Schlüsselwörter
pädiatrisches Emergence Delir - Aufwachraum - Pädiatrie - Kinderanästhesie - Risikostratifizierung
Key words
emergence delirium - risk stratification - pathophysiology - pediatric anaesthesia
- recovery room
(Quelle: KH Krauskopf.)
Abkürzungen
ED I/II:
ED I: Delirkriterien ED II: Agitationskriterien
EMLA:
Eutectic Mixture of local Anaesthetic
KUSS:
kindliche Unbehagens- und Schmerzskala
NIRS:
Near-InfraRed Spectroscopy
pädED:
pädiatrisches Emergence-Delir
PAED Scale:
Pediatric-Anaesthesia-Emergence- Delirium-Skala
PBS:
Preoperative Behavior Score
PHBQ:
Post-Hospitalisation Behaviour Change Questionnaire
PRIS:
Propofol-Infusionssyndrom
TIVA:
totale intravenöse Anästhesie
VAS:
visuelle Analogskala
WAKKA:
Wissenschaftlicher Arbeitskreis Kinderanästhesie
Einleitung
Ein pädiatrisches Emergence-Delir (pädED) nach Sedierung oder Allgemeinanästhesie
ist kein seltenes Ereignis. Beschriebene Häufigkeiten reichen bis zu 80%. Das Auftreten
eines pädED wird seit 1961 in der Literatur erwähnt [1]. Seit 2003 haben die tierexperimentellen Beobachtungen von Jevtovic-Todorovic eine
fortlaufende Diskussion um Neurotoxizität im Säuglings- und Kindesalter angestoßen
[2], [3], [4], [5]. Inwieweit es einen Zusammenhang zwischen Neurotoxizität in Tierexperimenten, der
bislang nicht in Untersuchungen an Kindern nachgewiesen wurde, und einem pädED gibt,
ist unklar.
Bekannt sind postoperative Verhaltensänderungen von Kindern nach Sedierungen/Allgemeinanästhesien
mit und ohne Krankenhausaufenthalt. Diese Verhaltensänderungen sind z. B. mit dem
Post-Hospitalisation Behaviour Change Questionnaire (PHBQ) [6] abfragbar.
Symptomatik des pädiatrischen Emergence-Delirs
Symptomatik des pädiatrischen Emergence-Delirs
Definition
Pädiatrisches Emergence-Delir (pädED)
Definitionsgemäß handelt es sich beim pädED um eine akute Störung von Bewusstsein
und Aufmerksamkeit. Jedes Delir stellt ein Organversagen dar. Ein pädED betrifft direkt
das Zielorgan jeder Sedierung oder Allgemeinanästhesie [7].
Um den Schweregrad des pädED zu quantifizieren, haben Sikich und Kollegen in ihrer
Studie eine Skala (Pediatric Anaesthesia Emergence Delirium: PAED-Scale) von 0 – 20
entwickelt ([Tab. 1]) und diese an 50 postoperativen pädiatrischen Patienten evaluiert. Für die PAED-Skala
ergab sich bei einem Wert von ≥ 10 eine Sensitivität für das Vorhandensein eines Delirs
von 64%. „Ruhelosigkeit“ und „Untröstbarkeit“ führen auf der Skala schmerzbedingt
jedoch zu falsch positiven Ergebnissen.
Tab. 1 PAED-Skala aufgeteilt anhand Delir- und Agitationskriterien. Die Delirkriterien entsprechen
dem ED-I-Score nach Locatelli [7]. ED: Emergence-Delir.
|
Das Kind …
|
gar nicht
|
ein wenig
|
etwas mehr
|
viel
|
sehr viel
|
Delirkriterien (ED-I-Score)
|
… hält Augenkontakt zur Bezugsperson.
|
4
|
3
|
2
|
1
|
0
|
… zeigt zielgerichtete Bewegungen.
|
4
|
3
|
2
|
1
|
0
|
… nimmt seine Umwelt wahr.
|
4
|
3
|
2
|
1
|
0
|
Agitationskriterien (ED-II-Score)
|
… ist unruhig/ruhelos.
|
0
|
1
|
2
|
3
|
4
|
… ist untröstlich.
|
0
|
1
|
2
|
3
|
4
|
Wie lassen sich Schmerzen von einem pädED unterscheiden?
Merke
Entscheidend für die Diagnose eines pädED sind die fehlende Kontaktierbarkeit und
die fehlende Wahrnehmung der Umgebung ([Tab. 1]).
Die Autoren um Locatelli haben daher in ihrer Veröffentlichung vorgeschlagen, lediglich
die ersten 3 „Items“ der PAED-Skala zu berücksichtigen (= ED I). Bei Werten ≥ 9 dieses
ED-I-Scores kamen die Autoren in der Beurteilung eines postoperativen Delirs auf eine
Sensitivität von 93% und eine Spezifität von 94%.
Im Sinne einer effektiven Qualitätskontrolle soll die Inzidenz des pädED im Aufwachraum
anhand einer validierten Skala (beispielsweise PAED oder ED I) dokumentiert werden
[7]. Schmerzen führen zu einem erheblichen Einfluss auf die Delirscores. Schmerzen müssen
vor der Diagnose eines pädED ausgeschlossen werden. Deshalb muss gleichzeitig ein
pädiatrischer Schmerzscore (Kindliche Unbehagens- und Schmerzskala [KUSS] oder für
ältere Kinder anhand der visuellen Analogskala [VAS]) im Aufwachraum erhoben werden.
Bei einem ausgeprägtem Delir findet auch bei älteren Kindern nur eine Fremdbeurteilung
z. B. anhand der KUS-Skala statt. Lässt sich bei einem tobenden Kind und einem postoperativ
potentiell schmerzhaften Eingriff kein Score erheben, ist die probatorische Analgetikagabe
gerechtfertigt.
Wichtig für die Definition eines pädED sind die Bezugspersonen, meist die Eltern.
Sie können sehr klar und spontan beurteilen „das ist nicht typisch für mein Kind“
bzw. nach einem stattgehabten pädED „das ist jetzt wieder mein Kind“. Diese Beurteilung
kommt spontan und regelhaft in fast identischem Wortlaut. Bislang findet sich diese
Beurteilung nicht in den Delirscores, hilft in der Praxis aber enorm bei der Differenzialdiagnose
zwischen Schmerzen/Agitation und einem pädED.
Es gibt seltene weitere Differenzialdiagnosen eines pädED. Neben einer antibiotikainduzierten
Psychose, die sich aufgrund der perioperativen Antibiotikaprophylaxe zeitgleich manifestieren
kann [8], zählen hierzu langanhaltende Dystonien [9] sowie eine ausgeprägte retrograde Amnesie mit Verhaltensauffälligkeit nach Propofol
[10].
Pathophysiologie und Diagnostik
Pathophysiologie und Diagnostik
Der zugrunde liegende Pathomechanismus des pädED bleibt unklar. Hypothesen, die sich
aus klinischen Alltagsbeobachtungen ergeben, sind nicht endgültig überprüft.
Interessanterweise steigerten sich mit Einführung von Sevofluran weltweit die Beschreibungen
des pädED. Inzwischen zeigte sich, dass volatile Anästhetika insgesamt das Risiko
für das Auftreten eines pädED erhöhen. Insbesondere steigern schnell an- und abflutende
volatile Anästhetika mit dem raschen Erwachen nach Ende der Applikation die Inzidenz
eines pädED [1] ([Abb. 1]).
Abb. 1 Zusammenhang zwischen dem Blut/Gas-Verteilungskoeffizient volatiler Anästhetika und
der Inzidenz eines pädiatrischen Emergence-Delirs (pädED) [11].
Im Gegensatz zu den volatilen Anästhetika senkt die Anwendung von Propofol die Inzidenz
eines pädED. Sowohl ein Propofol-Bolus zur Ausleitung, eine Umstellung auf eine Propofol-Kurzinfusion
von 3 mg/kgKG über 3 min sowie eine TIVA reduzieren die Inzidenz eines pädED [1]. Eine kurze zeitlich limitierte Propofol-Anwendung im Rahmen einer TIVA nach dem
Anwendungsmodell von Short erscheint für Kinder als sicher.
Propofol-Infusionssyndrom
Cave
Zu den häufigen Nebenwirkungen von Propofol während eines operativen Eingriffs bis
zu 60 min gehören der reversible Anstieg sowohl der Triglyzeride und Plasmalipide
als auch der bauspeicheldrüsenspezifischen Enzyme.
Bei einer Kurzzeitapplikation von Propofol über 40 min und einer Dosis von durchschnittlich
8,2 mg/kgKG traten keine relevanten Laktatspiegel bei Kindern auf [12]. Das Risiko eines PRIS bei kurzdauernden Kinderanästhesien z. B. bei HNO-Eingriffen
scheint gering.
Praxis
Tipp
Die Gabe eines prohylaktischen Propofol-Bolus zur Ausleitung oder auch im Rahmen der
Therapie eines pädED im Aufwachraum deckt sich mit der klinischen Beobachtung, einen
„Reset-Button“ zu drücken und damit ein erneutes, aber ruhiges, entspanntes Aufwachen
des Kindes zu ermöglichen.
Elektroenzephalografische Überwachung
Die Untersuchungen von Martin u. Mitarbeitern zur Desynchronisation des frontalen
EEG könnten dazu kongruent sein. Sie zeigten, dass ein pädED mit Erwachen aus einem
tiefen unbestimmten EEG-Stadium vor dem Einsetzen eines schlafähnlichen EEG einhergeht.
Dies deckt sich mit der klinischen Beobachtung von erneutem Propofol-induziertem Schlaf
mit ruhigem Erwachen im Gegensatz zum plötzlichen abrupten Erwachen ins pädED hinein.
In der Untersuchung von Martin et al. wurde direkt nach dem Ende der Sevofluran-Zufuhr
bei späterem pädED eine erhöhte Aktivität im Frontallappen beobachtet [1]. Die EEG-Überwachung jeder Kindernarkose ist noch nicht klinische Routine. In der
Klinik der Autoren erfolgt eine einfache Überwachung des Roh-EEG jenseits kalkulierter
Indizes. Die Überwachung ist auch für Säuglinge nutzbar und nach Training einfach
nutzbar.
Abb. 2 Ergebnisse der Umfrage zur Therapie des pädiatrischen Emergence-Delirs in Deutschland
[7].
Allein die Option einer Überwachung des Zielorgans Gehirn steigert die Aufmerksamkeit
des Anästhesisten für die kritischen Bereiche Hirnaktivität/pädED/Neurotoxizität.
Die verwendeten Medikamente werden während der Narkoseführung in der Dosis re-evaluiert
und entsprechend angepasst. Dies führt zu einer verstärkten ständigen kritischen Kontrolle
der Narkoseführung und Aufrechterhaltung der kindlichen Homöostase.
Fallbeispiel
Fortsetzung: Deeskalation und erneute Sedierung
Die zutiefst beunruhigten Eltern des eingangs beschriebenen tobenden Kleinkinds machen
sich Vorwürfe, der präoperativen oralen Gabe von Midazolam zugestimmt und nicht auf
ihre Anwesenheit bei der Einleitung bestanden zu haben. Um schnell zu deeskalieren
und dem Kind weiteren Stress zu ersparen, unterstützen die Eltern die nasale Sedierung.
Nach nasaler Applikation von Clonidin und Esketamin wird das Kind in stabiler Seitenlage
mit re-etabliertem Monitoring für einen ruhigeren Aufwachversuch zurück ins Bett gelegt.
Für eine eventuelle erneute Anlage eines i. v. Zugangs werden an den Füßen EMLA-Pflaster
geklebt und unter den Socken versteckt.
Nahinfrarot-Spektroskopie
Die Nahinfrarot-Spektroskopie (NIRS) als weiteres nichtinvasives Monitoring unterstützt
insbesondere im Bereich der Kinderkardioanästhesie und der anästhesiologischen Versorgung
von Kindern mit angeborenen Herzfehlern das anästhesiologische Management und misst
laut Herstellerangaben die hirnvenöse Sauerstoffsättigung. NIRS-Veränderungen werden
u. a. bei Änderungen des Blutdrucks und damit der zerebralen Homöostase beobachtet.
NIRS in Zusammenhang mit pädED wurde bislang noch nicht in randomisierten kontrollierten
Studien untersucht.
Prävention
Spannend bleibt die Frage nach der Identifikation gefährdeter Kinder. Die Identifikation
von Risikofaktoren könnte hilfreich sein, um regelhaft eine Risikoreduktion zu erzielen.
Risikofaktoren, Risikoreduktion
Angst
Präoperative Angst ist als Risikofaktor für ein pädED beschrieben. Es gibt den Versuch
eine Risikoabschätzung für ein pädED anhand von präoperativer Angst und evtl weiteren
Risikofaktoren zu entwickeln [13], [14]. Die von Hino und Mitarbeitern [14] entwickelte Risikoskala ([Tab. 2]) ermöglicht mit 90% Sensitivität eine Vorhersage zum pädED bei etwa 60% der untersuchten
Patienten. Dies bietet eine Möglichkeit der Risikoabschätzung, die bislang nicht im
Klinikalltag etabliert ist.
Tab. 2 Risikoscore für die Entwicklung eines pädiatrischen Emergence-Delirs [14].
Parameter
|
|
Score-Wert
|
PBS: Preoperative Behavior Score
|
Alter
|
|
9 minus Alter
|
Art des Eingriffs
|
Strabismus-OP
|
7
|
Tonsillektomie
|
7
|
andere OP
|
0
|
PBS
|
schreiend
|
4
|
weinerlich/ängstlich, dabei aber zugänglich
|
2
|
ruhig
|
0
|
Anästhesiedauer
|
> 2 h
|
4
|
1 – 2 h
|
2
|
< 1 h
|
0
|
Total
|
ED Risikoscore: …
|
Auswertung
|
ES Risikoscore > 11: pädED sehr wahrscheinlich
|
|
Alter
Kleinkinder und Vorschulkinder sind am häufigsten von einem pädED betroffen. Im Gegensatz
zu Erwachsenen und Schulkindern ist es Kindern in diesem Alter im Rahmen ihrer emotionalen
Entwicklung nicht möglich, Stress (bedingt durch Nüchternheit, fremde Umgebung, Trennung
von den Eltern und anderen äußeren Einflüssen) zu kompensieren. Die niedrigere Frustrationstoleranz
in diesem Alter führt eventuell zu der erhöhten Inzidenz eines pädED bei Kindern im
Vorschulalter [7]. Eltern kennen diese Beobachtung aus dem Alltag: Fehlt das Lieblingskuscheltier
zum richtigen Zeitpunkt, kann sich schnell ein ausgeprägtes Drama entwickeln! Perioperativ
fehlende Eltern/Bezugspersonen können schnell zu ausgeprägten Angstreaktionen führen.
ADVANCE
Zusammen mit der Risikoabschätzung stellt sich die Frage nach der Prävention eines
pädED. Im Rahmen des ADVANCE-Studienprotokolls wurde die gesamte Familie intensiv
auf den OP-Tag vorbereitet und die Eltern gezielt in unterstützender Kommunikation
geschult (s. Infobox). Mit ADVANCE zeigte sich eine deutliche Reduktion des pädED.
Übersicht
ADVANCE
ADVANCE steht als Akronym für
-
Anxiety Reduction (Angstreduktion)
-
Distraction (Ablenkung)
-
Video Modeling und Education (zusätzliche Aufklärung mittels Videomaterial)
-
Adding Parents (Elternanwesenheit in der Einleitungsphase sowie direkt postoperativ)
-
No excessive Reassurance (Vorschläge an die Eltern zur verbalen Unterstützung)
-
Coaching
-
Exposure/Shaping (Training der Maskeneinleitung)
Außerhalb von Studienprotokollen scheint das Vorgehen aufgrund fehlender Ressourcen
nicht durchführbar. Jegliche intensive Beschäftigung mit dem Kind (Singen/Musik, Clown-Doktoren,
I-Phones/Tablets, 3-D-Videos) und damit verbunden empathische menschliche Anteilnahme
und Unterstützung in einer neuen Situation reduziert die Angst. Reduzierte präoperative
Angst geht in allen Untersuchungen mit einer reduzierten Inzidenz eines pädED einher
[1].
Für Elternanwesenheit bei der Einleitung gilt genau wie im ADVANCE-Protokoll: Angstreduktion
hilft, die Inzidenz eines pädED zuverringern. Deshalb sollten das Kind und seine Familie
intensiv auf den OP‑Tag vorbereitet werden.
Merke
Durch gute Vorbereitung von Kind und Familie kann die Angst reduziert und die Inzidenz
eines pädED verringert werden.
Vielfach wünschen sich Eltern, ihre Kinder bis in die Einleitungsphase zu begleiten.
Der Vorteil für die Kinder hängt stark von der Vorbereitung der Eltern ab.
Propofol
Praxis
Tipp
Eine praxistaugliche Variante stellt z. B. bei gut geklebten EMLA-Pflastern und problemloser
Anlage eines i. v. Zugangs die Propofolsedierung in Anwesenheit der Eltern oder die
nasale Sedierung mit Ketanest Esketamin/Clonidin dar [1].
Midazolam
Auch durch Midazolam medikamentös reduzierte Angst senkt die Inzidenz eines pädED.
Gleichzeitig stehen Benzodiazepine im Verdacht, potenziell delirogen zu sein. Dies
spiegelt sich in den Untersuchungsergebnissen wider. Immer, wenn mit Midazolam in
ausreichender Dosierung die präoperative Angst der Kinder gemindert wurde, sinkt die
Inzidenz eines pädED. Ist der Eingriff aber sehr kurz, d. h. kürzer als die Wirkdauer
des Midazolams, steht nicht die Angstreduktion, sondern die Induktion eines pädED
im Vordergrund. Dementsprechend gibt es Fallberichte zu einer erfolgreichen pädED-Therapie
durch den Antagonisten Flumazenil [7].
Cave
Die nasale Gabe von Midazolam brennt! Bei einem pädED steigert dies eventuell das
Drama im Aufwachraum! Sollte das Kind während der nasalen Applikation abrupt den Kopf
wegdrehen, kann zusätzliches Nasenbluten auftreten.
Familiäre Besonderheiten beim Abbaumuster
Genetische Polymorphismen und ihr Einfluss auf im anästhesiologischen Alltag häufig
verwendete Medikamente finden bislang wenig Beachtung. Diese betreffen vielfach auch
das CYP3A4-Isoenzym mit Folgen für die Verstoffwechslung verschiedenster Anästhetika
und Analgetika. Für das pädED wichtig sind u. a. Midazolam respektive der Antagonist
Flumazenil. Bei Erhebung der anästhesiologischen Familienanamnese, wie es sich im
Speziellen für eine Kinderanästhesie und die erste Alllgemeinanästhesie im Leben empfiehlt,
können wegweisende Befunde erhoben werden: „Nach drei Tagen ist die Narkose erst wieder
abgeklungen“, „bei mir wirkt Dormicum nicht“ u. Ä. [15]. Diese unterschiedlichen Abbaumuster können die erfolgreiche Anwendung bei Flumazenil
beim pädED miterklären.
α2-Agonisten
Ein anderer erfolgreicher Weg der Prophylaxe besteht in der Anwendung von α2-Agonisten. Clonidin sowie als weiterer Vertreter der α2-Agonisten Dexmedetomidin führen unabhängig vom Applikationsweg zu einer signifikanten
Reduktion des pädED [1]. Ob Dexmedetomidin auch zu einer Reduktion von postoperativen negativen Verhaltensänderungen
(PHBC), wie z. B. Albträumen nach Krankenhausaufenthalt, führt, ist Gegenstand einer
anlaufenden Untersuchung in Australien [6].
Zerebrale Homöostase
Eine weitere Hypothese zur Pathophysiologie des pädED bezieht sich auf Veränderungen
der zerebralen kindlichen Homöostase. Diese Veränderungen können z. B. im Rahmen von
Infektionen/Sepsis, Blutdruckschwankungen oder einer katabolen Stoffwechsellage auftreten.
Das kindliche Delir auf Intensivstationen hat einen Bezug zu Infektionen. Für das
pädED gibt es den Nachweis dieses Zusammenhangs bislang nicht. Das pädED wird eher
bei jungen gesunden Kindern beschrieben. Gleichzeitig sind Kinder für HNO-Eingriffe
eine Risikogruppe für das pädED [7]. Diese Kinder leiden vielfach unter Dauerinfekten.
Veränderungen der zerebralen Homöostase treten auch im Rahmen langer Nüchternzeiten
auf [16], [17]. Diese katabole Stoffwechsellage könnte ein pädED triggern. Richtungsweisende Untersuchungsergebnisse
stehen aus. Manche pädiatrische anästhesiologische Zentren haben ihre Nüchternzeiten
(„trinken bis Abruf in den OP“) für Kinder geändert [18]. Sollte die Inzidenz des pädED an diesen Zentren sinken, wäre das ein weiterer Anhaltspunkt,
um den Einfluss der zerebralen Homöostase auf die Entwicklung eines pädED zu prüfen.
Praxis
Tipp
Auf jeden Fall sollten die Nüchternzeiten für das Trinken klarer Flüssigkeit vor dem
Anästhesie-/Sedierungsbeginn kurz gehalten und organisatorisch auf kurze Nüchternzeiten
geachtet werden [16].
Eine Aufklärung der Eltern/Bezugspersonen über die Möglichkeit eines pädED erfolgt
oft nicht im Rahmen des Anästhesieaufklärungsgesprächs. Bei Kindern mit erhöhtem Risiko
ist es nach Ansicht der Verfasser notwendig, dass Eltern informiert und über mögliche
Therapiemaßnahmen aufgeklärt werden. Grundsätzlich sollten die Eltern über die Möglichkeit
des Auftretens postoperativer Verhaltensveränderungen informiert und gleichzeitig
darauf hingewiesen werden, dass diese grundsätzlich keine bekannten negativen Folgen
haben.
Praxis
Tipp
Die Eltern sollten Geschwisterkinder ggf. auf postoperative Verhaltensänderungen des
Patienten vorbereiten.
Therapeutisches Vorgehen
Für die Therapie des pädED sollten zuerst immer die in der Übersicht genannten Basismaßnahmen
durchgeführt werden. Danach erfolgen dann die rasche medikamentöse Therapie zur Stressreduktion
des Kindes und die aufklärende Beruhigung der gesamten Familie.
Therapie
Basismaßnahmen zur Behandlung eines pädiatrischen Emergence-Delirs
-
gute Analgesie
-
Ruhige Aufwachumgebung und Anwesenheit der Eltern
-
falls möglich Getränke und/oder kleine Schnacks anbieten
-
vor greller Sonne/Licht abschirmen
-
Überhitzung vermeiden
Das klinisch angenommene pädED sollte mit einer Skala quantifiziert werden [1]. Hierzu kann z. B. die PAED-Skala in Zusammenhang mit der KUSS-Skala dienen, um
Schmerzen als Ursache für das pädED abschätzen zu können. Bei einem deliranten Kind
findet nur eine Fremdbeurteilung Anwendung. Kann eine schmerzbedingte Ursache nicht
ausgeschlossen werden, können nach Ausschöpfung der nichtmedikamentösen Maßnahmen
unter pulsoxymetrischer Kontrolle i. v. Opioide zum Einsatz kommen.
Wenn eine Fremd- oder Eigengefährdung besteht, hat sich der Einsatz von i. v. Anästhetika
bewährt. Hierbei kann die Gabe von Propofol in einer Dosierung von 0,5 – 1 mg/kgKG
unter pulsoxymetrischer Kontrolle und Beatmungsbereitschaft Anwendung finden. Alternativ
kann auch die Gabe von Clonidin in einer Dosierung von 2 µg/kgKG oder die Gabe von
0,5 – 1 mg/kg/KG Esketamin erfolgen.
Der Wissenschaftliche Arbeitskreis Kinderanästhesie (WAKKA) eruierte in einer deutschlandweiten
Umfrage unter Kinderanästhesisten die präferierte Therapieoption. Die höchste Zufriedenheit
unter den Kinderanästhesisten hinsichtlich der Wirkung einer medikamentösen Therapie
wurde Propofol zugeordnet ([Abb. 3]) [7].
Abb. 3 Prophylaxe des pädiatrischen Emergence-Delirs im europäischen Vergleich [19]. APAGBI: Association of Paediatric Anaesthetists of Great Britain and Ireland; SIAATIP:
Italian Paediatric Society of Anaesthesia, Analgesia and Intensive Care.
Interessanterweise konnten Almenrader und Kollegen unterschiedliche Herangehensweise
zu Prophylaxe und Therapie des pädED innerhalb Europas zeigen ([Abb. 4]). Verglichen wurden Prophylaxe und Therapieregime zwischen Großbritannien und Italien.
Anders als in Deutschland bevorzugten die italienischen Kollegen Midazolam zur Prophylaxe
und Therapie. In Großbritannien fanden weniger Medikamente als vielfach Eltern bzw.
der Faktor Zeit bei üblicherweise 1 : 1-Betreuung im Kinderaufwachraum Anwendung [19].
Abb. 4 Therapie des pädiatrischen Emergence-Delir (pädED) im europäischen Vergleich [19].
Den Anwendungsbeobachtungen zur Therapie des pädED folgten bislang keine randomisiert-kontrollierten
Studien. Eine Studie untersuchte den therapeutischen Effekt von Physostigmin im Vergleich
zu Placebo, ohne einen klaren Vorteil für Physostigmin erkennen zu können [7].
Ein langanhaltendes Delir mit wiederholten Episoden trotz medikamentöser Therapie
spricht eventuell auf Antipsychotika an. Risperidon als Antagonist am 5 HT3-, D2-, α1- und α2-Rezeptor und Histaminantagonist erwies sich im Fallbericht als erfolgreiche antipsychotische
Rescue-Therapie eines langanhaltenden pädED [20].
Fazit
Der zugrunde liegende Pathomechanismus des pädED ist weiterhin unklar. Hypothesen,
die sich aus klinischen Alltagsbeobachtungen ergeben, sind nicht endgültig überprüft.
Fallbeispiel
Fortsetzung: Gespräch mit Eltern
Nachdem im Aufwachraum jetzt wieder Ruhe herrscht, wird mit den Eltern ausführlich
gesprochen. Für die Eltern ist wichtig zu wissen, ob diese Episode negative Folgen
für ihr Kind haben könnte. Außerdem bedeutsam: Wird sich das Kind an diese Situation
erinnern? Und weiß man, ob das Delir bei der nächsten Narkose wieder auftreten wird?
Nach dem aktuellen Wissensstand sind direkte negative Folgen unwahrscheinlich. Nach
einer Krankenhausbehandlung kann es immer mal wieder Kinder mit Problemen, wie z. B.
erneutes Bettnässen, gesteigerter Aggressivität oder Angst, geben. Größere Kinder
berichten eventuell spontan vom pädED.
Wichtig für die Eltern ist, dass sie den Erzählungen der Kinder, ihren Albträumen
unbedingt zuhören sollten. Für das Kind war der Albtraum real und oft angstbesetzt.
Unbedingt sollte man eine stattgehabte pädED-Episode für die nächste Narkose mitangeben.
Mit dieser Information können alle bekannten evidenzbasierten Prophylaxestrategien
ergriffen werden.
Jetzt sind die drängendsten Fragen der Eltern geklärt. Bieten Sie im Gespräch Getränke
an und ermöglichen Sie den Eltern ggf. abwechselnd eine Pause außerhalb des Aufwachraums.
Eltern sind nach einem pädED des Kindes meist erschöpft und dankbar für Unterstützung.
Rezidivprophylaxe
Merke
Kinder und deren Familien, welche die Erfahrung eines pädED gemacht haben, berichten
bei erneut notwendiger Narkose nicht unbedingt spontan von dieser Erfahrung. Es sollte
daher gezielt danach gefragt werden.
Ältere Kinder können, falls sie sich erinnern, von einem früher durchgemachten pädED
berichten. Diese Berichte ähneln sich in Bezug auf „Angst/Angst zu sterben/Angst zu
ersticken“, oder „Wut“. Die Kinder beschreiben dies eventuell als Albtraum. Insgesamt
ist es eine Erinnerung an eine stark negative, emotionale Situation.
Kinder und Familien haben die Erfahrung eventuell einfach als Teil der perioperativen
Prozedur abgespeichert und gehen davon aus, dass es genauso wieder geschehen wird.
Es gibt aktuell keine Forschungsergebnisse zur Rezidivhäufigkeit eines pädED. Vielfach
sind die ehemals kleinen Kinder, die das pädED erlitten, bis zur nächsten notwendigen
anästhesiologischen Versorgung älter geworden. Ein Teil der Kinder hat aber nur einen
kurzen Abstand zum pädED, u. a. bei Metallentfernung nach Frakturstabilisierung, sequenzielle
Narkosen aufgrund einer Leukämie mit Diagnostik, Probenentnahmen oder der Anlage eines
zentralvenösen Katheters.
Es empfiehlt sich, eine Rezidivprophylaxe im Rahmen der Möglichkeiten anzustreben.
Dabei zählt jede mögliche Stellschraube:
-
Kann die präoperative Angst weiter gemindert werden?
-
Ist eine Anpassung des Anästhesieregimes, z. B. über zusätzliche Regionalanästhesie
oder Zusatz von α2-Agonisten, möglich?
-
Ist die Analgesie postoperativ verbesserbar?
-
Können die Kinder ihr Lieblingskuscheltier oder Spielzeug mitbringen?
-
Dürfen Eltern beruhigende Musik – natürlich mit Kopfhörern – mitbringen?
Nach einem ausgeprägtem pädED gibt es außer auf dem Anästhesieprotokoll nur die Möglichkeit
der Dokumentation im Entlassungsbrief des Kindes. Dieser Entlassungsbrief kann gemeinsam
mit den chirurgischen Kollegen geschrieben werden oder als separater Entlassungsbrief
der anästhesiologischen Klinik erstellt werden. Wichtig für die Rezidivprophylaxe
des pädED ist die Erfassung des präoperativen Status, der intraoperative Verlauf inklusive
Volumenstatus und die postoperative Behandlung des pädED im Aufwachraum.
Forschung zur Entwicklung eines pädED im normalstationären Bereich jenseits des anästhesiologisch
betreuten Aufwachraums und der Intensivstation [21] fehlen. Anekdotische Fallberichte zum pädED nach pädiatrischen Sedierungen existieren.
Kernaussagen
-
Das pädiatrische Emergence-Delir (pädED) rückt aufgrund der Debatte um Neurotoxizität
von Anästhetika bei kleinen Kindern erneut in den Fokus. Die 2017 von der Europäischen
Gesellschaft für Anästhesiologie publizierte Leitlinie zu Prävention und Therapie
kann eine sinnvolle Unterstützung der klinischen Tätigkeit sein.
-
Insbesondere die zügige und konsequente Behandlung von Schmerzen bei kleinen Kindern
und die konsequente Diagnose eines pädED mittels validierter Skalen ermöglicht es
– dank der Verbreitung von Patient-Data-Management-Systemen –, in Zukunft eine reelle
Inzidenz des pädEDs anzugeben.
-
In der Prävention des pädED liegt der Schwerpunkt auf der Reduktion der präoperativen
Angst der Kinder, egal, ob dies durch ein auf das Kind fokussiertes Kinderanästhesieteam
zusammen mit den Eltern, Musik, Clowns, Smartphones/Tablets oder eine medikamentöse
Prämedikation erzielt wird.
-
Medikamentöse pädED-Prophylaxe durch perioperative Anwendung von α2-Agonisten und die Verwendung von Propofol als Ausleitungsbolus oder TIVA erscheint
gleichzeitig sinnvoll.
-
Postoperativ ermöglicht eine ruhige Aufwachumgebung ein entspanntes delirfreies Aufwachen.
-
Postanästhesiologische Visiten mit strukturiertem Erfassen von Veränderungen des kindlichen
Verhaltens respektive schriftliche Fragebögen werden in Zukunft Auskunft über das
pädED auf den Normalstationen geben. Durch strukturierte Nachbefragungen im weiteren
Verlauf werden auch postoperative unerwünschte Verhaltensänderungen und deren möglicher
Zusammenhang mit dem pädED erfasst werden können.
-
Die 2017 von der Europäischen Gesellschaft für Anästhesiologie (ESA) publizierte Leitlinie
zu Prävention und Therapie kann eine sinnvolle Unterstützung der klinischen Tätigkeit
sein.
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen für diesen Beitrag
ist Dr. med. Sylvia Kramer, Berlin.