Handchirurgie Scan 2018; 07(03): 176-177
DOI: 10.1055/a-0644-8768
Diskussion
Distaler Radius
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Komplexes regionales Schmerzsyndrom nach distaler Radiusfraktur ist selten

Crijns TJ. et al.
Complex Regional Pain Syndrome After Distal Radius Fracture Is Uncommon and Is Often Associated With Fibromyalgia.

Clin Orthop Relat Res 2018;
476: 744-750
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Publication Date:
15 January 2019 (online)

 

    Ein komplexes regionales Schmerzsyndrom (Complex Regional Pain Syndrome, CRPS) soll nach einigen Veröffentlichungen bei mehr als einem Drittel der Patienten nach distaler Radiusfraktur auftreten. Teilweise handelt es sich aber bei den Symptomen, die zur Diagnose des CRPS führen, oft um solche, die nach der Fraktur ohnehin zu erwarten sind – beispielsweise Schmerzen und Funktionseinschränkung.


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    Dazu kommt, dass das Syndrom nur schwer objektivierbar ist und subjektive Einschätzungen der Behandler die Diagnose beeinflussen. Mediziner aus Texas haben nun versucht, zunächst objektive Daten zur Häufigkeit des CRPS zu assoziierten Faktoren und Erkrankungen sowie Therapien zu ermitteln.

    Tom Crijns und seine Kollegen haben dazu Informationen der USA-weiten Truven MarketScan Database für die Jahre 2012 – 2014 herangezogen, in denen Abrechnungsdaten verschiedener kommerzieller Krankenversicherer berücksichtigt wurden.
    In die Analyse gingen fast 60 000 erwachsene Patienten mit distaler Radiusfraktur ein. Darunter fanden sich insgesamt 114 Patienten (0,19 %), bei denen nach der Fraktur zusätzlich die erstmalige Diagnose eines CRPS dokumentiert war. Ihnen standen mehr als 59 000 Patienten gegenüber, bei denen die Diagnose CRPS nicht gestellt worden war. Dabei waren Patienten mit CRPS

    • signifikant älter als Patienten ohne die Diagnose (im Mittel 54 Jahre vs. 48 Jahre),

    • unter ihnen waren signifikant mehr Frauen (91 % vs. 68 %),

    • sie wiesen signifikant häufiger eine begleitende distale Ulnafraktur auf (64 % vs. 53 %),

    • es handelte sich signifikant häufiger um offene Frakturen (6 % vs. 3 %) und

    • bei ihnen bestand signifikant häufiger die Begleitdiagnose einer Fibromyalgie (3 % vs. 0,1 %).

    Auch die weitere Diagnostik und die Therapie unterschieden sich bei Patienten mit CRPS in einigen Punkten von denen bei Patienten ohne die Diagnose:

    • Bei ihnen wurde häufiger eine Knochenszintigrafie durchgeführt (1 % vs. 0 %),

    • sie erhielten häufiger Physiotherapie (40 % vs. 15 %), und

    • bei ihnen erfolgte häufiger ein operativer Eingriff am Handgelenk (25 % vs. 12 %).

    Eine Blockade des Ganglion stellatum, die früher bei CRPS häufig eingesetzt worden war – unter der Annahme einer vom sympathischen Nervensystem vermittelten Erkrankung –, wurde jedoch in dieser Gruppe bei keinem Patienten durchgeführt.
    In der logistischen Regressionsanalyse errechneten sich schließlich als unabhängig mit der CRPS-Diagnose verbundene Faktoren

    • das Geschlecht, mit einer fast 4-mal so hohen Wahrscheinlichkeit für die Diagnose bei Frauen (Odds Ratio [OR] 3,9),

    • eine begleitende distale Ulnafraktur (OR 1,5),

    • eine geschlossene Fraktur (OR 0,4) und

    • eine zusätzliche Fibromyalgie-Diagnose (OR 16).

    Ebenso war bei CRPS die Wahrscheinlichkeit für folgende Prozeduren erhöht:

    • für eine Knochenszintigrafie (OR 66,0)

    • für eine Physiotherapie (OR 3,9)

    • für einen operativen Handgelenkeingriff (OR 2,5)

    Fazit

    Ein CRPS nach distaler Radiusfraktur wird nach diesen Daten deutlich seltener diagnostiziert, als manche Publikationen vermuten lassen, meinen Crijns et al. Wenn die Diagnose aber gestellt wird, so ist damit eine größere Zahl von Untersuchungen verbunden. Auch war das CRPS nach operativen Eingriffen häufiger. Zukünftige Studien sollten den Wert der Diagnose „CRPS“ und ihren – positiven oder negativen – Einfluss auf den Verlauf nach der Fraktur klären.

    Dr. Elke Ruchalla, Bad Dürrheim

    Kommentar

    Die Fragestellung der vorgestellten Studie ist prinzipiell aus akademischer Perspektive eine sehr interessante, da vor allem der erste Parameter der „Budapest-Kriterien“ aus dem Jahr 2003 ein äußerst subjektiver ist. Die „Power“ der vorgestellten Studie mit 59 765 Patienten scheint bezüglich der Fragestellung über jeden Zweifel erhaben zu sein. Als ersten Parameter der „Budapest-Kriterien“ wird die Unverhältnismäßigkeit des Schmerzes zu einem schädigenden Ereignis angeführt. Der Terminus Unverhältnismäßigkeit ist nicht weiter definiert und dessen Auslegung liegt somit im Ermessen des Untersuchers [1 – 3].


    Auf diese Problematik zielt der erste Teil der Fragstellung der vorgestellten Studie ab: Gibt es Parameter, die mit der Diagnose CRPS assoziiert sind? Patienten wurden mit den Diagnosen CRPS, sympathische Reflexdystrophie, Algodystrophie und Kausalgie aus der „Truven Health MarketScan“-Datenbank identifiziert. Die Auswahl der Zieldiagnosen ist verwunderlich, da die Terminologie doch spätestens seit 2003 eindeutig festgelegt wurde und andere Begriffe außer CRPS als obsolet angesehen werden sollten [1 – 3]. Einen weiteren kritischen Aspekt stellt die genutzte Datenbank dar. Für den Leser ist es nicht einwandfrei ersichtlich, wie die Daten dieser kommerziellen, US-amerikanischen, Arbeitgeber-basierten Datenbank gewonnen wurden. Menschen, die nicht über den Arbeitgeber versichert sind bzw. in keinem ordentlichen Arbeitsverhältnis stehen, wurden somit nicht erfasst. Eine weitere Unschärfe findet sich in den extrahierten Diagnosen anhand der Kodierung bezüglich der distalen Radiusfrakturen. Diesbezüglich gibt es Kodierungsüberschneidungen mit distalen Ellenfrakturen und es wurden offene und geschlossene Frakturen eingeschlossen. Die Hälfte der erfassten Radiusfrakturen hatte zusätzliche distale Ellenfrakturen. Ob es sich in diesen Fällen um Unterarmfrakturen oder lediglich um Abrisse des Prozessus styloideus ulnae handelte, bleibt unklar. Interessant ist die Betrachtung des CRPS aus psychologischer Sicht im Hinblick auf Gedankenmuster bzw. auf den psychopathologischen Befund der Patienten. Die Autoren plädieren auf der Basis der gewonnenen Daten für eine allumfassende therapeutische Herangehensweise, die auch die psychologischen Aspekte der Patienten beachten soll. Diese Schlussfolgerungen basieren wohl auf der Beobachtung, dass die Fibromyalgie signifikant mit dem Krankheitsbild CRPS in der vorgestellten Studie assoziiert war und dieses Krankheitsbild ebenfalls nicht immer eindeutig zu definieren sei.


    Insgesamt sind die Schlussfolgerungen der Autoren für den Handchirurgen nur schwer nachzuvollziehen. Aktuelle Aspekte der CRPS-Forschung werden nicht wesentlich beachtet [4, 5]. Selbstredend sollte ein Patient immer allumfassend therapiert werden, und es darf auch nie der psychologische Aspekt außer Acht gelassen werden. Dies ist eine ärztliche Selbstverständlichkeit.


    Die Studie trägt weder zu einer weiterführenden Lösung einer zuverlässigen Diagnosestellung eines CRPS noch zu einer effizienteren Therapie bei. Aus akademischer Sicht ist die Untersuchung sicherlich lesenswert, für die tägliche Praxis des Handchirurgen aber nicht wegweisend relevant.


    Autorinnen/Autoren

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    Priv.-Doz. Dr. med. Christian K. Spies, Abteilung für Handchirurgie, Vulpius Klinik GmbH, Bad Rappenau

    Literatur


    [1] Harden RN, Bruehl S, Perez RS et al. Validation of proposed diagnostic criteria (the “Budapest Criteria”) for complex regional pain syndrome. Pain 2010; 150: 268 – 274


    [2] Harden RN, Bruehl S, Stanton-Hicks M, Wilson PR. Proposed new diagnostic criteria for complex regional pain syndrome. Pain Med 2007; 8: 326 – 331


    [3] Maihöfner C. Das komplexe regionale Schmerzsyndrom: eine Übersicht. Schmerz 2014; 28: 319 – 336


    [4] Ott S, Maihöfner C. Signs and Symptoms in 1,043 Patients with Complex Regional Pain Syndrome. J Pain 2018; 19: 599 – 611


    [5] Grömer TW, Käfferlein W, Menger B, Dohrenbusch R, Kappis B, Maihöfner C, Kornhuber J, Philipsen A, Müller HHO. Das AMDS-System zur Dokumentation von Schmerzbefunden. Schmerz 2017; 31: 610 – 618


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    Priv.-Doz. Dr. med. Christian K. Spies, Abteilung für Handchirurgie, Vulpius Klinik GmbH, Bad Rappenau