteilung Gefahrenabwehr im Amt für Sicherheit und Ordnung beim Kreis Herford. Außerdem ist er als Verbandführer beim DRK im Kreis Gütersloh in der Gefahrenabwehr tätig.

Interessenkonflikt

Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Dr. med. Jens Tiesmeier
Institut für Anästhesiologie, Intensiv- und Notfallmedizin
Krankenhaus Lübbecke-Rahden, MKK-Mühlenkreiskliniken
Virchowstraße 65
32312 Lübbecke


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Abb. 1 Gerätewagen (GW) Logistik mit Komponenten der Tierrettung. a Außenansicht. b Innenansicht.
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Abb. 2 Einsatztaktik bei Patienten mit Gifttierbiss.
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Abb. 3 Einsatztaktik bei einem Einsatz mit (exotischen) Gifttieren.