Z Geburtshilfe Neonatol 2008; 212 - PV2
DOI: 10.1055/s-2008-1078863

Aktiv oder passiv – sollte diese Unterscheidung unser Handeln beeinflussen?

G Rellensmann 1, J Häberle 1, C Werner 1, E Harms 1
  • 1Westf. Wilhelms-Univ.- Kinderklinik, Münster

Hintergrund: Therapieentscheidungen für schwerstkranke Früh- und Neugeborene werden dadurch beeinflusst, ob die Beteiligten mögliche Maßnahmen, insbesondere einen Therapieabbruch, als aktiv oder passiv empfinden. Fragestellung: Welche Bedeutung hat diese Unterscheidung für die moralische Bewertung einer Handlung? Material und Methode: Am Beispiel von zwei Neugeborenen mit hoffnungsloser Gesamtprognose (Frühgeborenes mit Trisomie 18, Neugeborenes mit multiplen Fehlbildungen) werden Therapieverlauf und Entscheidungsfindung bis zu einem Therapieabbruch dargestellt. Im einen Fall bestand zwischen dem Behandlungsteam und den Eltern ein Konsens, im anderen ein tiefer Dissens über die angemessene Therapie. Die Krankheitsverläufe werden im Lichte der moralphilosophischen Diskussion sowie neuer Ergebnisse der evolutionären Ethik diskutiert. Ergebnisse und Diskussion: Sofern in hoffnungsloser Gesamtsituation eine Therapiebeendigung als bester Weg erscheint, ist es aus ethischer Sicht unerheblich, ob dies im Modus des sterben lassens oder durch aktiven Therapieabbruch geschieht. Gleichwohl verspüren Behandlungsteams und auch Eltern ein großes Unbehagen, aktiv lebensbeendende Massnahmen zu ergreifen – selbst wenn sie das Ergebnis der Handlung als moralisch gut ansehen. Dieses Unbehagen steht im Einklang mit dem Gehalt der moraltheologischen Lehre von der Doppelwirkung, die im 13. Jahrhundert von Thomas von Aquin formuliert wurde und bis heute einflussreich ist. Empirische Untersuchungen aus dem Bereich der evolutionären Ethik zeigen, dass die Ablehnung aktiver Lebensbeendigung kultur- und schichtübergreifend in der menschlichen Konstitution verankert ist. Eine solche emotionale Disposition kann nicht als tragfähiges moralisches Argument gelten, jedoch sollten Einstellung und Gefühle der Eltern Berücksichtigung finden, soweit dem Kind dadurch keine unzumutbaren Nachteile entstehen. Schlussfolgerung: Behandlungsteams sind zuerst ihren Patienten und deren Familien verpflichtet. Bei Konsens über einen Therapieabbruch sollte der Modus der Therapiebeendigung im Einklang mit den Gefühlen und moralischen Präferenzen der Familie gewählt werden. Die Befunde der evolutionären Ethik liefern uns keinen Grund, die aktiv-passiv Unterscheidung als moralisch bedeutsam anzusehen. Sie zeigen jedoch, dass diese Unterscheidung mit Intuitionen und Gefühlen verbunden ist, die bei Therapieentscheidungen am Ende des Lebens auf Seiten der Eltern und des Behandlungsteams Berücksichtigung verdienen.