Open Access
CC BY-NC-ND 4.0 · Geburtshilfe Frauenheilkd 2018; 78(04): 382-399
DOI: 10.1055/a-0582-0122
GebFra Science
Guideline/Leitlinie
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Peripartale Blutungen, Diagnose und Therapie. Leitlinie der DGGG, OEGGG und SGGG (S2k-Level, AWMF-Registernummer 015/063, März 2016)

Article in several languages: English | deutsch
Dietmar Schlembach
1   Klinik für Geburtsmedizin, Vivantes Klinikum Neukölln, Berlin, Germany
,
Hanns Helmer
2   Universitätsklinik für Frauenheilkunde, Klinische Abteilung für Geburtshilfe und feto-maternale Medizin, Medizinische Universität Wien, Wien, Austria
,
Wolfgang Henrich
3   Klinik für Geburtsmedizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Germany
,
Christian von Heymann
4   Klinik für Anästhesie, Intensivmedizin und Schmerztherapie, Vivantes Klinikum im Friedrichshain, Berlin, Germany
,
Franz Kainer
5   Geburtshilfe und Pränatalmedizin, Klinik Hallerwiese, Nürnberg, Germany
,
Wolfgang Korte
6   Zentrum für Labormedizin, St. Gallen, Switzerland
,
Maritta Kühnert
7   Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Universitätsklinikum Gießen-Marburg, Marburg, Germany
,
Heiko Lier
8   Klinik für Anästhesie und operative Intensivmedizin, Universitätsklinik Köln, Köln, Germany
,
Holger Maul
9   Geburtshilfe & Pränatalmedizin, Asklepios Klinik Barmbek, Hamburg, Germany
,
Werner Rath
10   Gynäkologie und Geburtshilfe, Universitätsklinikum RWTH Aachen, Aachen, Germany
,
Susanne Steppat
11   Deutscher Hebammenverband, Karlsruhe, Germany
,
Daniel Surbek
12   Universitätsklinik für Frauenheilkunde, Geburtshilfe und feto-maternale Medizin, Bern, Switzerland
,
Jürgen Wacker
13   Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe, Fürst-Stirum-Klinik Bruchsal, Bruchsal, Germany
› Author Affiliations
Further Information

Correspondence/Korrespondenzadresse

PD Dr. med. Dietmar Schlembach
Klinik für Geburtsmedizin
Vivantes Klinikum Neukölln, Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH
Rudower Straße 48
12351 Berlin
Germany   

Publication History

received 24 January 2018
revised 08 February 2018

accepted 26 February 2018

Publication Date:
26 April 2018 (online)

 

Zusammenfassung

Ziel Erstellung einer offiziellen interdisziplinären Leitlinie, publiziert und koordiniert von der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG), der Österreichischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (OEGGG) und der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (SGGG). Die Leitlinie wurde für den deutschsprachigen Raum entwickelt und wird von der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI), der Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH) und dem Deutschen Hebammenverband mitgetragen. Das Ziel dieser Leitlinie ist es, durch die Evaluation der relevanten Literatur einen konsensbasierten Überblick über die Diagnostik und das Management der peripartalen Blutung zu geben.

Methoden Diese S2k-Leitlinie wurde durch einen strukturierten Konsens von repräsentativen Mitgliedern verschiedener Fachgesellschaften und Professionen im Auftrag der Leitlinienkommission der DGGG entwickelt.

Empfehlungen Es werden Empfehlungen zur Definition, Risikostratifizierung, Prävention und Management gegeben.


I  Leitlinieninformationen

Leitlinienprogramm der DGGG, OEGGG und SGGG

Informationen dazu am Ende des Artikels.


Zitationsformat

Peripartal haemorrhage, diagnosis and therapy. Guideline of DGGG, OEGGG and SGGG (S2k level, AWMF Registry No. 015/063, March 2016). Geburtsh Frauenheilk 2018; 78: 382–399


Leitliniendokumente

Die vollständige Langversion mit einer Aufstellung der Interessenkonflikte aller Autoren und eine PDF-Dia-Version für PowerPoint-Präsentationen können auf der Homepage der AWMF eingesehen werden: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/015-063.html


Leitliniengruppe

Die folgenden Fachgesellschaften/Arbeitsgemeinschaften/Organisationen/Vereine haben Interesse an der Mitwirkung bei der Erstellung des Leitlinientextes und der Teilnahme an der Konsensuskonferenz bekundet und Vertreter für die Konsensuskonferenz benannt ([Tab. 1]).

Tab. 1 Autoren und Repräsentativität der Leitliniengruppe: Beteiligung der Anwenderzielgruppe.

Autor/in

Mandatsträger/in

DGGG-Arbeitsgemeinschaft (AG)/AWMF/Nicht-AWMF-Fachgesellschaft/Organisation/Verein

federführender und/oder koordinierender Leitlinienautor:

PD Dr. med. Dietmar Schlembach

Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e. V. (DGGG)

beteiligte Leitlinienautoren:

Prof. Dr. med. Hanns Helmer

Österreichische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (OEGGG)

Prof. Dr. med. Wolfgang Henrich

Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e. V. (DGGG)

Prof. Dr. med. Christian von Heymann

Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin e. V. (DGAI)

Prof. Dr. med. Franz Kainer

Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e. V. (DGGG)

Prof. Dr. med. Wolfgang Korte

Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung e. V. (GTH)

Prof. Dr. med. Maritta Kühnert

Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e. V. (DGGG)

Dr. med. Heiko Lier

Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin e. V. (DGAI)

PD Dr. med. Holger Maul

Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e. V. (DGGG)

Prof. Dr. med. Werner Rath

Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e. V. (DGGG)

Susanne Steppat

Deutscher Hebammenverband e. V.

Prof. Dr. med. Daniel Surbek

Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e. V. (SGGG)

Prof. Dr. med. Jürgen Wacker

Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e. V. (DGGG)


Verwendete Abkürzungen

A./Aa.: Arteria/Arteriae
AAGBI: The Association of Anaesthetists of Great Britain and Ireland
AMSTL: Active Management of Third Stage of Labor
aPTT: aktivierte partielle Thrombinzeit
AT/AT III: Antithrombin/Antithrombin III
b. B.: bei Bedarf
bds: beidseits
BGA: Blutgasanalyse
BMI: Body-Mass-Index
BV: Blutverlust
CMACE: Centre for Maternal and Child Enquiries
DDAVP: Desmopressin
DIG: disseminierte intravasale Gerinnung
EK: Erythrozytenkonzentrat
ESA: European Society of Anesthesiology
FWE: Fruchtwasserembolie
GFP: gefrorenes Frischplasma
Hb: Hämoglobin
HF: Herzfrequenz
Hkt: Hämatokrit
IE: internationale Einheit
i. m.: intramuskulär
INR: International normalized Ratio
IUFT: intrauteriner Fruchttod
i. v.: intravenös
MRT: Magnetresonanztomografie
NICE: National Institute for Health and Care Excellence
OAA: Obstetric Anaesthesists Association
OR: Odds Ratio
POC: Point of Care
PPH: postpartale Blutung/Postpartal Haemorrhage
PPSB: Prothrombinkomplexkonzentrat
rFVIIa: rekombinanter Faktor VIIa
ROTEM: Rotationsthrombelastometrie
RRsys/RRdia : RR systolisch/RR diastolisch
TEG: Thrombelastografie
US: Ultraschall
V. a.: Verdacht auf
VET: viskoelastischer Test
Vv.: Venae
WHO: World Health Organisation
Z. n.: Zustand nach
 


II  Leitlinienverwendung

Fragestellung und Ziele

Intention dieser Leitlinie ist die Erstellung eines interdisziplinären (Anästhesie und Intensivmediziner, Geburtshelfer, Hebammen, Wochenbettpflege) Management- und Handlungsalgorithmus für das Management der peripartalen Blutungen (Diagnostik, Risikoselektion, Therapie).

Durch die Erstellung einer Leitlinie soll eine Verbesserung des Wissens aller bei der Betreuung von Schwangeren und Wöchnerinnen mit Hämorrhagie bzw. einem erhöhten Risiko für eine Hämorrhagie involvierten Personen und Berufsgruppen erreicht werden.

Somit sollen eine bessere Versorgung der Patientinnen erreicht werden sowie Probleme im Management der PPH reduziert werden.


Versorgungsbereich

  • ambulanter Versorgungssektor

  • primärärztliche/spezialisierte Versorgung

  • stationärer Versorgungssektor


Anwenderzielgruppe/Adressaten

Diese Leitlinie richtet sich an folgende Personenkreise:

  • GynäkologInnen/GeburtshelferInnen in der Niederlassung

  • GynäkologInnen/GeburtshelferInnen mit Klinikanstellung

  • AnästhesistInnen und IntensivmedizinerInnen

  • GerinnungsspezialistInnen und LabormedizinerInnen

  • interventionelle RadiologInnen

  • Hebammen

  • Pflegekräfte (OP, Anästhesie, Intensivstation, Geburtshilfe/Wochenbett)


Verabschiedung und Gültigkeitsdauer

Die Gültigkeit dieser Leitlinie wurde durch die Vorstände/Verantwortlichen der beteiligten Fachgesellschaften/Arbeitsgemeinschaften/Organisationen/Vereine sowie durch den Vorstand der DGGG und der DGGG-Leitlinienkommission sowie der SGGG und OEGGG im September 2015 bestätigt und damit in ihrem gesamten Inhalt genehmigt. Diese Leitlinie besitzt eine Gültigkeitsdauer von 01.04.2016 bis 31.03.2019. Diese Dauer ist aufgrund der inhaltlichen Zusammenhänge geschätzt. Bei dringendem Bedarf kann eine Leitlinie früher aktualisiert werden, bei weiterhin aktuellem Wissensstand kann ebenso die Dauer verlängert werden.



III  Methodik

Grundlagen

Die Methodik zur Erstellung dieser Leitlinie wird durch die Vergabe der Stufenklassifikation vorgegeben. Das AWMF-Regelwerk (Version 1.0) gibt entsprechende Regelungen vor. Es wird zwischen der niedrigsten Stufe (S1), der mittleren Stufe (S2) und der höchsten Stufe (S3) unterschieden. Die niedrigste Klasse definiert sich durch eine Zusammenstellung von Handlungsempfehlungen, erstellt durch eine nicht repräsentative Expertengruppe. Im Jahr 2004 wurde die Stufe S2 in die systematische evidenzrecherchebasierte (S2e) oder strukturelle konsensbasierte Unterstufe (S2k) gegliedert. In der höchsten Stufe S3 vereinigen sich beide Verfahren.

Diese Leitlinie entspricht der Stufe: S2k


Empfehlungsgraduierung

Die Evidenzgraduierung und Empfehlungsgraduierung einer Leitlinie auf S2k-Niveau ist nicht vorgesehen. Es werden die einzelnen Statements und Empfehlungen nur sprachlich – nicht symbolisch – unterschieden ([Tab. 2]).

Tab. 2 Graduierung von Empfehlungen.

Beschreibung der Verbindlichkeit

Ausdruck

starke Empfehlung mit hoher Verbindlichkeit

soll/soll nicht

einfache Empfehlung mit mittlerer Verbindlichkeit

sollte/sollte nicht

offene Empfehlung mit geringer Verbindlichkeit

kann/kann nicht

Die oben aufgeführte Einteilung von „Empfehlungen“ entspricht neben der Bewertung der Evidenz auch der klinischen Relevanz der zugrunde liegenden Studien und ihren nicht in der Graduierung der Evidenz aufgeführten Maßen/Faktoren, wie die Wahl des Patientenkollektivs, Intention-to-treat- oder Per-Protocol-Outcome-Analysen, ärztliches bzw. ethisches Handeln gegenüber dem Patienten, länderspezifische Anwendbarkeit usw.


Statements

Sollten fachliche Aussagen nicht als Handlungsempfehlungen, sondern als einfache Darlegung Bestandteil dieser Leitlinie sein, werden diese als „Statements“ bezeichnet. Bei diesen Statements ist die Angabe von Evidenzgraden nicht möglich.


Konsensusfindung und Konsensusstärke

Im Rahmen einer strukturellen Konsensusfindung (S2k/S3-Niveau) stimmen die berechtigten Teilnehmer der Sitzung die ausformulierten Statements und Empfehlungen ab. Hierbei kann es zu signifikanten Änderungen von Formulierungen etc. kommen. Abschließend wird abhängig von der Anzahl der Teilnehmer eine Stärke des Konsensus ermittelt ([Tab. 3]).

Tab. 3 Einteilung zur Zustimmung der Konsensusbildung.

Symbolik

Konsensusstärke

prozentuale Übereinstimmung

+++

starker Konsens

Zustimmung von > 95% der Teilnehmer

++

Konsens

Zustimmung von > 75 – 95% der Teilnehmer

+

mehrheitliche Zustimmung

Zustimmung von > 50 – 75% der Teilnehmer

kein Konsens

Zustimmung von < 50% der Teilnehmer


Expertenkonsens

Wie der Name bereits ausdrückt, sind hier Konsensusentscheidungen speziell für Empfehlungen/Statements ohne vorige systemische Literaturrecherche (S2k) oder aufgrund von fehlender Evidenzen (S2e/S3) gemeint. Der zu benutzende Expertenkonsens (EK) ist gleichbedeutend mit den Begrifflichkeiten aus anderen Leitlinien wie „Good Clinical Practice“ (GCP) oder „klinischer Konsensuspunkt“ (KKP). Die Empfehlungsstärke graduiert sich gleichermaßen wie bereits im Kapitel Empfehlungsgraduierung beschrieben ohne die Benutzung der aufgezeigten Symbolik, sondern rein semantisch („soll“/„soll nicht“ bzw. „sollte“/„sollte nicht“ oder „kann“/„kann nicht“).



IV  Leitlinie

1  Hintergrund

Die Inzidenz der postpartalen Hämorrhagie (PPH) steigt kontinuierlich [1], [2], [3], [4], [5], vor allem bedingt durch die Zunahme von Uterusatonien und Plazentaimplantationsstörungen sowie steigenden Raten an vaginaloperativen und Kaiserschnittentbindungen mit konsekutiv erhöhten primären Blutverlusten sowie im Falle des Kaiserschnittes erhöhten PPH-Raten in Folgeschwangerschaften [2], [6], [7], [8], [9], [10], [11].

Lebensbedrohliche postpartale Blutungen betreffen in der westlichen Welt ca. 2/1000 Geburten, hinzu kommt die schwere maternale Morbidität bei ca. 3/1000 Geburten [12] – [22]. Die PPH ist damit Ursache für ca. 30% aller maternalen Todesfälle in der Dritten Welt und 13% in industrialisierten Ländern [21].

Der Großteil der maternalen Todesfälle aufgrund einer PPH ist vermeidbar, in 60 – 80% aller Fälle liegt ein „major substandard care“ vor [1], [20], [21], [23], [24], [25]. Besonders bedrohlich ist, dass bei visueller Beurteilung das Ausmaß der Blutung um 30 – 50% unterschätzt wird [26], [27], [28], [29].

Die Ursachen der PPH werden im angloamerikanischen Sprachgebrauch nach den „4 Tʼs“ eingeteilt (Kombinationen dieser Ursachen sind die Regel) ([Tab. 4]).

Tab. 4 Die 4 Tʼs: Ursachen der PPH [6], [16], [30], [31], [32].

Tonus (uterine Atonie)

uterine Überdehnung (Multiparität, Hydramnion, fetale Makrosomie)

Tokolytika

schnelle oder verzögerte Geburt

(lange) Oxytocinsubstitution

Chorioamnionitis

Uterus myomatosus

Tissue (Plazenta)

Plazentaretention

Plazentaimplantationsstörung (Placenta adhaerens, accreta/increta/percreta)

Plazentaresiduen

Trauma

vulvovaginale Verletzungen

Riss im Bereich der Cervix uteri

Episiotomie/Dammriss

Uterusruptur

Uterusinversion

Thrombin (Koagulopathie)

schwangerschaftsinduziert:

Thrombozytopenie bei HELLP-Syndrom, disseminierte intravasale Gerinnung (DIG) (z. B. bei Präeklampsie, intrauteriner Fruchttod [IUFT], Abruptio placentae, Fruchtwasserembolie)

andere:

Von-Willebrand-Jürgens-Syndrom, plasmatische Gerinnungsstörungen, Thrombopathien, Faktorenmangel (Verlust, Verbrauch, Verdünnung)

Als Hauptprobleme im Risikomanagement der PPH werden angeführt [1], [24], [33], [34]:

  • Verzögerung der Diagnose und/oder Therapie durch eine Unterschätzung des tatsächlichen Blutverlusts

  • Verzögerung in der Bereitstellung von Blut- respektive Gerinnungsprodukten

  • Fehlen oder Nichtbefolgen von einfachen Handlungsanweisungen

  • Fehlen von adäquater Fortbildung und Training

  • schlechte Kommunikation im interdisziplinären Team

  • Defizite in der Organisationsstruktur

  • Verzögerung bei der Initiierung eines Behandlungsstandards


2  Definitionen

Konsensbasierte Empfehlung 2.E1

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Folgende Definition der PPH wird (im deutschsprachigen Raum) empfohlen:

  • Blutverlust von ≥ 500 ml nach vaginaler Geburt

  • Blutverlust von ≥ 1000 ml nach Sectio caesarea


3  Risikostratifizierung und Prävention

Eine exakte Anamnese, die Ultraschalldiagnostik in der Schwangerschaftsvorsorge, die Einschätzung eines Blutungsrisikos, die Vorstellung in der Geburtsklinik, die rechtzeitige Vorbereitung auf einen erhöhten Blutverlust können das Patientinnenrisiko für eine PPH reduzieren [35].

Konsensbasierte Empfehlung 3.E2

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Beim Ultraschall im II. Trimenon ist die Lokalisation und die Struktur der Plazenta zu dokumentieren. Bei tiefem Plazentasitz sollte das Vorhandensein von Vasa praevia ggf. im Rahmen einer weiterführenden Ultraschalluntersuchung überprüft und dokumentiert werden [36].

Konsensbasierte Empfehlung 3.E3

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Besonders bei anamnestischen Risiken (Voroperationen) oder Befundrisiken (Placenta praevia) sollte an eine Implantationsstörung gedacht werden.

3.1  Risikostratifizierung und Risikofaktoren, die eine peri-/postpartale Blutung begünstigen ([Tab. 5])

Tab. 5 Risikofaktoren bei PPH [16], [23], [37], [38], [39].

OR oder Range

Blutverlust

> 500 ml

> 1000 ml

soziodemografische Risikofaktoren

  • Adipositas (BMI > 35)

1,6

  • maternales Alter (≥ 30 Jahre)

1,3 – 1,4

1,5

geburtshilfliche Risikofaktoren

  • Placenta praevia

4 – 13,1

15,9

  • vorzeitige Plazentalösung

2,9 – 12,6

2,6

  • Plazentaretention

4,1 – 7,8

11,7 – 16,0

  • prolongierte Plazentarperiode

7,6

  • Präeklampsie

5,0

  • Mehrlingsgravidität

2,3 – 4,5

2,6

  • Z. n. PPH

3,0 – 3,6

  • fetale Makrosomie

1,9 – 2,4

  • HELLP-Syndrom

1,9

  • Hydramnion

1,9

  • (langanhaltende) Oxytocinaugmentation

1,8

  • Geburtseinleitung

1,3 – 2

2,1 – 2,4

  • protrahierte Geburt

1,1 – 2

operative Risikofaktoren

  • Notkaiserschnitt

3,6

  • elektive Sectio caesarea

2,5

  • vaginaloperative Entbindung

1,8 – 1,9

  • Episiotomie

1,7 – 2,21

2.07

  • Dammriss

1,7

2,5

sonstige Risikofaktoren

  • antepartale Blutung

3,8

  • Von-Willebrand-Syndrom

3,3

  • Anämie (< 9 g/dl)

2,2

  • Fieber unter der Geburt

2

Als weitere Risikofaktoren sind eine rasche Geburt, hohe maternale Parität sowie Myome und Fehlbildungen des Uterus zu berücksichtigen [39].

Cave: Die Mehrzahl der Patientinnen, die eine PPH entwickeln, haben keine Risikofaktoren [39].


3.2  Sonografische Risikostratifizierung (Plazentationsstörungen)

Konsensbasierte Empfehlung 3.E4

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Patientinnen mit V. a. Plazentationsstörung sollen grundsätzlich frühzeitig in einer geeigneten Geburtsklinik vorgestellt werden und dort von einem multidisziplinären Team („zum optimalen Zeitpunkt vom optimalen Team“) behandelt werden [20], [40].

Der diagnostische Wert der MRT-Untersuchung ist in diesen Fällen bisher nicht überzeugend belegt [41], [42], jedoch kann bei unklaren Befunden die MRT-Untersuchung Zusatzinformationen liefern [42], [43].


3.3  Prävention

3.3.1  Aktive Leitung der Nachgeburtsperiode

3.3.1.1  Aktive Leitung nach vaginaler Geburt

Konsensbasierte Empfehlung 3.E5

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Bei der Geburt des Kindes und nach Einsetzen der Atmung soll die prophylaktische Gabe von Oxytocin (Syntocinon® 3 – 5 IE langsam i. v. [oder als Kurzinfusion]) erfolgen [44].

Konsensbasierte Empfehlung 3.E6

Expertenkonsens

Konsensusstärke ++

Das frühzeitige Abklemmen und Durchtrennen der Nabelschnur unmittelbar nach der Geburt des Kindes und der kontrollierte Zug an der Nabelschnur zeigen keinen Effekt zur Verminderung postpartaler Blutungen und sind zu unterlassen.


3.3.1.2  Prävention der PPH bei Sectio caesarea

Konsensbasierte Empfehlung 3.E7

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Analog zur vaginalen Entbindung soll eine PPH-Prophylaxe durchgeführt werden.

Dies kann entweder mit Gabe von Oxytocin (Syntocinon® 3 – 5 IE als Kurzinfusion [oder langsam i. v.]) oder mit Carbetocin (Pabal® 100 µg) als Kurzinfusion oder langsam i. v. erfolgen.



3.3.2  Bei Vorliegen von Risikofaktoren

Konsensbasierte Empfehlung 3.E8

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

In der Klinik sollen bei Vorliegen von Risikofaktoren folgende Maßnahmen durchgeführt werden:

  • adäquater Venenzugang unter der Geburt bei jeder Patientin, großlumige Venenzugänge bei Blutungskomplikationen

  • Bereitstellen von Uterotonika (Oxytocin, z. B. Syntocinon®), Prostaglandinen (z. B. Sulproston: Nalador®), Misoprostol (Cytotec®, Off-Label-Use)

  • Logistik prüfen:

    • Verfügbarkeit eines „Notfall-Labors“ (Blutbild, Blutgasanalyse [BGA], aPTT, Quick bzw. INR, Antithrombin [AT], Fibrinogen, evtl. Thrombelastografie/Thrombelastometrie [ROTEM])

    • Geburtshelfer und Anästhesist im Haus, erfahrener Geburtshelfer und erfahrener Anästhesist in (Ruf-)Bereitschaft

    • Blutbank verfügbar: Entgegennahme der Kreuzprobe, zeitnahe Beschaffung von Erythrozytenkonzentraten und Frischplasma

    • Verfügbarkeit von Gerinnungsfaktoren (Tranexamsäure [Cyclokapron®], Fibrinogen [Hämokomplettan®], Faktor XIII [Fibrogammin®], rekombinanter Faktor VIIa [rFVIIa, NovoSeven®, Off-Label-Use]) prüfen.




4  Management bei PPH

Konsensbasiertes Statement 4.S1

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Die Therapie einer PPH beinhaltet neben allgemeinen Maßnahmen (u. a. zur Kreislaufstabilisierung) die ursachenadaptierte medikamentöse und/oder chirurgische Therapie, die rasch, koordiniert und oft zeitgleich durchgeführt werden müssen [45], [46], [47].

4.1  Maßnahmen

  • Blutverlust messen! (Cave: Blutverluste in Tüchern usw.)

  • rasche Klärung der Blutungsursache („4 Tʼs“):

    • Uterustonus tasten

    • auf unvollständige Plazenta überprüfen (Ultraschallkontrolle, manuelles oder instrumentelles Austasten)

    • Trauma der Geburtswege durch Spiegeleinstellung ausschließen

    • bei kritischem Blutverlust Applikation von Uterotonika (bei Atonie) und Tranexamsäure

    • Uteruskompression

  • frühzeitiges Hinzuziehen der Anästhesisten (multidisziplinäres Team)

  • ursachenabhängig medikamentöse und/oder chirurgische Therapie

  • Kontrolle der Vitalparameter, evtl. invasives Monitoring

  • initiale Volumensubstitution zum Erhalt der Normovolämie: Kristalloide, in Ausnahmefällen (z. B. akute Blutung mit Kreislaufinstabilität) kolloidale Lösungen [48]

  • Blut kreuzen lassen, Notfalllabor (u. a. Blutbild, Gerinnung)

  • Erythrozytenkonzentrate und Gefrierplasma bestellen, ggf. bereitstellen (Kreißsaal, OP)

  • Gerinnungsfaktoren, vor allem Fibrinogen

  • andere Hämostatika (z. B. Desmopressin), Faktor XIII und ggf. rFVIIa

  • Intensivüberwachung im stationären Verlauf, evtl. invasives Monitoring

  • rechtzeitige operative Intervention bei Versagen konservativer Maßnahmen (Vorgehen siehe unten)

Messung des Blutverlusts

Eines der Kardinalprobleme nicht nur für die Definition, sondern vor allem für die Diagnose und Behandlung der PPH ist, dass der postpartale Blutverlust selten gemessen und bei visueller Beurteilung bekanntermaßen um 30 – 50% unterschätzt wird [35], [49].

Konsensbasierte Empfehlung 4.E9

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Das Sammeln aller mit Blut „getränkten“ Unterlagen, Binden, Wäsche und nennenswerter Koagelmengen ist daher unbedingt zu empfehlen.




5  Allgemeine (Notfall-)Maßnahmen und Diagnostik zur Ursachenklärung

5.1  Atonie

  • Diagnose: Anstieg des Fundus uteri; weicher, schlaffer Uterus; meist intermittierende, schwallartige Blutung.

  • Blase entleeren!

  • mechanische Maßnahmen: Massage des Uterus (endogene Prostaglandinbildung), bimanuelle Uteruskompression (z. B. Handgriff nach Hamilton)

  • Ausschluss von Geburtsverletzungen (Spiegeleinstellung und ggf. abdominaler US)

  • Ausschluss von Plazentaresten (Kontrolle der Plazenta auf Vollständigkeit, Sonografie)

Konsensbasierte Empfehlung 5.E10

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Therapie:

nach vaginaler Entbindung

  • Uterotonika, ggf. Tranexamsäure

  • bei V. a. Plazentaresiduen schonende Kürettage im Kreißsaal oder im OP

  • ggf. Uterustamponade

  • weitere chirurgische Maßnahmen

  • evtl. Embolisation

nach Sectio caesarea

  • Uterotonika, ggf. Tranexamsäure

  • chirurgische Maßnahmen


5.2  Implantationsstörungen

Das Management einer Plazentalösungsstörung ist abhängig vom Zeitpunkt der Diagnosestellung und dem Geburtsmodus.

Vorgehen bei antenataler Diagnose

Bei antenataler Diagnose einer fortgeschrittenen Implantationsstörung (Placenta increta, percreta) ist immer eine Sectio caesarea erforderlich.

  • ausgedehnter Befund: Sectiohysterektomie, alternativ Belassen der Plazenta in utero

  • fokaler Befund: partielle Uteruswandresektion

  • ggf. interventionelle Radiologie: prophylaktische Okklusion der Aa. iliacae internae [50], [51]


Vorgehen bei intrapartaler Diagnose

  • vaginale Geburt:

    • bei fehlender Plazentalösung mit Blutung: manuelle Plazentalösung ggf. mit Nachkürettage unter intraoperativer Ultraschallkontrolle [52]

    • bei anhaltender starker Blutung aus dem Plazentabett operative Therapie, alternativ Embolisation der Aa. uterinae

  • bei Sectio caesarea:

    • keine Manipulation an der Plazenta oder Versuch der manuellen Lösung

    • Sectiohysterektomie oder alternativ Belassen der Plazenta in situ

Konsensbasierte Empfehlung 5.E11

Expertenkonsens

Konsensusstärke ++

Therapie:

nach vaginaler Entbindung

  • Uterotonika, ggf. Tranexamsäure

  • ggf. manuelle Plazentalösung mit Nachkürettage

  • ggf. Uterustamponade als überbrückende Maßnahme

  • Laparotomie und weitere chirurgische Maßnahmen

  • evtl. Embolisation

nach Sectio caesarea

  • Uterotonika, ggf. Tranexamsäure

  • chirurgische Maßnahmen

  • evtl. Embolisation



5.3  Inversio uteri

Konsensbasierte Empfehlung 5.E12

Expertenkonsens

Konsensusstärke ++

Therapie:

Ziel ist die Reposition des Uterus sowie die Behandlung der blutungsbedingten Schocksymptomatik; die folgenden Maßnahmen sollen sofort nach Diagnosestellung in dieser Reihenfolge durchgeführt werden:

  • Beendigung der Uterotonikagabe

  • Zuziehen geburtshilflicher Facharzt und Anästhesie

    • Schaffung adäquater, intravenöser Zugänge, Volumensubstitution

    • kein Versuch einer Plazentaentfernung, diese soll wegen des erhöhten Blutverlusts falls möglich (Placenta accreta) erst nach Reposition entfernt werden [53], [54]

    • Versuch einer Repositionierung des Fundus (Johnson-Manöver)

  • falls frustran, Gabe von Uterusrelaxanzien (z. B. Nitroglyzerin 50 µg i. v., Betamimetika) und neuerlicher Repositionsversuch mittels Johnson-Manöver

  • falls weiter frustran → Laparotomie und Huntington-Manöver, ggf. simultan Johnson-Manöver; falls frustran, Durchführung des Haultain-Manövers

  • nach Reposition Uterotonikagabe (z. B. Oxytocin)

  • antibiotische Abschirmung (z. B. Cephalosporin oder Clindamycin)



6  Medikamentöse und operative Maßnahmen zur Behandlung der PPH

6.1  Uterotonika

6.1.1  Oxytocin (Syntocinon®) i. v. (ggf. i. m.)

Konsensbasierte Empfehlung 6.E13

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Insgesamt dürfen maximal 6 IE unverdünnt langsam intravenös appliziert werden:

  • 3 – 5 IE (1 Amp.) in 10 ml NaCl 0,9% als Bolus (langsam i. v.!)

  • gefolgt von 10 – 40 IE Oxytocin in 500 – 1000 ml Ringer-Laktatlösung als Dauertropfinfusion (Dosis abhängig von uteriner Wirkung) [16], [55].

Der Wirkungseintritt bei i. v. Gabe liegt (bei einer Halbwertszeit von 4 – 10 min) innerhalb von einer Minute, bei intramuskulärer Applikation (maximal 10 IE) bei 3 – 5 Minuten.


6.1.2  Carbetocin (Pabal®)

Der Einsatz zur Therapie einer PPH ist zurzeit nicht ausreichend durch Studien belegt. In Einzelfällen wird die Gabe von Carbetocin zur Therapie der PPH berichtet.


6.1.3  Methylergometrin (Methergin®)

Konsensbasierte Empfehlung 6.E14

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Im Management der postpartalen Blutung sollte Methylergometrin aufgrund der Alternativen und des Nebenwirkungsspektrums nur mit äußerster Vorsicht eingesetzt werden.

Konsensbasierte Empfehlung 6.E15

Expertenkonsens

Konsensusstärke ++

Methylergometrin sollte als intravenöse Bolusgabe nicht angewandt werden.


6.1.4  Prostaglandine

Konsensbasierte Empfehlung 6.E16

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Bei Versagen bzw. Nichtansprechen von First-Line-Uterotonika soll ohne größere zeitliche Verzögerung auf Prostaglandine umgestellt werden [56].

Konsensbasierte Empfehlung 6.E17

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Eine gleichzeitige Gabe von Oxytocinrezeptoragonisten und Prostaglandinen soll nicht erfolgen.

Konsensbasiertes Statement 6.S2

Expertenkonsens

Konsensusstärke ++

Anmerkung:

Bei einer postpartalen Uterusatonie und Uterushämorrhagie handelt es sich um ein lebensbedrohliches Krankheitsbild und eine vitale Indikation für die Gabe von Prostaglandinderivaten, wenn keine Alterativen zur Verfügung stehen bzw. Oxytocin unwirksam ist, bis eine geburtshilflich-gynäkologische Versorgung gewährleistet ist. Nebenwirkungen und Kontraindikationen sind in dieser Situation zu relativieren (Güterabwägung). Bei Anwendung ist ein engmaschiges Kreislaufmonitoring erforderlich.

6.1.4.1  Sulproston (Nalador®)

Dosierung:

  • 1 Ampulle = 500 µg in 500 ml Infusionslosung über Infusomaten

  • Anfangsdosis: 100 ml/h, bei Bedarf bis maximal 500 ml/h

  • Erhaltungsdosis: 100 ml/h

  • Maximaldosis 1000 µg/10 Stunden (2 Ampullen)

  • Tagesmaximaldosis 1500 µg (3 Ampullen)


6.1.4.2  Misoprostol (Cytotec®)

Dosierung: 800 – 1000 µg Misoprostol rektal oder 600 µg oral [57], [58], [59], [60].

In einer Cochrane-Metaanalyse zeigte sich die Oxytocininfusion als First-Line-Therapie effektiver als die Misoprostolgabe bei zudem weniger Nebenwirkungen. Bei vorausgegangener Uterotonikaprophylaxe war die Wirkung beider Medikamente gleich [61].

Konsensbasiertes Statement 6.S3

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Anmerkung:

Misoprostol ist aufgrund seines verzögerten Wirkeintritts und der Verfügbarkeit besserer und zugelassener Alternativen nicht zur Therapie der anhaltenden PPH geeignet.

Die Verwendung von Misoprostol bei moderat persistierender PPH nach Applikation von Oxytocin kann erwogen werden (Off-Label-Use!), die aktuelle Datenlage dazu ist jedoch noch nicht ausreichend, um eine endgültige Empfehlung abgeben zu können.

Konsensbasiertes Statement 6.S4

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Anmerkung:

Bei einer postpartalen Uterusatonie und Uterushämorrhagie handelt es sich um ein lebensbedrohliches Krankheitsbild und eine vitale Indikation für die Gabe von Misoprostol, wenn keine Alternativen zur Verfügung stehen, bis eine geburtshilflich-gynäkologische Versorgung gewährleistet ist. Nebenwirkungen und Kontraindikationen sind in dieser Situation zu relativieren (Güterabwägung). Bei Anwendung ist ein engmaschiges Kreislaufmonitoring unabdinglich.


6.1.4.3  Intrauterine Anwendung von Prostaglandinen

Konsensbasiertes Statement 6.S5

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Die intramyometrane Applikation von Sulproston (z. B. in den Fundus uteri bei Sectio caesarea) ist kontraindiziert [56].





7  Uterustamponade

Der Einsatz der Cavumtamponade wird mit 2 Zielsetzungen durchgeführt: einerseits der Therapie der PPH, d. h. dem definitiven Blutungsstopp, und andererseits dem Ziel des „bridging“, d. h. einem temporären Blutungsstopp, um eine hämodynamische Stabilisierung oder die Organisation von weiteren (operativen oder interventionell-radiologischen) Maßnahmen zu ermöglichen [62], [63], [64]. Neben anderen sogenannten „second-line“ Therapiestrategien kann die Tamponade des Uterus die Rate von Notfallhysterektomien signifikant reduzieren [65], [66].

Zur Tamponade des Uterus stehen neben Tamponadestreifen verschiedene Ballonsysteme zur Verfügung, deren Effektivität in verschiedenen Publikationen nachgewiesen wurde und die den Vorteil einer frühzeitigen Erkennung einer persistierenden Blutung bieten [64], [67], [68], [69], [70], [71], [72], [73].

Konsensbasierte Empfehlung 7.E18

Expertenkonsens

Konsensusstärke ++

  • Uterotonikamedikation parallel

  • vaginale Untersuchung/Ultraschall (Ausschluss Trauma, Plazentarest, Koagelentleerung)

  • Blasenkatheter

  • zum Füllen des Tamponadeballons Flüssigkeit (0,9% NaCL, möglichst körperwarm) – KEINE Luft

  • zusätzlich vaginale Tamponade

  • Intensivüberwachung (Monitoring), Antibiotikaprophylaxe

  • kann bis zu 24 Stunden in utero belassen werden

Die erfolgreiche Anwendung einer mit einer hämostatischen Komponente (Chitosan) beschichteten und für die Notfall- bzw. Kriegsmedizin entwickelten Gaze (Celox®) im Management der PPH wurde kürzlich berichtet [74].

Konsensbasierte Empfehlung 7.E19

Expertenkonsens

Konsensusstärke ++

Die Tamponade des Uterus – in welcher Form auch immer – schließt andere evtl. notwendige weitere therapeutische Optionen, wie z. B. Kompressionsnähte, nicht aus [64], [75], diese sind gerade bei Atonie dringend zu empfehlen [75], [76], [77], [78].


8  Operative Maßnahmen (Kompression, Devaskularisation, Hysterektomie) und Embolisation

8.1  Überbrückende Maßnahmen

Konsensbasierte Empfehlung 8.E20

Expertenkonsens

Konsensusstärke ++

In der Situation der letalen Trias „anhaltende Blutung, hämorrhagischer Schock und Koagulopathie“ empfiehlt sich ein Vorgehen in 3 Phasen [62]:

  • Chirurgische Blutstillung in einer akzeptablen Zeitspanne auch mit chirurgisch-geburtshilflicher „Basisexpertise“ per Pfannenstiel- oder medianer Laparotomie, Eventeration des Uterus mit Zug nach kranial und Uteruskompression sowie Setzen von atraumatischen Klemmen im Bereich der Aa. uterinae, um die Perfusion zu minimieren. Setzen von Uteruskompressionsnähten und Applikation einer Uterustamponade.

  • Parallel Korrektur von Hypovolämie, Temperatur, Säure-Basen-Haushalt und Koagulopathie durch anästhesiologisch-intensivmedizinische Maßnahmen; ggf. folgende Operationspause zur Stabilisierung.

  • Definitive (chirurgische) Versorgung der jetzt stabilen Patientin durch einen Operateur mit entsprechender chirurgischer Expertise. Bei vorhandener Infrastruktur kann hier optional auch eine interventionell radiologische Embolisation der zuführenden uterinen Arterien vorgenommen werden [79], [80]. Vorteil dieses Vorgehens könnte sein, dass die Fertilität erhalten bleiben kann, wie größere Fallserien beschrieben haben [81], [82], [83], [84].


8.2  Uteruskompressionsnähte

Ziel dieser Nähte ist die Kompression des Uterus mit Verkleinerung der Plazentahaftfläche und die Tamponade der Blutungsquellen. Indiziert ist diese Maßnahme bei uterinen Blutungen nach vaginaler Geburt sowie nach vorausgegangener Sectio caesarea. Derzeit kann keine Aussage in Bezug auf die optimale Wirksamkeit einer Nahtmethode getroffen werden. Insgesamt zeigt sich eine hohe Erfolgsrate aller Methoden in Bezug auf eine Vermeidung der bisher üblichen Hysterektomie. Es sollten jedoch je nach Indikation (Atonie, Blutung aus dem Plazentabett, diffuse Blutung) eine geeignete Nahttechnik zum Einsatz kommen [85].

Konsensbasierte Empfehlung 8.E21

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Entsprechendes Nahtmaterial (große Nadel, langer Faden) muss in den Operationssälen vorgehalten werden.


8.3  Gefäßligaturen

Neben der einfachen Ligatur der A. uterina [86] kann auch die schrittweise uterine Devaskularisation eingesetzt werden. Diese Technik umfasst in 5 konsekutiven Schritten die Ligatur der auf- und absteigenden Äste der Aa. uterinae sowie der Kollateralen der A. ovarica [87], [88].

Konsensbasierte Empfehlung 8.E22

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Die Ligatur der A. iliaca interna soll nur als Ultima Ratio und nur durch einen in der Beckenchirurgie erfahrenen Operateur erfolgen.


8.4  Postpartale Hysterektomie

Konsensbasierte Empfehlung 8.E23

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Konservative Maßnahmen, um den Uterus zu erhalten, sind nur so lange sinnvoll, wie die Frau hämodynamisch stabil ist und nicht lebensbedrohlich blutet [89], [90]. Eine notwendige Hysterektomie sollte daher nicht zu spät indiziert werden.

Konsensbasierte Empfehlung 8.E24

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Bei Atonie ist die suprazervikale Hysterektomie zu bevorzugen, da die Operationszeit deutlich kürzer ist und es nicht zu einer ungewollten Verkürzung der Scheide kommt. Bei Plazentaimplantationsstörungen im unteren Uterinsegment ist die totale Hysterektomie zu erwägen, hier ist die Darstellung der Ureteren anzuraten.

Relative Kontraindikationen für uteruserhaltende Maßnahmen sind:

  • ausgedehnte plazentare Implantationsstörung (Placenta increta/percreta), bei der das Implantationsbett der Plazenta eröffnet ist, therapieresistent blutet oder große Uteruswandanteile einnimmt.

  • nicht rekonstruierbare Uterusverletzung

  • septischer Uterus

Konsensbasierte Empfehlung 8.E25

Expertenkonsens

Konsensusstärke ++

Während der „Überbrückungszeiten“ ist eine (bimanuelle) Kompression der Aorta bis zu 20 Minuten möglich, um unnötige Blutverluste zu vermeiden [91], [92]. Wenn absehbar ist, dass die Blutung auch durch eine Hysterektomie oder nach bereits erfolgter Hysterektomie nicht unter Kontrolle zu bringen ist, sollte ein Packing des kleinen Beckens und des Abdomens mit angefeuchteten Bauchtüchern in ausreichender Menge erfolgen.



8.5  Arterielle Katheterembolisation

Konsensbasierte Empfehlung 8.E26

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Jede geburtshilfliche Abteilung sollte interdisziplinär abklären, ob und innerhalb welcher Zeit diese Methode im Klinikum zur Verfügung steht und dann entsprechende Organisationsstrukturen festlegen, zu welchem Zeitpunkt die Patientin in die interventionelle Radiologie verlegt wird. Voraussetzung ist eine hämodynamische stabile Patientin ohne massive Blutung.

Konsensbasierte Empfehlung 8.E27

Expertenkonsens

Konsensusstärke ++

Falls die Möglichkeit zur Katheterembolisation besteht, sollten die Radiologen frühzeitig (z. B. bei erfolgloser Blutstillung nach Uteruskompressionsnaht) verständigt werden. Aufgrund des Nebenwirkungsspektrums sollten die medikamentösen und operativen Therapieoptionen jedoch weitestgehend ausgeschöpft sein. Der Zeitpunkt der Verlegung wird auch dadurch definiert, wie relevant ein Organerhalt des Uterus ist.

Konsensbasierte Empfehlung 8.E28

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Vor Verlegung sollte im Falle einer vorausgegangenen Hysterektomie ein intraabdominelles Packing als Bridging-Maßnahme erwogen werden, um kritische Blutverluste während des Transportes oder während der z. T. langwierigen Intervention einzudämmen.

Konsensbasierte Empfehlung 8.E29

Expertenkonsens

Konsensusstärke ++

Bei planbaren Eingriffen (z. B. Placenta increta/percreta) kann die Einlage von endovaskulären Kathetern in die A. iliaca interna bds. bereits präoperativ erfolgen.

Die Katheterembolisation kann evtl. auch als Ultima Ratio bei persistierender diffuser Blutung im kleinen Becken nach bereits erfolgter postpartaler Hysterektomie durchgeführt werden [93].



9  Hämostase und Gerinnungsmanagement – Intensivmedizinische Maßnahmen

9.1  Hintergrund

Das Wissen um die wahrscheinlichste Pathophysiologie der Blutung ist wichtig, da sich hieraus Hinweise für unterschiedliche therapeutische Ansätze ableiten lassen. Die Schwierigkeit im hämostaseologischen Management liegt in der Problematik der Unterscheidung zwischen vermehrter Blutung aufgrund einer größeren Verletzung und einer protrahierten Blutung bei gleichzeitig veränderter Zusammensetzung des Blutes (sodass die normalerweise bestehende Kompensationsfähigkeit des Systems für kleinere Verletzungen aufgehoben ist, Störung des „Organsystems Gerinnung = Koagulopathie“). Unterschieden werden müssen somit:

  • die traumainduzierte Koagulopathie mit Schock und massiver Gewebeschädigung

  • die initial „traumatische“ Blutung aufgrund einer Gewebeschädigung und

  • die initial koagulopathische Blutung.

Eine gestörte Gerinnbarkeit (= Koagulopathie) ist häufig eine frühe Pathologie bei PPH, die vor einer dilutionsbedingten Störung auftreten kann [39], [94].

Konsensbasierte Empfehlung 9.E30

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Da die Resultate diagnostischer Maßnahmen zur Unterscheidung zwischen den verschiedenen Koagulopathien (z. B. kongenital vs. erworben) vor einer Behandlungsentscheidung aufgrund der resultierenden zeitlichen Verzögerung nicht abgewartet werden können, sollte im Regelfall (wenn anamnestisch keine kongenitale Koagulopathie bekannt ist) von einer peri- bzw. postpartalen Blutung mit erworbener Koagulopathie ausgegangen werden, es sei denn dass eindeutig eine chirurgische Ursache der Blutung identifiziert werden kann.

Wichtig ist dabei auch, die Erkenntnis zu berücksichtigen, dass jede primär mechanische Blutung, die mittels Volumenunterstützung und gefrorenem Frischplasma (GFP) behandelt wird, aufgrund des damit verbundenen Verdünnungseffektes und durch den Verbrauch von Gerinnungsfaktoren bei genügend langer Dauer auch zu einer koagulopathischen Blutung wird [95], [96], [97].

Konsensbasiertes Statement 9.S6

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Für alle Kliniken mit geburtshilflichen Abteilungen ist es daher unabdingbar, einen auf die jeweiligen Bedingungen der Klinik abgestimmten Behandlungsalgorithmus für die peri-/postpartale Blutung zu entwickeln [46], [98], [99], [100], [101], der die frühzeitige Identifizierung blutender Patientinnen und die integrative chirurgische, interventionelle und hämostaseologische Behandlung der Blutung zum Ziel hat. Dieser Algorithmus sollte das Vorgehen während des Behandlungsprozesses auf der Grundlage der klinischen Situation definieren und alle verfügbaren Behandlungsmöglichkeiten (pharmakologische Therapien, interventionelle Maßnahmen, chirurgische Eingriffe) berücksichtigen.


9.2  Optionen zur Behandlung peri-/postpartaler koagulopathischer Blutungen

Konsensbasiertes Statement 9.S7

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Grundsätzlich sollte bei aktiven Blutungen, wenn möglich, eine iatrogene Aggravation der Blutungsneigung z. B. durch die Gabe künstlicher kolloidaler Volumenersatzlösungen, die einen stärkeren, dilutionsbedingten koagulopathischen Effekt oder die Erzielung eines hochnormalen Blutdrucks haben, vermieden werden.

Konsensbasiertes Statement 9.S8

Expertenkonsens

Konsensusstärke ++

Die hämostaseologische Standardtherapie ist heutzutage die Komponenten-Therapie, sei es durch den Einsatz labiler (zelluläre Komponenten, GFP) oder stabiler (lyophilisierte Faktorkonzentrate) Blutprodukte, die frühzeitig zum Einsatz kommen sollten, um eine zusätzlich zum Verlust auftretende Verdünnungskoagulopathie zu vermeiden.

Hierbei kommt nach gegenwärtigem Wissensstand dem Fibrinogen eine wichtige Rolle zu, sodass bei anamnestisch bekannten peri-/postpartalen Blutungen und bei peripartal blutenden Patientinnen die Fibrinogenkonzentration (unabhängig von der Therapie) bestimmt werden sollte, da Konzentrationen < 2 g/l diejenigen Patientinnen identifizieren können, die ein erhöhtes Risiko für eine schwere PPH haben [39], [46].

Konsensbasierte Empfehlung 9.E31

Expertenkonsens

Konsensusstärke ++

Vor der Gabe von Fibrinogen (Faktorenkonzentrat oder GFP) sollte allerdings in jedem Fall eine möglicherweise parallel bestehende erhöhte fibrinolytische Aktivität durch die Gabe von Tranexamsäure (Antifibrinolytikum) behandelt werden [39].

Konsensbasiertes Statement 9.S9

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Vorteilhafte Effekte (reduzierter Blutverlust, reduzierte Transfusionsmenge, erhöhter Hb, geringere Anzahl an invasiven Maßnahmen) durch Anwendung von Tranexamsäure bei PPH wurden mittlerweile an rund 2000 Patientinnen in randomisiert, kontrollierten Studien nachgewiesen [102], [103], [104], [105], [106], [107], [108], [109], [110].

Die ESA spricht 2013 eine starke Empfehlung bei moderater Evidenz für die Anwendung von Tranexamsäure bei geburtshilflichen Blutungen aus, um den Blutverlust, die Blutungsdauer und die Anzahl der Transfusionen zu senken [46].

Zur Verwendung von DDAVP (Minirin®) in der Geburtshilfe gibt es keine zuverlässige Datenbasis, die eine evidenzbasierte Empfehlung erlauben würde [111], obgleich wiederholt Beobachtungen mit positivem Outcome berichtet wurden [112]. Gemäß ESA kann die Anwendung von DDAVP bei einer Thrombozytenfunktionsstörung infolge eines erworbenen Von-Willebrand-Syndroms (durch Medikamente, Azidose, Hypothermie) sinnvoll sein [46].

Konsensbasierte Empfehlung 9.E32

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Trotz der kontroversen Datenlage und obwohl prospektiv randomisierte Studien fehlen, kann ein 1- bis 2-maliger Behandlungsversuch mit rFVIIa als Ultima Ratio mit 90 µg/kgKG bei strenger Indikation unternommen werden, wenn die Patientinnen

  1. mit anderen Blutprodukten adäquat vorbehandelt worden sind,

  2. bei denen andere Methoden zur Blutstillung ungenügend wirksam waren und

  3. ihre Familienplanung noch nicht abgeschlossen haben, bevor eine Hysterektomie durchgeführt wird [39], [113], [114], [115], [116].

Rekombinanter FVIIa (NovoSeven®) sollte aufgrund des thrombembolischen Risikos nur als „Ultima Ratio“ gegeben werden [117]. Vor Gabe von rFVIIa sollten die plasmatischen Faktorkonzentrationen und die Thrombozytenzahl optimiert werden [46].

Konsensbasiertes Statement 9.S10

Expertenkonsens

Konsensusstärke ++

Zusammengefasst lassen die heute verfügbaren Daten zum hämostaseologischen Management den Schluss zu, dass

  • ein eskalierendes, d. h. aus schrittweise aufeinander folgenden Therapieoptionen bestehendes Behandlungskonzept an die jeweiligen Gegebenheiten eines jeden Krankenhauses angepasst werden soll [46], [99], [100],

  • die Gabe von Tranexamsäure früh, am besten unmittelbar nach Diagnosestellung erfolgen soll,

  • eine Stabilisierung der „Rahmenbedingungen der Gerinnung“ erfolgen soll, d. h. pH-Wert, Temperatur, Kalzium [46], [95],

  • mindestens bei fortbestehender Blutung die Diagnostik mittels viskoelastischer Verfahren oder konventioneller Gerinnungsdiagnostik angestrebt werden sollte,

  • bei substitutionspflichtiger Blutung (und allenfalls parallel zu anderen mechanischen Therapieformen) der Ersatz von Gerinnungsfaktoren mittels Faktorkonzentraten und/oder GFP frühzeitig erfolgen soll (insbesondere bei Vorliegen einer Verdünnungskoagulopathie den Einsatz von Fibrinogen in Betracht ziehen, im Übrigen auch von PPSB und F XIII),

  • bei Bedarf (d. h., wenn andere Maßnahmen nicht greifen) eine Optimierung der Thrombozytenzahl (Ziel bei transfusionspflichtigen Blutungen > 100 000/µl in Betracht zu ziehen ist [46].

Konsensbasierte Empfehlung 9.E33

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Nach Ende der zur Blutung führenden Pathologie ist innerhalb von 24 Stunden eine Thromboseprophylaxe erforderlich [39]. Aufgrund einer reduzierten Antithrombinaktivität (teilweise mit einer absoluten Aktivität unter 0,5 kIU/l) bei einer großen Anzahl von Frauen mit PPH ist nach Ende der Blutung mit einer erhöhten Gefährdung durch Thrombembolien zu rechnen [118]. Insbesondere nach Gabe von Gerinnungsfaktoreneinzelkonzentraten oder Komplexpräparaten (z. B. PPSB) kann dann auf der Intensivstation die Aktivität von Antithrombin bestimmt und ggf. substituiert werden [119]. Ein möglicher Zielwert liegt bei ≥ 80% bzw. ≥ 0,8 kIU/l [119], [120], [121].


9.3  Anästhesierelevante Punkte beim Management der PPH

Konsensbasierte Empfehlung 9.E34

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

  • Hämodynamische Stabilität und Normovolämie erhalten oder erreichen: Eine myokardiale Ischämie mit reduzierter Kontraktilität findet sich häufig bei Hb-Werten ≤ 6 g/dl (3,726 mmol/l) mit oder auch ohne hämodynamische Auffälligkeiten (RRsys < 90 mmHg und/oder RRdia < 50 mmHg und/oder HF ≥ 115/min) [122], [123].

  • Zeitgerechter Ruf nach kompetenter Hilfe: Bei nicht beherrschtem Blutverlust bei vaginaler Entbindung deutlich über 500 ml bzw. bei Sectio caesarea deutlich über 1000 ml empfohlen und ab einem Blutverlust von 1500 ml unabdingbar [29], [89], [95], [124].

  • Bei Regionalanästhesieverfahren (Spinalanästhesie, Periduralanästhesie): Bei einem Blutverlust ≥ 1500 – 2000 ml und anhaltenden Blutungszeichen: Sicherung der Atemwege bzw. des O2-Angebotes, ggf. in Rücksprache mit dem Operateur frühzeitige Intubation [125]. Bei bedrohten Schutzreflexen hat die endotracheale Intubation zur Atemwegssicherung und Sicherstellung der Sauerstoffversorgung Priorität.

  • Großlumige Zugänge (2 × ≥ 16 G), im Anschluss die arterielle Blutdruckmessung, ggf. auch vor der Intubation. Großzügige Indikationsstellung für großlumigen zentralen Zugang (≥ 9 Fr) [125], [126], [127], [128].

  • Cell-Saver (offizielle Empfehlungen von CMACE, NICE, OAA/AAGBI, ESA): Die Anwendung der maschinellen Autotransfusion bei einer elektiver Sectio caesarea (z. B. bei Placenta increta/percreta) kann die postoperative Fremdblutgabe und den Krankenhausaufenthalt reduzieren [129], [130]. Im Notfall der PPH sind folgende Caves zu beachten: Einsatz ggf. erst nach Fruchtwasserabsaugung und Kindsentwicklung.

    • Cell-Saver-Blut enthält keine Gerinnungsfaktoren oder Thrombozyten. Zur Vermeidung einer Koagulopathie bei hohen Transfusionsvolumina sollten Gerinnungsfaktoren substituiert werden [131].

    • Es wurden Hypotonien bei der Re-Transfusion von Cell-Saver-Blut unter Verwendung eines Leukozytenfilters beobachtet [132].

  • Zielwerte der hämodynamischen Therapie bei „gesunden“ Schwangeren und starker Blutung:

    • Nach Abnabelung „permissive Hypotension“ bis zur chirurgischen Blutstillung durch restriktive Volumengabe [133], [134].

    • „Normale Rekapillarisierungszeit“ oder „tastbarer Radialispuls“ als Zielgröße für Volumentherapie [135], [136]

    • Ziel: MAP > 65 mmHg, ggf. niedriger [137] bzw. RRsys ~ 90 mmHg [138].

    • Ziel-Hb: Indikation zu Bluttransfusionen bis zur chirurgischen Blutstillung 7 g/dl (4,347 mmol/l), nach chirurgischer Blutstillung und Beendigung der Pathologie 7 – 9 g/dl (4,347 – 5,589 mmol/l) [23], [134], [138]. Anmerkung: auf Station zusätzlich ausreichende Eisensubstitution.

  • Pharmakologische Thromboseprophylaxe spätestens 24 h, nachdem die zur Blutung führende Pathologie beendet ist [134].

Eskalierendes Schema der hämostaseologischen, therapeutischen Optionen der PPH (nach Empfehlungen aus der S3-Leitlinie 012/019 „Polytrauma/Schwerverletztenbehandlung“, der DGAI-Empfehlung zur Massivblutung und der ESA-Empfehlungen zur perioperativen Blutung) [100], [136].

1.

Stabilisierung der Rahmenbedingungen (Prophylaxe und Therapie!)

Kerntemperatur ≥ 34 °C (möglichst Normothermie)

pH-Wert ≥ 7,2

ionisierte Ca++-Konzentration > 0,9 mmol/l (möglichst Normokalzämie)

2.

Hemmung einer potenziellen (Hyper-)Fibrinolyse (mmer VOR Gabe von Fibrinogen und/oder GFP!)

Tranexamsäure (Cyklokapron®) initial 1 – 2 g (15 – 30 mg/kgKG), b. B. Wiederholung

3.

Substitution von Sauerstoffträgern

EK-Gabe

hämostaseologisches Ziel bei massiver Blutung: Hb ~ 7 – 9 g/dl (4,3 – 5,5 mmol/l) bzw. Hkt ~ 30%

4.

Substitution von Gerinnungsfaktoren (bei fortbestehender schwerer Blutungsneigung) und je nach Vorhaltung im Krankenhaus

GFP ≥ 20 (eher 30) ml/kgKG

oder/und

Fibrinogen (Haemocomplettan®) (2–)4(–8) g (30 – 60 mg/kgKG)

Ziel: ≥ 200 mg/dl bzw ≥ 2,0 g/l

Patienten, die Massivtransfusionen benötigen (werden) oder einen blutungsbedingten, lebensbedrohlichen Schock haben, können von einem hohen Verhältnis GFP : EK im Bereich von ≥1 : 2 oder der kombinierten Gabe von GFP und Faktorenkonzentraten profitieren.

ggf. PPSB initial 1000 – 2500 IE (25 IE/kgKG)

ggf.  1 – 2 × FXIII (Fibrogammin® P)1250 IE (15 – 20 IE/kgKG)

und (bei V. a. Thrombozytopathie) verstärkte Thrombozytenadhäsion an das Endothel + Freisetzung von „Von-Willebrand-Faktor“ und FVIII aus Endothel/Lebersinusoiden (→ Agonist für Vasopressinrezeptor Typ 2)

DDAVP = Desmopressin (Minirin®)

0,3 µg/kgKG über 30 Minuten („1 Ampulle pro 10 kgKG über 30 min“)

5.

Substitution von Thrombozyten für die primäre Hämostase

Thrombozytenkonzentrate (Ziel bei transfusionspflichtigen Blutungen: 100 000/µl)

6.

ggf. „Thrombinburst“ mit Thrombozyten- und Gerinnungsaktivierung („Rahmenbedingungen“ der Hämostase beachten!)

im Einzelfall und bei Erfolglosigkeit aller anderen Therapieoptionen

ggf. rFVIIa (NovoSeven®) initial 90 µg/kgKG

bei aktiver Blutung

während Blutung keinAntithrombin (ATIII), ggf. nach PPSB-Gabe und Blutungsende erwägen

während Blutung keinHeparin

Cave: Innerhalb von 24 Stunden nach Beendigung der zur Blutung führenden Pathologie ist eine Thromboseprophylaxe obligat!


9.4  Rotationsthrombelastometrie (ROTEM)/
Thrombelastografie (TEG)

Die durchschnittliche Dauer bis zur Vorlage des Ergebnisses im OP liegt für die Standardlaborparameter bei mindestens 45 Minuten [139]. Mit den sog. „viskoelastischen Tests (VET)“ lässt sich eine Störung der Gerinnung deutlich schneller feststellen [139], [140].

Derzeit stehen für die sog. „point of care (POC)“-Diagnostik, also die zeit- und patientennahe, bettseitige Erkennung von Gerinnungsstörungen, mittels VET 2 Methoden zur Verfügung: die Rotationsthromboelastometrie (ROTEM, Tem International GmbH, München) und die Thrombelastografie (TEG, Haemonetics, Braintree, MA, USA) [141].

Für den Einsatz dieser Verfahren bei der PPH liegen derzeit keine Klasse-1-Empfehlungen vor [46].



10  Transport

Konsensbasierte Empfehlung 10.E35

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Da der Transport einer kreislaufinstabilen Patientin ein großes Risiko darstellt, gilt es – abhängig von den organisatorischen Voraussetzungen der betreuenden Einheit – im Verlauf des Managements einer PPH den Transfer der kreislaufinstabilen Patientin zu überdenken (bzw. einen Transport erst nach Kreislaufstabilisierung in Erwägung zu ziehen). Hier gilt es, bereits im Vorfeld Vereinbarungen über den zeitlichen Ablauf und die personelle Absicherung des Transportes zwischen Zielkrankenhaus und transferierendem Krankenhaus zu treffen und schriftlich festzuhalten [142].


11  Überwachung nach PPH

Konsensbasierte Empfehlung 11.E36

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Nach einer PPH soll eine individuell dem Einzelfall angepasste adäquate Überwachung (mindestens 24 Stunden) durchgeführt werden.


12  Dokumentation

Konsensbasierte Empfehlung 12.E37

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Für jedes definierte Notfallereignis ist eine sorgfältige Dokumentation essenziell. Es empfiehlt sich, hierfür an die Organisationseinheit angepasste Formulare zu benutzen.


13  Nachbesprechung

Konsensbasierte Empfehlung 13.E38

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Eine interdisziplinäre Nachbesprechung im Team ist empfehlenswert (Debriefing).


14  Training

Konsensbasierte Empfehlung 14.E39

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Simulation von Blutungssituationen im interdisziplinären Team soll in regelmäßigen Abständen durchgeführt werden und hat in Studien eine Verbesserung des Managements bewiesen [35], [143].



Leitlinienprogramm

Herausgeber

Federführende Fachgesellschaften

Zoom

Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V. (DGGG)
Repräsentanz der DGGG und Fachgesellschaften
Hausvogteiplatz 12, DE-10117 Berlin
info@dggg.de
http://www.dggg.de/


Präsidentin der DGGG
Prof. Dr. Birgit Seelbach-Göbel
Universität Regensburg
Klinik für Geburtshilfe und Frauenheilkunde
St. Hedwig-Krankenhaus Barmherzige Brüder
Steinmetzstraße 1–3, DE-93049 Regensburg


DGGG-Leitlinienbeauftragter
Prof. Dr. med. Matthias W. Beckmann
Universitätsklinikum Erlangen, Frauenklinik
Universitätsstraße 21–23, DE-91054 Erlangen


Prof. Dr. med. Erich-Franz Solomayer
Universitätsklinikum des Saarlandes
Geburtshilfe und Reproduktionsmedizin
Kirrberger Straße, Gebäude 9, DE-66421 Homburg


Leitlinienkoordination
Dr. med. Paul Gaß, Christina Fuchs, Marion Gebhardt
Universitätsklinikum Erlangen, Frauenklinik
Universitätsstraße 21–23, DE-91054 Erlangen
fk-dggg-leitlinien@uk-erlangen.de
http://www.dggg.de/leitlinienstellungnahmen

Zoom

Österreichische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (OEGGG)
Innrain 66A/5. Stock, AT-6020 Innsbruck
stephanie.leutgeb@oeggg.at
http://www.oeggg.at


Präsidentin der OEGGG
Prof. Dr. med. Petra Kohlberger
Universitätsklinik für Frauenheilkunde Wien
Währinger Gürtel 18–20
AT-1180 Wien


OEGGG-Leitlinienbeauftragter
Prof. Dr. med. Karl Tamussino
Universitätsklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Graz
Auenbruggerplatz 14, AT-8036 Graz


Prof. Dr. med. Hanns Helmer
Universitätsklinik für Frauenheilkunde Wien
Währinger Gürtel 18–20, AT-1090 Wien

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Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (SGGG)
Gynécologie Suisse SGGG
Altenbergstraße 29, Postfach 6, CH-3000 Bern 8
sekretariat@sggg.ch
http://www.sggg.ch/


Präsident der SGGG
Dr. med. David Ehm
FMH für Geburtshilfe und Gynäkologie
Nägeligasse 13, CH-3011 Bern


SGGG-Leitlinienbeauftragter
Prof. Dr. med. Daniel Surbek
Universitätsklinik für Frauenheilkunde
Geburtshilfe und feto-maternale Medizin
Inselspital Bern
Effingerstraße 102, CH-3010 Bern


Prof. Dr. med. René Hornung
Kantonsspital St. Gallen, Frauenklinik
Rorschacher Straße 95
CH-9007 St. Gallen


Conflict of Interest/Interessenkonflikt

Almost all of the authors give talks on the topic of PPH at conferences and company-sponsored meetings./
Nahezu alle Autoren referieren über das Thema PPH im Rahmen von Kongressen und firmenunterstützten Meetings.


Correspondence/Korrespondenzadresse

PD Dr. med. Dietmar Schlembach
Klinik für Geburtsmedizin
Vivantes Klinikum Neukölln, Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH
Rudower Straße 48
12351 Berlin
Germany   


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