PiD - Psychotherapie im Dialog 2018; 19(02): 13-14
DOI: 10.1055/a-0556-1367
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Allgegenwärtig – im Leben und in Therapien

Henning Schauenburg
,
Bettina Wilms
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Publication History

Publication Date:
04 June 2018 (online)

Dieses Heft hat ein ungewöhnliches Thema, das andererseits jeden von uns seit Urzeiten bewegt: das Phänomen des „Bösen im Menschen“. Dieses Thema beschäftigt auch uns Therapeuten. Wir erleben unseren beruflichen Alltag – Gott sei Dank – meist so, dass wir gegenüber unseren Patienten Fürsorge und Verständnis angesichts von Entbehrungen und psychischem Leid verspüren. „Böses“ sehen wir eher in den Schilderungen unserer Patienten als Opfer und, bei psychoanalytischer Sozialisation, in den vermuteten kindlichen und unreifen unbewussten Impulsen oder als reaktiven Teil misslingender Interaktionsmuster. Auf der anderen Seite erlebt jeder von uns auch Patienten, bei denen destruktive Impulse, offen geäußert oder nur von uns gespürt, eine Intensität haben, die weit über eine spielerische Phantasie hinausgeht. Und dies manchmal auch so, dass wir uns nicht sicher sein können, ob wir oder andere da am Ende unversehrt herauskommen. Nicht immer ist es dann ausreichend, solche Erlebnisse allein im Rahmen einer „verständlichen“ Psychodynamik zu sehen. Es mag da auch eine Qualität des „Bösen“ geben, die sich unserer freundlichen Zuwendung entzieht.

Dennoch: bewusst „Böses“, also Patientenverhalten im Sinne einer absichtsvollen Schädigung anderer Menschen, sehen wir eher selten. Und doch sind böse Handlungen unabweisbarer Bestandteil der menschlichen Existenz. Verharmlosen wir vielleicht? Und wie sehr machen wir unsere Patienten in solchen Fällen individuell verantwortlich? Was „tragen wir mit“, wo intervenieren wir begrenzend? Die hier entstehenden therapeutischen Dilemmata waren uns Anstoß für dieses Heft.

„Böse“ oder einfach nur krank?

In der Beschäftigung mit dem Thema des Bösen, das uns natürlich rasch als ein bisschen zu groß und vielleicht sogar anmaßend erschien, stießen wir offensichtlich in ein weites Feld vor. Naheliegend beginnen wir bei den Patienten, denen „böses Handeln“ von Gerichten als solches attestiert wurde und die durch die Annahme krankheitsbedingter Hintergründe ihres Handelns in die Kompetenz therapeutischer Experten gelangten. Wir freuen uns, dass es uns gelungen ist, zwei namhafte forensische Psychiater bzw. Gutachter dafür gewonnen zu haben, ihre Erfahrungen mit uns zu teilen. An dieser Stelle: unser aller Dilemma mit dem „Bösen“ konnten wir selbst erleben, als eine weitere angefragte Kollegin sich außerstande sah, über ihre Patienten in einem Heft unter der Überschrift des „Bösen“ zu berichten. Für sie, die täglich mit ihnen auf einer menschlichen Ebene umgeht, sind sie Kranke, die ihrer Fürsorge bedürfen und nicht der Verteufelung, die sie mit unserer Anfrage offensichtlich assoziierte.

Es war deshalb unvermeidlich, dass wir uns selbst auf den Weg der Begriffsklärung machten, der uns zu Religion und Philosophie führte. Wir finden die diesbezüglichen Beiträge ausgesprochen differenziert und informativ.

Die Vielfalt der anderen Artikel – zu speziellen Fällen der Forensik, zur therapeutischen Arbeit mit schwierigen Jugendlichen, zum Bösen in der therapeutischen Interaktion auch von Gruppen, zu „bösen“ Therapeuten und zu aktuellen Persönlichkeitsmodellen mit Bezug zum Thema – macht deutlich, wie allgegenwärtig im Alltag und in der therapeutischen Arbeit, in der Gesellschaft und in der Politik das Thema ist. Für uns Therapeuten ist die Frage des Bösen in der Persönlichkeit, hier als der „dunklen Triade“, also dem Zusammenwirken von Narzissmus, Gefühlskälte und Manipulation natürlich ganz im Zentrum. Hier ergeben sich tiefreichende Fragen, wo solche Züge, denen wir ja viel häufiger begegnen, als dem Vollbild des bösartigen Verbrechers, uns herausfordern und an Grenzen bringen.


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Toleranz, Empathie und Rücksichtnahme

Wie wichtig ist es, hier eine klare ethische Position als Therapeutin zu haben und gleichzeitig, nicht selten aus Not gewachsenen, Konstellationen anzuerkennen, wenn auch nicht zu billigen oder zu fördern. Wir hoffen, im Rahmen dieses Heftes auch immer wieder zeigen zu können, dass nur aus solcher Anerkenntnis und dem Verstehen der bösen Seiten des Menschen die Möglichkeit erwächst, Empathie, Rücksichtnahme, Toleranz als uns alle bestimmende Werte aufrechtzuerhalten.

Es bleibt am Ende die Frage, wann (sehen wir von absichtsvollen Dingen ab) Unachtsames, Egozentrisches oder schlicht Gedankenloses in Böses umschlägt. Sie wird nie leicht zu beantworten sein. In Grauzonen menschlichen Verhaltens braucht es eben Regeln, Strukturen und klare Haltungen des Umfeldes, die Einzelnen helfen können, „böses“ Handeln zu vermeiden. Insofern finden wir uns als Psychotherapeuten auch hier mit Existenziellem befasst.

Wir wünschen vielfältige Anregung!

Henning Schauenburg

Bettina Wilms


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