Zeitschrift für Palliativmedizin 2008; 9(2): 52-54
DOI: 10.1055/s-2008-1082355
Forum

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Standpunkt: Medizinethik - Experimentelle Medizin und Palliativbetreuung - eine Gegenüberstellung

Further Information

Publication History

Publication Date:
11 July 2008 (online)

 

Für die Selbstfindung der Rolle von Palliativmedizin ist es wichtig, sich mit ihrem scheinbar genauen Gegenteil auseinanderzusetzen - nämlich mit der experimentellen Medizin an den Grenzen der Machbarkeit, an der Grenze des Lebens [1], [2], [3] .

Heute werden mehr als drei Viertel aller Kinder mit einer akuten lymphoblastischen Leukämie geheilt - vor 40 Jahren war es noch fast keines. Entscheidend hierfür war die Initiative einiger Ärzte, die mit einer sehr intensiven Chemotherapie bei gleichzeitiger rigider wissenschaftlicher Dokumentation die noch immer erfolgreichen Therapieoptimierungsstudien der pädiatrischen Onkologie schufen [4]. Die Ärzte, die dies taten, waren heftig umstritten: Man warf ihnen vor, unärztlich zu handeln, mit Kindern, die ohnehin todgeweiht seien, noch medizinische Experimente durchzuführen. Sicher sind einige Kinder an Komplikationen gestorben, und manche litten vergeblich. Der Erfolg aber steht außer Zweifel - heute werden die meisten Kinder wieder gesund [4].

Auch heute sind experimentelle Therapien - Experimente mit Menschen, die lebensverkürzend erkrankt sind - erforderlich, um die Medizin voranzubringen und unheilbare Krankheiten heilbar zu machen. Experimentelle Therapien sind eine Art ärztliche Bewußtseinsspaltung - zwischen dem Arzt und dem Naturwissenschaftler:

Der Arzt sagt: "Ich betreue einen unheilbar Kranken - und suche verzweifelt nach einer Therapie."

Der Wissenschaftler sagt: "Ich habe eine Studie - und suche nach Patienten, die die Einschlusskriterien erfüllen."

Der Arzt: "Patienten, die auf konventionelle Weise nicht geheilt werden können, sind mehr als alle anderen den Medizinern ausgeliefert."

Der Wissenschaftler: "Patienten, die auf konventionelle Weise nicht geheilt werden können, sind das ideale Betätigungsfeld für Mediziner mit neuen Ideen!"

Der Arzt: "Es ist auch ein Kunstfehler, ruhiges, würdiges Sterben in gequältes, unwürdiges Sterben umzuwandeln."

Der Wissenschaftler: "Die Kranken sind ohnehin todgeweiht - ich kann ihnen gar nicht mehr schaden; vielleicht werde ich ihnen nützen!"

Und schließlich:

Der ärztliche Standpunkt insgesamt: "Insgeheim glaube ich immer noch an ein Wunder. Die Arzt-Patient-Beziehung bedeutet: Vertrauen. Ich stehe bedingungslos auf der Seite des Patienten."

Der Wissenschaftler-Standpunkt insgesamt: "Es gibt keine Wunder. Die Arzt-Patient-Beziehung bedeutet: Vertrag. Ich stehe bedingungslos auf dem Boden der Wissenschaft."

Was ist eine experimentelle Therapie? In der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts sind formale Begriffe wie Heilversuch, Phase-I-, II-, III-Studie, die ethisch, rechtlich und naturwissenschaftlich Ordnung in diesen Grenzbereich bringen, geschaffen worden. Mit der Deklaration von Helsinki [5] sind Standards verbindlich festgelegt worden. Seither ist geklärt: "einfach so" mit Menschen zu experimentieren, wäre unethisch.

Diese Grundsätze richten sich allerdings zunächst einmal an den Arzt, der eine Studie plant. Wer aber gibt dem Arzt Ratschläge, der einen Patienten vor sich hat und überlegt, ob er ihn in eine Studie aufnehmen soll?

Man könnte sagen:

Es ist unethisch, bei der Behandlung eines einzelnen irgendeine Entscheidung zu fällen unter dem Aspekt, dass man für andere daraus lernen kann, weil der alleinige Maßstab der Patient ist, und ein Mensch nie Mittel, sondern immer nur Zweck in der Medizin sein darf 1, 6.

Oder aber, im Gegenteil:

Es ist unethisch, eine experimentelle Therapie bei einem Patienten durchzuführen, ohne den Lerneffekt für andere Patienten nutzbar zu machen - weil man das Leiden des einzelnen Patienten umsonst sein ließe, und weil dies ja auch bedeutet, dem Patienten alles vorzuenthalten, was man aus dem vorigen Patienten hätte lernen können 5, 2.

Wahrscheinlich liegt die Wahrheit in der Mitte. Ein Patient sollte immer nur der Zweck, nie das Mittel sein. Aber therapeutische Erkenntnisse für andere nutzbar zu machen, ist auch eine ärztliche Pflicht - die Deklaration von Helsinki hat einen Aufforderungscharakter (Absatz 32): "Bei der Behandlung eines Patienten, für die es keine erwiesenen [...] therapeutische Methoden gibt [... ], muß der Arzt mit der Einwilligung des Patienten nach Aufklärung die Freiheit haben, nicht erprobte neue [...] therapeutische Maßnahmen anzuwenden. [...] Gegebenenfalls sollten diese Maßnahmen zur Evaluierung ihrer Sicherheit und Wirksamkeit zum Gegenstand von Forschungsvorhaben gemacht werden. In allen Fällen sollten neue Informationen aufgezeichnet und gegebenenfalls veröffentlicht werden [...] [5]."

Es ist also durchaus ethisch geboten, unter mehreren möglichen, für den Patienten gleichwertigen Vorgehensweisen diejenige herauszusuchen, die auch ein Maximum an wissenschaftlicher Erkenntnis für andere Patienten bringen wird. Immerhin beruht fast der gesamte medizinische Fortschritt auf experimentellen Therapien. Wenn ein Patient bereit ist, sich einer experimentellen Therapie zu unterziehen, so ist dies ein Geschenk an die Menschheit. Es darf nicht verworfen oder missbraucht werden. Es bedarf der entsprechenden Würdigung [6], [7], [8]. Experimentelle Therapien sind auch deswegen eine wichtige Leistung, ja, ein Opfer - der Patienten und der Ärzte - weil de facto doch die meisten Patienten sterben werden. Dieses Sterben auszuhalten, ist auch die Aufgabe des Experimentalmediziners, nicht nur des Palliativmediziners. Experimentelle Therapie darf daher nicht gleichbedeutend sein mit schlechter Palliativbegleitung.

Wir haben heute oft eine sehr klare Arbeitsteilung zwischen kurativ arbeitenden Medizinern, die mit mündigen Patienten ethisch korrekte Protokolle durchführen, und Palliativmedizinern, die erst zuständig sind, wenn keine Heilung mehr möglich ist und keine Frage offen. Diese Arbeitsteilung ist nicht gut. Natürlich ist die Etablierung eines geschützten Raumes, in dem reine Palliativmedizin stattfindet, ein gewaltiger Fortschritt. Überall sonst steht ja immer das kurative Prinzip im Raum: und wenn ich am Sterben des Patienten nichts ändern kann, dann wenigstens an seinen Kaliumwert. Davor muss der Sterbende geschützt werden. Es wäre aber ein Rückschritt, wenn der geschützte Raum bedeuten würde, dass palliativmedizinisches Denken sonst gar nicht mehr präsent wäre.

Der Wissenschaftsgedanke der experimentellen Medizin und die Sorge um das individuelle Patientenwohl in der Palliativmedizin müssen kein Widerspruch sein (Bilder: PhotoDisc, Symbolbilder).

Die experimentellen Therapien sind in den letzten Jahren in massive ethische und formale Vorschriften eingezwängt worden, die Aufklärungsbögen lesen sich, als beträfen sie einen juristisch gebildeten Schachspieler und nicht einen Menschen in größter Verzweiflung, der die tröstende Hand auf der Schulter braucht, und ein ganz persönliches Gespräch über seine Krankheitssituation. Dass der Arzt hier den nüchternen Wissenschaftler spielt, zugleich aber Tröster ist, führt zu der oben beschriebenen Zwitterrolle.

Das im Vergleich dazu wenig formale, an den Bedürfnissen der Patienten orientierte Arbeiten der Palliativmedizin birgt im Alltag aber auch heikle Entscheidungssituationen. Doch heute gilt es fast eher als ethisch akzeptabel, einen Patienten der Palliativmedizin zuzuführen als einer experimentellen Therapie. Der Experimentalmediziner muss Ethikanträge schreiben, nicht der Palliativmediziner. Dieser Trend könnte zu einer gefährlichen, ja unethischen Fehlentwicklung führen. Für die medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisfindung hat sich fast überall die evidenzbasierte Medizin als Goldstandard durchgesetzt. In der Palliativmedizin aber glauben wir oft, durch Empathie zu einer Expertenmeinung kommen zu können. Ist das nicht vielleicht manchmal Ausdruck einer Selbstüberschätzung?

Ich denke, wir müssen die experimentelle Therapie retten, indem wir ein wenig vom Denken der Palliativmedizin zu ihr hinüberholen - und umgekehrt. Wenn der Arzt tatsächlich eine Zwitterrolle spielt - wäre es dann nicht besser, ihm die eine oder die andere Rolle abzunehmen? Von der Justiz wissen wir, dass gerade dann gerechte Urteile herauskommen, wenn Staatsanwalt und Verteidiger 2 verschiedene Leute sind. Nun - ich persönlich glaube dies nicht. Es geht nicht darum, dass hier das Interesse des Patienten ist und dort das der Forschung. Wir dürfen nicht Ärzte erfinden, deren Aufgabe es ist, auf Seiten der Forschung zu stehen anstatt auf Seiten der Patienten. Die Forschung muss immer auf Seiten des Patienten stehen, und der Arzt sowieso. In Wirklichkeit ist es gerade wichtig, dass der Konflikt in einer einzigen Person ausgetragen wird. [5], [9], [10], [11].

Ich möchte hier natürlich nicht einfache Antworten geben. Ich möchte vor allem Fragen stellen. In einem aber bin ich mir sicher: nämlich, dass beide Seiten der Medizin, die Palliativ- wie die experimentell-kurative Medizin, viel voneinander lernen können. Und darum sollten beide nicht immer nur getrennt voneinander agieren. Die experimentelle Medizin muss Sterbebegleitung lernen. Ganz einfach: weil sie Sterbebegleitung macht. Und die Palliativmedizin muss naturwissenschaftliches, sich selbst infrage stellendes Denken lernen. Ganz einfach: weil sie immer besser werden soll.

Literatur

  • 01 Ross DS . The two-faced angel: do phase I clinical trials have a place in modern hospice?.  Penn Bioeth J. 2006;  2 46-49
  • 02 Caplan A . Is it sound public policy to let the terminally ill access experimental medical innovations?.  Am J Bioeth. 2007;  7 1-3
  • 03 Janssens R . Gordijn B . Clinical trials in palliative care: an ethical evaluation.  Patient Educ Couns. 2000;  41 55-62
  • 04 Schrappe M, Harbott J, Riehm H: Akute Lymphoblastische Leukämien. In: Gadner H, Gaedicke G, Niemeyer C, Ritter J (Hrsg.). Pädiatrische Hämatologie und Onkologie Heidelberg: Springer 2006. 
  • 05 Deklaration von Helsinki (Tokyo 2004) http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/deklhelsinki.pdf
  • 06 de Raeve L . Ethical issues in palliative care research.  Palliat Med. 1994;  8 298-305
  • 07 Stiefel F . Guex P . Palliative and supportive care: at the frontier of medical omnipotence.  Ann Oncol. 1996;  7 135-138
  • 08 Glannon W . Phase I oncology trials: why the therapeutic misconception will not go away.  J Med Ethics. 2006;  32 252-355
  • 09 Niethammer D. Ethische und juristische Aspekte. In: Gadner H, Gaedicke G, Niemeyer C, Ritter J (Hrsg.). Pädiatrische Hämatologie und Onkologie. Heidelberg: Springer 2006. 
  • 10 Knuti KA . Wharton RH . Wharton KL . et al . Living as a cancer surpriser: a doctor tells his story.  Oncologist. 2003;  8 108-122
  • 11 Marckmann G, Meran J. Ethische Aspekte der onkologischen Forschung. Deutscher Ärzte-Verlag, Reihe Medizin-Ethik, Band 19, 2006. 
    >