Schmerz ist per definitionem eine somatosensorische Wahrnehmung mit negativer Valenz.
Dies bedeutet, dass ein Mensch Schmerzen fast ausnahmslos als unangenehm empfindet
und er so u. a. lernt, Schmerzen zu vermeiden [9]. Gleichzeitig ist bekannt, dass noxische Stimuli nicht per se als schmerzhaft empfunden
werden müssen, sondern dies kontextabhängig ist. So gibt es viele Faktoren, welche
die Verarbeitung schmerzhafter Reize im Gehirn beeinflussen wie etwa Emotionen, Empathie-Gefühle,
Aufmerksamkeit, Lern- und Gedächtnisprozesse sowie Erwartungshaltungen [6], [7], [18], [19], [20]. Entsprechend hat wohl jeder erlebt, dass er Schmerzen als weniger stark empfindet
oder überhaupt nicht wahrnimmt, wenn er gerade abgelenkt oder seine Stimmung ausgesprochen
positiv ist. Umgekehrt verstärken eine hohe Aufmerksamkeitsfokussierung auf das Schmerzereignis
oder eine negative Stimmungslage unser Schmerzempfinden.
Schmerz und Sprache
Der Einfluss von Sprache auf die Schmerzwahrnehmung wurde bis dato kaum untersucht
[8]. Zwar ist über die Rolle der Sprache im Zusammenhang mit Placebo- oder Nocebo-Effekten
einiges bekannt, doch die Frage, ob einzelne Wörter die Schmerzwahrnehmung eines Menschen
beeinflussen können, wurde seitens der Wissenschaft eher stiefmütterlich behandelt.
Dies überrascht, denn wenn Schmerzimpulse nachgewiesenermaßen die Aufmerksamkeit eines
Menschen erregen, dessen Gefühlslage beeinflussen und dies Gedächtnisspuren hinterlassen
kann, so liegt doch die Vermutung nahe, dass Schmerz unweigerlich und wohl unwillkürlich
im Gehirn auch eine semantische Repräsentation, die der Beschreibung des Schmerzes
entspricht, also etwa „stechend“ oder „brennend“, ansteuert.
Assoziationen In der Psychologie bedeutet der Begriff Assoziation, dass einfache kognitive Elemente,
Emotionen oder Sinneseindrücke unter bestimmten Bedingungen miteinander verknüpft
werden können. Dies erklärt das Phänomen, dass zwei oder mehr ursprünglich isolierte
psychische Inhalte eine so enge Verbindung miteinander eingehen, dass das Aufrufen
eines Assoziationsgliedes das Auftreten eines oder mehrerer weiterer Assoziationsglieder
nach sich zieht oder zumindest begünstigt.
Lernprozesse Nach der Geburt besitzt ein Mensch keinerlei Assoziationen zwischen irgendeinem Wort,
einem Gefühl oder einem Gegenstand. Erst mit der Zeit lernt er durch seine individuelle
Lebenssituation und -erfahrung, Wörter mit Dingen oder Gefühlen zu verknüpfen et vice
versa. Im Laufe eines Lebens entstehen so unzählige Gedankenverknüpfungen, die von
unterschiedlichen Faktoren beeinflusst werden.
Ein alltägliches Beispiel soll helfen, diese kortikale Kopplung deutlich zu machen.
Fallbeispiel
Kontextabhängige Assoziationen
Ein Rettungssanitäter oder Notarzt wird beim Hören des Begriffs „Trage“ wahrscheinlich
die Trage in einem Rettungsfahrzeug assoziieren, ein Bestatter womöglich an eine „Trag-Bahre“
denken. Je nach Kontext sind auch Assoziationen des Begriffs mit einem „Trag-Gestell“
oder einem „Korb“ möglich. Wiederum anders mögen die gedanklichen Verknüpfungen bei
jungen Eltern sein, die mit dem Begriff „Trage“ voraussichtlich an eine „Baby-Trage“
denken – in Abhängigkeit wiederum davon, wie häufig sie eine solche Trage benutzt
haben und wie lang diese Erfahrung zurückliegt.
Das Wort „Trage“ ist also assoziativ in unserem Gehirn eingebunden, und die Assoziationsstärke
variiert aufgrund der persönlichen Erfahrungen und Lebensumstände.
Netzwerktheorie
Gemäß der Netzwerktheorie von Donald Hebb steigert sich die Assoziationsstärke jeglicher
Stimuli mit der wiederholten gemeinsamen Erregung der Kontakte zwischen den beteiligten
Nervenzellen – dies u. a. durch den Prozess der Langzeitpotenzierung [4].
Assoziative Kopplung Derartige Kopplungen treten auch hinsichtlich der menschlichen Sprachwahrnehmung
auf. So aktivieren Verben wie „Springen“ oder „Laufen“ nicht nur jene Neuronen in
Hirnbereichen, welche die Sprache verarbeiten, sondern automatisch auch sensomotorische
und motorische Areale, in denen die homunkulären Strukturen für das Bein lokalisiert
sind [12]. Analog aktivieren Begriffe wie „Küssen“ und „Schmecken“ die entsprechenden Gesichtsregionen
des Homunkulus; „Schreiben“ und „Greifen“ die Handareale.
Schmerzmatrix und Sprachareale
Da jeder Mensch im Laufe seines Lebens wiederholt Erfahrungen mit Schmerz sammelt,
sollte es in Analogie zu Hebbs Netzwerkvorstellungen sodann zur engen Kopplung zwischen
den neuronalen Strukturen der Schmerzmatrix und ihrer semantischen Repräsentation
in den entsprechenden Spracharealen kommen. Dies bedeutet, dass die Erfahrung von
„brennendem“ Schmerz unweigerlich die sprachliche Repräsentation von „brennendem Schmerz“
anregt.
Gretchen-Frage Spannenderweise könnte im Umkehrschluss davon ausgegangen werden, dass die sprachliche
Verarbeitung schmerzassoziierter Wörter nicht nur die Sprachareale des Gehirns sondern
darüber hinaus auch Teile der Schmerzmatrix aktiviert [5], [21]. Können also verbale Reize die Neuromatrix des Schmerzes aktivieren? Beeinflussen
Worte wie „kneifend“, „quetschend“ oder „krampfartig“ unsere Schmerzwahrnehmung und
triggern diese?
Neuroanatomische Grundlagen
Um zu klären, ob „Schmerzwörter“ tatsächlich Schmerzen beeinflussen können und welche
Folgen dies hat, ist es wichtig, den Aufbau der Neuromatrix des Schmerzes zu kennen.
Kernstrukturen Die Kernstrukturen der Schmerzmatrix werden durch alle Arten noxischer Reize aktiviert.
Zu ihnen gehören ([Abb. 1]):
-
Rückenmark
-
Thalamus
-
primäre und sekundäre somatosensorische Kortexareale (S1 und S2)
-
posteriore und anteriore Insula
-
dorsaler Anteil des anterioren zingulären Kortex (dACC; auch anteriorer midcingulärer
Kortex bzw. aMCC [20])
Erweiterte Schmerzmatrix Die Aktivität der erweiterten Schmerzmatrix ist dagegen situations- und kontextabhängig;
sie wird bei noxischen Stimuli also nicht immer aktiviert [1], [11]. Zu den entsprechenden Strukturen gehören u. a. der präfrontale Kortex (PFC), der
posterior parietale Kortex (PPC) oder der Nucleus caudatus.
Abb. 1 Schema zur Verarbeitung noxischer Reize in der Neuromatrix des Schmerzes. Gezeigt
sind auch funktionelle Zusammenhänge, die allerdings oft noch nicht eindeutig belegt
sind (modifiziert nach [1]): ACC: anteriorer zingulärer Kortex, Amg: Amygdala (Mandelkern), HS: Hirnstamm,
HT: Hypothalamus, M1: primärer motorischer Kortex, PAG: periaquäduktales Grau, PCC:
posteriorer zingulärer Kortex, PF: präfrontaler Kortex, PPC: posteriorer parietaler
Kortex, S1: primärer somatosensorischer Kortex, S2: sekundärer somatosensorischer
Kortex, SMA: supplementärmotorisches Feld. (Quelle: van den Berg F. Angewandte Physiologie,
Band 4, Schmerzen verstehen und beeinflussen. 2. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2008.)
„Schmerzwörter“
Um zu belegen, dass die sprachliche Verarbeitung schmerzassoziierter Wörter nicht
nur die kortikalen Sprachareale sondern auch Teile der Schmerzmatrix aktiviert, wurde
zunächst umfassendes Wortmaterial zusammengetragen. Für die Fahndung nach adäquaten
„Schmerzwörtern“ wurde das Corpus Search, Management and Analysis System (COSMAS 3.6.1.)
des Instituts für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim genutzt.
Adjektive Ausgewählt wurden Adjektive, die entsprechend ihrer semantischen Bedeutung kategorisiert
wurden in „positiv“, „neutral“, „negativ, aber nicht schmerzrelevant“ sowie „schmerzrelevant“.
Sämtliche Wortkategorien unterschieden sich nicht hinsichtlich Wortlänge, Silbenanzahl
und Häufigkeit ihres Vorkommens in der alltäglichen deutschen Sprache.
Anschließend wurden 40 Versuchspersonen gebeten, aus dieser Auswahl von Adjektiven
deren Valenz bzw. positive oder negative emotionale Wirkung, das Arousal bzw. die
wenig oder stark aktivierende/erregende Wirkung sowie ihre Relation zur Beschreibung
von Schmerz zu bewerten. Schließlich wurden dann jene Adjektive extrahiert, die als
besonders schmerzbeschreibend eingestuft wurden, ohne dass eine Überschneidung zu
den anderen Kategorien entstand.
Valenz Beim Vergleich von schmerzbeschreibenden Adjektiven und negativen Adjektiven mit
nicht-schmerzrelevantem Inhalt wurde darauf geachtet, dass sich die Valenz zwischen
beiden Gruppen nicht unterschied. Dadurch wurde ausgeschlossen, dass die positive
oder negative emotionale Wirkung der Wörter nicht für mögliche Unterschiede in der
zentralen Verarbeitung verantwortlich gemacht werden kann. Folglich bekamen die Studienteilnehmer
neben Schmerzadjektiven wie „lähmend“, „zermürbend“ und „peinigend“ auch andere negativ
besetzte Worte – etwa „eklig“, „schimmlig“ oder „stinkend“ – zu hören.
Die Valenz der Wörter mit positivem Inhalt war vom Vorzeichen umgekehrt, aber vom
Betrag nicht unterschiedlich zu schmerzbeschreibenden und negativen Wörtern mit nicht-schmerzrelevantem
Inhalt. Schließlich wurde kontrolliert, dass positive, negative und schmerzbeschreibende
Adjektive das gleiche mittlere Ausmaß an Aktivierung erzielten.
Stimulationsmaterial Die über dieses komplexe Procedere gefundenen Wörter dienten in den folgenden Untersuchungen
als Stimulationsmaterial. Ausgewählt wurden 40 Adjektive, die in die vier Wortkategorien
unterteilt wurden ([Tab. 1]).
Tab. 1 Wortliste mit Adjektiven für die Kategorien „schmerzbezogen“, „negativ“, „neutral“
sowie „positiv“, die hinsichtlich Wortlänge, Silbenzahl und Häufigkeit im schriftlichen
deutschen Sprachgebrauch parallelisiert sind.
schmerzrelevanter Inhalt
|
negativer aber nicht-schmerzrelevanter Inhalt
|
neutraler Inhalt
|
positiver Inhalt
|
quälend
|
eklig
|
gehend
|
streichelnd
|
lähmend
|
feindlich
|
eckig
|
wärmend
|
zermürbend
|
intrigant
|
kurzhaarig
|
erquickend
|
peinigend
|
widerlich
|
eiförmig
|
beschwingend
|
plagend
|
warzig
|
gewölbt
|
himmlisch
|
kneifend
|
schimmlig
|
aschblond
|
flirtend
|
quetschend
|
stinkend
|
klappbar
|
kuschelnd
|
bohrend
|
verdreckt
|
kubisch
|
küssend
|
kolikartig
|
angsteinflößend
|
traubenförmig
|
hocherotisch
|
krampfartig
|
hasserfüllt
|
auditiv
|
bezaubernd
|
Aktivieren schmerzassoziierte Wörter die Schmerzmatrix?
Aktivieren schmerzassoziierte Wörter die Schmerzmatrix?
Wie eingangs dargestellt sollte die während des Lebens stets wiederkehrende Kopplung
zwischen dem Erleben von Schmerz und seiner Beschreibung zur assoziativen Verbindung
zwischen Wort und Schmerzmatrix führen – ähnlich wie bei jenen Verben, die automatisch
sensomotorische und motorische Areale aktivieren. Hypothetisch sollte also bereits
das alleinige Lesen von schmerzbeschreibenden Adjektiven verschiedene Strukturen der
Schmerzmatrix aktivieren.
Versuchsaufbau Zur Verifizierung dieser Hypothese wurden die ausgewählten Adjektive gesunden Versuchspersonen
in einem Scanner präsentiert und deren Hirnaktivierung mittels funktioneller Kernspintomografie
(fMRT) registriert.
Aufgabenstellung Die Probanden sollten sich Situationen vorstellen, die mit den gezeigten Adjektiven
beschreibbar wären. Bei der zweiten Aufgabe sollten sie simultan die Vokale der Wörter
zählen ([Abb. 2]).
Abb. 2 Ablauf der Untersuchung im fMRT-Scanner. (Quelle: Maria Richter und Thomas Weiß.)
Ergebnisse Für beide Konditionen wurde untersucht, ob es zu einer Aktivierung der Schmerzmatrix
kam. Hierbei konnte nachgewiesen werden, dass schmerzassoziierte Adjektive verschiedene
Regionen der Schmerzmatrix aktivieren, wenn sich die Testpersonen Situationen vor
Augen führen, die durch die Adjektive beschreibbar wären [15], [16].
So wurden mittels der schmerzbeschreibenden Adjektive sämtliche Kernstrukturen der
Schmerzmatrix sowie überdies die erweiterte Schmerzmatrix in den präfrontalen und
posterior parietalen Kortizes (PFC bzw. PPC) aktiviert, wenn die Versuchspersonen
auf schmerzassoziierte Wörter achteten ([Abb. 1]).
Ablenkungsmanöver Selbst für den Fall, dass die Probanden die Vokale der Wörter zählten, damit quasi
von deren Inhalt abgelenkt waren, imponierten einige der schmerzspezifischen Aktivierungen
in der Neuromatrix.
Ausschlussverfahren Um auszuschließen, dass die Schmerzmatrix allein durch die negative Valenz eines
Wortes aktiviert wird, wurde die Verarbeitung negativer Adjektive mit nicht-schmerzrelevantem
Inhalt mit jener von schmerzassoziierten Adjektiven verglichen. Als Ergebnis zeigten
sich spezifisch für schmerzassoziierte Adjektive höhere Aktivierungen in einigen Teilen
der Schmerzmatrix, u. a. in Teilen des präfrontalen Kortex (PFC) sowie des anterioren
zingulären Kortex (ACC).
Merke
Schmerzwörter aktivieren die Schmerzmatrix
Wörter, die mit Schmerz assoziiert werden, aktivieren die Neuromatrix des Schmerzes.
Ein Teil dieser Aktivierung ist nicht ausschließlich auf die negative Valenz dieser
Wörter sondern auf ihren schmerzspezifischen Inhalt zurückzuführen.
Wirken schmerzassoziierte Wörter stärker bei chronischen Schmerzpatienten?
Wirken schmerzassoziierte Wörter stärker bei chronischen Schmerzpatienten?
Wenn nun die Assoziationsstärke zwischen Schmerzwort und Schmerzmatrix von der Häufigkeit
der Assoziationen abhängt, sollte bei chronischen Schmerzpatienten die Neuromatrix
des Schmerzes durch schmerzbeschreibende Adjektive intensiver aktiviert werden als
bei Gesunden gleichen Alters. Grundlage für diese Annahme ist die Tatsache, dass Patienten
mit chronischem Schmerz weitaus häufiger Schmerzerfahrungen machen.
Migränepatienten Um diese Hypothese zu bestätigen, wurden mittels des bereits vorgestellten Versuchsparadigmas
chronische Migränepatienten sowie alters- und geschlechts-parallelisierte gesunde
Kontrollpersonen untersucht. Die Migräniker waren zum Zeitpunkt der Untersuchung schmerzfrei.
Die Schmerzmatrix-Aktivierung bei der kortikalen Verarbeitung schmerzassoziierter
Adjektive wurde hierzu erneut mit der Baseline, d. h. ohne jegliche Stimulation, sowie
spezifisch auch im Vergleich zur kortikalen Verarbeitung negativer Adjektive ohne
schmerzrelevanten Inhalt untersucht [3].
Erhöhte Aktivität Die Vergleiche zeigten für alle Personen wiederholt erhöhte Aktivitäten in Teilen
der Schmerzmatrix durch die schmerzbeschreibenden Adjektive, etwa in der posterioren
und anterioren Insula oder im sekundären somatosensorischen Kortex (S2) ([Abb. 1]). Gleichzeitig wurden einige Teile der Neuromatrix des Schmerzes bei den Migränepatienten
im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen stärker aktiviert.
Merke
Schmerzwörter wirken stärker bei chronischen Schmerzpatienten
Bei chronischen Schmerzpatienten wird die Neuromatrix des Schmerzes durch schmerzbeschreibende
Adjektive intensiver aktiviert als bei Gesunden gleichen Alters.
Verstärken schmerzassoziierte Wörter die aktuelle Schmerzwahrnehmung?
Verstärken schmerzassoziierte Wörter die aktuelle Schmerzwahrnehmung?
In einer Folgeuntersuchung sollte dann geklärt werden, ob ggf. auch die aktuelle Schmerzwahrnehmung
bei chronischen Schmerzpatienten durch die Schmerzadjektive beeinflusst wird. Hierfür
wurden chronische Schmerzpatienten und parallelisierte Kontrollpersonen dem gleichen
Paradigma unterworfen [17].
Erneut zeigte sich, dass bei chronischen Schmerzpatienten mit aktuellen Schmerzen
die Schmerzmatrix stärker durch Schmerzwörter aktiviert wird als bei Gesunden. Dieses
Ergebnis repliziert én passant die Resultate, die bereits bei den Migränepatienten
gefunden wurden und bestätigt erneut, dass schmerzbeschreibende Adjektive bei chronischen
Schmerzpatienten die Neuromatrix des Schmerzes stärker aktivieren als bei gesunden
Gleichaltrigen.
Darüber hinaus wurde deutlich, dass die Aktivierung in einigen Arealen der Schmerzmatrix
wie etwa in der Insula von der aktuellen Schmerzstärke während der Untersuchung abhängig
war.
Merke
Schmerzwörter verstärken momentane Schmerzen
Je stärker ein Mensch unter Schmerzen leidet, desto stärker reagiert seine Schmerzmatrix
in diesem Moment auf zusätzliche schmerzassoziierte semantische Reize.
Führen schmerzassoziierte Wörter zur Voraktivierung der Schmerzmatrix?
Führen schmerzassoziierte Wörter zur Voraktivierung der Schmerzmatrix?
Wie gezeigt wurde, aktivieren schmerzassoziierte Adjektive Teile der Schmerzmatrix.
Wenn einem Probanden nun vor dem Applizieren eines noxischen Stimulus ein Schmerzadjektiv
präsentiert wird, könnte dieser physikalische Reiz eine größere Aktivierung in der
Schmerzmatrix und damit einen höheren Schmerz verursachen, als wenn vorher ein neutrales
Adjektiv gezeigt wird.
Erinnerungstest Um diese Vermutung zu verifizieren, wurde die kortikale Verarbeitung von Adjektiven
mit einer tatsächlichen Schmerzstimulation gekoppelt. Dazu wurden den Versuchspersonen
auf einem Bildschirm die Adjektive der vier unterschiedlichen Kategorien angeboten,
die sie sich für einen späteren Erinnerungstest merken sollten ([Tab. 1]). Die Motivation der Probanden zur Wortverarbeitung wurde dadurch erhöht, dass für
jedes richtig erinnerte Wort ein finanzieller Bonus in Aussicht gestellt wurde.
Hitze-Stimulation Simultan zur Wortpräsentation erfolgte eine schmerzhafte Hitze-Stimulation mittels
eines Laserstimulators. Die applizierten Reize blieben unabhängig von der präsentierten
Wortkategorie in ihrer physikalischen Intensität gleich.
NRS und LEP Die subjektive Schmerzhaftigkeit der Laserreize wurde nach jedem Durchgang mittels
Numerischer Ratingskala (NRS von 0 = kein Schmerz bis 100 = maximal vorstellbarer
Schmerz) erfragt. Zusätzlich wurde die evozierte Hirnaktivität auf die Laserstimulation
(Laser-evozierte Potentiale, LEP), deren Amplituden als objektives Maß der Schmerzempfindung
gelten, abgeleitet [10].
Semantisches Priming Im Ergebnis variierte die subjektive Schmerzeinschätzung der Probanden in Abhängigkeit
von der Wortkategorie [2]. So traten bei der Verarbeitung schmerzbeschreibender Adjektive im Sinne des semantischen
Primings trotz stets identischer Hitze-Laserreize signifikant höhere NRS-Werte als
auf als bei der Präsentation neutraler Adjektive.
Gleichzeitig waren die Laser-evozierten Potentiale bei Vorreizung durch schmerzbeschreibende
Wörter signifikant höher; die Probanden hatten also tatsächlich ein gesteigertes Schmerzempfinden.
Die höheren NRS-Werte resultieren also nicht oder nicht ausschließlich daraus, dass
die Versuchspersonen möglicherweise den Sinn und Zweck der Studie durchschaut hatten.
Stärkere Effekte bei Chronizität
Um die stärkeren Effekte bei chronischen Schmerzpatienten nachzuweisen, wurden chronische
Migränepatienten mit demselben Untersuchungsdesign untersucht und deren Ergebnisse
anschließend mit einer gesunden Kontrollgruppe verglichen [23].
Affektive Verarbeitung Auch hier imponierten bei der kortikalen Verarbeitung schmerzbeschreibender Adjektive
höhere NRS-Schmerzratings sowie höhere LEPs auf die gleichstarken Hitzereize. Bei
den chronischen Migränikern waren zudem die Schmerzratings und die LEPs tendenziell
höher als bei gesunden Kontrollpersonen. Diese Schmerzverstärkung war besonders dann
ausgeprägt, wenn die Wörter eher affektiv schmerzbeschreibend waren (z. B. „peinigend“
im Vgl. zu „stechend“). Das Untersuchungsergebnis unterstreicht somit die große Bedeutung
der affektiven Verarbeitung von Schmerzen bei chronischen Schmerzpatienten ([Abb. 3]).
Merke
Schmerzwörter triggern die Schmerzwahrnehmung
Das Lesen von schmerzbeschreibenden Adjektiven führt zur Voraktivierung von Strukturen
der Neuromatrix des Schmerzes, was bei tatsächlichen Schmerzen zu einer stärkeren
subjektiven Schmerzempfindung (NRS) und einer messbar erhöhten kortikalen Reaktion
(LEP) führt.
Diese Voraktivierung ist bei chronischen Schmerzpatienten stärker ausgeprägt.
Abb. 3 Priming von Schmerzwahrnehmung und evozierten Hirnantworten. Im Vergleich zu einem
neutralen Vorreiz führt die Vorreizung mit einem schmerzassoziierten Adjektiv trotz
gleicher physikalischer Reizintensität zur Zunahme von Schmerzwahrnehmung und evozierter
Hirnantwort (gemessen als Amplitude der Komponente P260). (Quelle: van den Berg F.
Angewandte Physiologie. Band 4, Schmerzen verstehen und beeinflussen. 2. Aufl. Stuttgart:
Thieme; 2008.)
Ausblick
Angesichts der dargestellten Ergebnisse lässt sich eindeutig festhalten, dass die
Verarbeitung von schmerzassoziierten Adjektiven nicht nur die entsprechenden Sprachareale
sondern auch Regionen der Schmerzmatrix aktiviert. Dies steht in Einklang mit der
eingangs erwähnten Theorie neuronaler Zellverbände von Hebb [4].
Teufelskreis Im klinischen Alltag ist die Tatsache, dass schmerzassoziierte Wörter bei chronischen
Schmerzpatienten stärker wirken und dass hier die Voraktivierung der Schmerzmatrix
durch Schmerzwörter stärker ausgeprägt ist, von großer Tragweite. Tatsächlich deutet
sich hier ein perfider Teufelskreis an ([Abb. 4]).
Abb. 4 Hypothetisches Teufelskreismodell. (Quelle: Maria Richter und Thomas Weiß.)
Kontextfaktoren Zweifelsohne sind chronische Schmerzpatienten häufiger Situationen ausgesetzt, in
denen sie schmerzassoziierte Kontextfaktoren wie z. B. schmerzbezogene Wörter verarbeiten.
Dies geschieht etwa im Rahmen der Visite beim Arzt, Physiotherapeuten oder Heilpraktiker
sowie beim Besuch einer Apotheke. Oftmals reicht bei chronischen Schmerzpatienten
schon die Assoziation zwischen der aktuellen Lebenssituation und einer ähnlichen Situation,
in der bereits Schmerzen erfahren wurden. So verbinden viele der Betroffenen bestimmte
Bewegungen mit Schmerzen.
Vulnerabilität In den angeführten kommunikativen Situationen sind Menschen mit chronischem Schmerzgeschehen
also vulnerabler für nozizeptive Reize. Außerdem nehmen sie durch die verbale Vorreizung
ihren augenblicklichen Schmerz intensiver wahr. Es ist sogar denkbar, dass durch das
semantische Priming auch die Schmerzschwelle bei den Betroffenen reduziert wird. Ähnliche
Prozesse wurden bereits für Nadeldruckreize bei chronischen Rückenschmerzpatienten
beschrieben [13], [14].
Abwärtsspirale Wird nun also ein nozizeptiver Reiz durch die Kommunikation von Schmerzwörtern als
schmerzhafter empfunden, verstärkt dies wiederum die Aktivierung der Schmerzmatrix,
und schmerzassoziierte Kontextfaktoren wie etwa die Schmerzwörter werden in der Folge
ebenso stärker verarbeitet: der sich schließende Teufelskreis wird so peu à peu zur
Abwärtsspirale.
Allerdings ist bislang nicht geklärt, wie stark die Effekte dieser Vorverarbeitung
sind. Zudem ist nur in Anfängen bekannt, welche weiteren Einflussfaktoren eine Rolle
spielen – etwa der zeitliche Abstand zwischen der Vorreizung und dem Schmerzreiz oder
die Intensität der Stimulation [16].
Fazit
Der Einfluss von Sprache auf die Schmerzwahrnehmung ist ein wichtiger Aspekt der Schmerzforschung,
der bislang zu wenig Beachtung fand. Wenn man bedenkt, dass sich Patienten im Verlauf
von Diagnostik und Therapie in vielfältigen Kommunikationssituationen wiederfinden,
sei es während der Schmerzanamnese oder beim Ausfüllen ausführlicher Schmerzfragebögen
bei Ärzten oder Physiotherapeuten, so wird schnell die Notwendigkeit weiterer und
vertiefender wissenschaftlicher Studien deutlich.
Schmerz-Kommunikation Es bleibt zu diskutieren, welche Art von Schmerz-Kommunikation mit Patienten in welchem
Umfang tatsächlich sinnvoll ist und inwieweit das Schmerzgeschehen der Betroffenen
dadurch zusätzlich verstärkt wird. Aus klinischer Sicht ist davon auszugehen, dass
eine dezidierte Diagnosestellung für die Entwicklung eines optimalen Behandlungsplans
und für den Aufbau einer tragfähigen Therapiebeziehung unabdingbar ist. Schließlich
sollte sich ein Patient mit seinem Schmerz ernst genommen fühlen und muss hierzu über
seine Beschwerden sprechen. Möglicherweise verstärken diese Gespräche aber die Aktivität
der Schmerzmatrix und verstärken so die Schmerzen des Patienten. Am Anfang der Behandlung
ist diese „Nebenwirkung“ im Vergleich zu den vielfältigen positiven Wirkungen einer
ausführlichen Diagnostik und Aufklärung über den Schmerz noch als unproblematisch
einzuschätzen. In längeren Behandlungskontexten oder auch im sozialen Umfeld kann
eine unverhältnismäßige Schmerzfokussierung in der Kommunikation jedoch durchaus zu
einem relevanten Schmerzverstärker werden.
De-Fokussierung Angesichts der Untersuchungsergebnisse erscheint es als sinnvoll und dem Therapieziel
dienlich, in längeren Behandlungsverläufen schrittweise auf schmerzbezogene Begriffe
zu verzichten und die Aufmerksamkeit auf andere körperliche und emotionale Wahrnehmungsbereiche
zu lenken.
So kann etwa zu Beginn einer physiotherapeutischen Therapieeinheit nach dem allgemeinen
Wohlbefinden oder zwischenzeitlichen Erfolgserlebnissen anstatt nach dem Schmerzgeschehen
gefragt werden. Selbst geringfügige Änderungen im therapeutischen Kommunikationsstil
können den Fokus des Patienten deutlich verändern und einer weiteren iatrogenen Chronifizierung
vorbeugen. So bietet sich anstatt der obligaten Frage „Wie ist der Schmerz gerade?“
eine andere Formulierung an wie z. B. „Wann hat sich ihr Rücken zuletzt gemeldet?“
oder „Wo spüren Sie eine angenehme Veränderung?“.
Hierbei kann es – eine gute therapeutische Beziehung vorausgesetzt – Sinn machen,
die Betroffenen im Sinne der Patienten-Edukation über derartige Prozesse aufzuklären,
um ihnen so die Chance zu geben, die eigene Kommunikation „schmerz-ärmer“ zu gestalten.