PPH 2008; 14(6): 293
DOI: 10.1055/s-2008-1027978
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Editorial

P. Seidenstricker
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
11. Dezember 2008 (online)

Nicht nur Zuwendung!

Stimmt unser Bild demenziell veränderter Menschen als hilflose, desorientierte und zu betreuende Wesen? Oder ist Demenz eine Lebensweise, deren geheimnisvolle Welt es zu erforschen gilt?

Demenz ist seit einiger Zeit das Thema schlechthin – und zwar sowohl in den Publikationen der Fachpresse als auch in anderen Printmedien, Hörfunk- und Fernsehbeiträgen sowie im Internet. Die Veranstaltungshinweise der Tagespresse enthalten fast täglich Hinweise auf Vorträge und andere Angebote von Volkshochschulen, Alzheimer-Gesellschaften, Wohlfahrtsverbänden oder anderen Organisationen.

In letzter Zeit erlebe ich dabei eine Tendenz, die ich, etwas vereinfacht ausgedrückt, „die Krankheit schön reden” nennen will. Als Beispiel möchte ich unsere Bundesfamilienministerin von der Leyen zitieren, die aus Anlass des Welt-Alzheimertags sagte: „Wir dürfen nie vergessen: Auch schwer Demenzkranke können immer noch Lebensfreude und Glück empfinden und am Alltagsleben teilhaben. Es sind manchmal die ganz einfachen Dinge des Lebens, die zählen. Wir können den Erkrankten glückliche Momente schenken, zum Beispiel bei gemeinsamen Spaziergängen in der Natur, beim Sportschau-Gucken oder beim Blättern in Fotoalben.”

Oder Thomas Klie, Professor für öffentliches Recht an der Evangelischen Fachhochschule Freiburg und Wissenschaftlicher Beirat der Deutschen Alzheimergesellschaft, der den Angehörigen sagt: „Gemeinsam gelingt es, im Leben mit Demenzkranken Neues zu entdecken, ja zu sagen zu dem neuen unkonventionellen Verhalten und ihnen nicht nur tolerant, sondern auch mit einer Prise Humor begleitend und wertschätzend entgegenzutreten”. Weiter informiert er, dass jüngste Forschungen über die Lebensqualität von Demenzkranken gezeigt hätten, dass die Kranken sogar mehr Glück erleben als gesunde Menschen.

Wenn man das liest, könnte der Eindruck entstehen, dass es sich bei Demenz nicht um eine Erkrankung, sondern nur um eine andere Lebensform handelt. Wir wissen nur wenig über die Empfindungs- und Gefühlswelt von Menschen, die an Demenz erkrankt sind. Ohne Zweifel kommt dem Zugang und der Beziehungsgestaltung auf der Gefühlsebene eine hohe Bedeutung zu. Auch dass Erkrankte Glück, Geborgenheit und Zufriedenheit erleben können, kann jeder, der im beruflichen oder privaten Umfeld mit ihnen Berührung hat, bestätigen. Aber es wird dem Ausmaß der Erkrankung nicht gerecht und verhindert möglicherweise auch notwendige Weichenstellungen in der Gesundheitspolitik, wenn in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt wird, als könnte ihr allein mit Zuwendung und Verständnis (dazu benötigt man übrigens auch nicht unbedingt professionelle Pflegekräfte, siehe Editorial Heft 5) begegnet werden.

Während zu Beginn der Erkrankung das Leben mit den Betroffenen gestaltet werden kann, können „schwer Demenzkranke” eben, entgegen den Äußerungen der Familienministerin, nicht mehr am Alltagsleben teilhaben. Sie leiden, neben der kognitiven Beeinträchtigung, an einer Vielzahl körperlicher Störungen: von der mangelnden Fähigkeit zur selbstständigen Nahrungsaufnahme über die eingeschränkte Mobilität bis zur Inkontinenz. Daraus wiederum resultiert das Risiko von Muskelkontrakturen, Dekubiti und Infekten. Von diesen Beeinträchtigungen ist meines Erachtens zu wenig die Rede und dadurch besteht die Gefahr, dass in der Öffentlichkeit der Eindruck erzeugt wird, als könne der „Volkskrankheit” Demenz mit Zuwendung und Integrationsprogrammen alleine begegnet werden. Im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung, in dem die Möglichkeit verbaler Kommunikation meist vollständig verloren geht, ist die Pflege von Angehörigen (auch von „kurzgeschulten” Laien) nur noch in den seltensten Fällen zu leisten. Für diese anspruchsvolle und anstrengende Tätigkeit sind Pflegende mit hohem pflegerischem und medizinischem Fachwissen gefragt, die auf der Grundlage einer professionellen Beziehungsgestaltung und über eine gut geschulte Krankenbeobachtung die erforderlichen Behandlungs- oder Pflegemaßnahmen einleiten und/oder durchführen. Konzepte der psychosozialen und spirituellen Begleitung für diese letzte Phase gehören ebenso dazu. Ich wünsche mir, dass – auch von Pflegenden – in der Öffentlichkeit und in Veröffentlichungen die Schwere einer demenziellen Erkrankung nicht verschwiegen wird, und dass entsprechende Versorgungskonzepte für Menschen im fortgeschrittenen Stadium der Alzheimer-Erkrankung vorgestellt bzw. erarbeitet werden.

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