Fortschr Neurol Psychiatr 2018; 86(06): 329-330
DOI: 10.1055/a-0595-6071
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Riesenwelle ist der Anfang vom Ende – von der Neurobiologie des Sterbens

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Publication Date:
28 June 2018 (online)

Die Prozesse, die bei Sauerstoffentzug zu Schädigungen des Hirns führen, werden bei Tieren seit Jahrzehnten untersucht. Innerhalb von 20 bis 40 Sekunden stellt das Hirn durch eine Art Energiesparmodus seine elektrische Aktivität ein und die Kommunikation der Nervenzellen stoppt vollständig. Minuten später, wenn die Energiereserven aufgebraucht sind, bricht das energiebedürftige Ionen- und Spannungsgefälle zwischen dem Inneren der Nervenzellen und ihrer Umgebung zusammen. Dies passiert in Form einer massiven elektrochemischen Entladungswelle, die als „Spreading Depolarization“ oder auch bildhaft als „Tsunami“ bezeichnet wird. Diese Welle zieht durch die Hirnrinde und andere Hirnstrukturen und stößt dabei Schadenskaskaden an, die die Nervenzellen allmählich vergiften. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt ist die Welle reversibel – d. h. die Nervenzellen erholen sich vollständig, wenn die Durchblutung rechtzeitig wieder einsetzt. Überdauert die Durchblutungsstörung diesen Zeitpunkt jedoch, sterben die Zellen ab. Beim Menschen gab es bislang nur bedingt aussagekräftige Messungen der elektrischen Hirnaktivität und sehr widersprüchliche Auffassungen in Hinblick auf die Übertragbarkeit der Tierversuchsergebnisse.

Normalerweise ist es nicht möglich, entsprechende Messungen am menschlichen Hirn in den ersten Minuten nach Schlaganfall oder Herzstillstand durchzuführen. Nun konnten Wissenschaftler der Charité zusammen mit Kollegen von der Mayfield Clinic in Cincinnati erstmals bestimmte Fälle in einer besonderen Konstellation untersuchen. So werden in der modernen Neurointensivmedizin zunehmend spezielle Neuromonitoring-Verfahren zur Patientenüberwachung eingesetzt, um Komplikationen frühzeitiger erkennen und behandeln zu können. Dabei spielen insbesondere invasive Sauerstoffmessungen und die Elektrokortikografie eine zunehmende Rolle. Im Gegensatz zur herkömmlichen Elektroenzephalografie erlaubt es die Elektrokortikografie nicht nur epileptische Anfallsaktivität sondern auch „Spreading Depolarizations“ mit bisher nie gekannter Präzision zu erfassen. Mehrere weltweit durchgeführte klinische Studien der letzten Jahre konnten auf diese Weise belegen, dass „Spreading Depolarizations“ häufig bereits im Verlauf bei schweren akuten Hirnerkrankungen auftreten, wenn sich der Zustand eines Patienten verschlechtert. Ziel ist es dann, die zugrundeliegenden Ursachen für das Auftreten der „Spreading Depolarizations“ zu therapieren und sie dadurch einzudämmen.

In der vorliegenden Beobachtungsstudie wurden diese modernen Neuromonitoring-Verfahren eingesetzt. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Krankheitsverläufe und Überwachungsdaten der Verstorbenen zeigte, dass es innerhalb von Minuten nach Kreislaufstillstand auch beim Menschen zur sog. „terminalen Spreading Depolarization“ kommt. Die Forscher konnten nachweisen, dass die „terminale Spreading Depolarization“ bei Mensch und Tier vergleichbar ist. Leider ist die Erforschung dieses Elementarprozesses der Schadenentstehung im zentralen Nervensystem jahrzehntelang vernachlässigt worden, weil fälschlicherweise angenommen wurde, dass er beim Menschen nicht auftritt. Dies hatte vor allem methodische Gründe. Bisher besteht die Therapie bei Schlaganfall und Herzstillstand nur darin, den Blutkreislauf so rasch wie möglich wiederherzustellen. Das Wissen um die „Spreading Depolarization“ ist eine Grundvoraussetzung für die Entwicklung ergänzender Behandlungsstrategien, die auf eine Verlängerung der Überlebenszeit von Nervenzellen während Durchblutungsstörungen des Hirns abzielen.

Nach einer Mitteilung der Charité – Universitätsmedizin Berlin