Balint Journal 2008; 9(2): 58-59
DOI: 10.1055/s-2008-1004732
Aus der Balintgesellschaft

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„Portale für die Zukunft öffnen”[1]

24. Studientagung für Balintgruppenleiter in Cellevom 29.6.-1.7.2007 EingangsreferatOpen Portals for FutureW. Th. Kanzow
Further Information

Publication History

Publication Date:
20 June 2008 (online)

„Portale” und „Zukunft” sind große, sehr große Worte - und nicht nur irgendwelche Wörter. Die Anstachelung zu einer Diskussion bedarf vielleicht großer Worte, damit Schlummerndes wachgerufen, Vorbehalte gegen Bestehendes unserer Balint-Gesellschaft bewusster und auf diesem Wege wirklich Portale bewegt werden für das Zukünftige.

Ich erinnere mich an Celle vor 2 Jahren: da war ein ähnliches Thema vorangestellt („Neue Wege” o. s. ä.), aber die Diskussion verlief müde und wurde vorzeitig begraben. Vielleicht war die Themen-Vorgabe schon zu klein, vielleicht zu mild. Vielleicht wurde in der Diskussion - passend zu dem milden Titel - von der Leitung unbewusst ebenso signalisiert, sich sanft und milde zu verhalten; vielleicht waren die Diskussionseingriffe schnell gehalten, wirkten als praktizierte Gegenübertragung (und Abwehr) und haben so eine Ebene der Diskussion bestimmt, auf der Spannung und Bereicherung nicht entstehen konnten.

Aber nach diesem fragenden Rückblick auf die Leitung von vor 2 Jahren folgt der auf die Teilnehmer: Vielleicht waren die Teilnehmer verunsichert, vielleicht zu sehr auf ihre Interessenlage begrenzt, vielleicht zu weit entfernt von der grundlegenden Bedeutung ihrer Balint-Arbeit, vielleicht ohnehin mit Vorbehalten gegen Gesellschaft und Vorstand, oder einfach nur zu bequem, um ein affektives Wagnis einzugehen. Vielleicht sind Sie in Ihren kleinen Ritualen aber auch so zufrieden, dass Sie sich besser nicht bewegen oder nicht offenbaren wollen - schon gar nicht an einem Wochenende, dass mit Recht auch der Erholung dienen soll.

Oder um nach der Selbstbezichtigung als möglicher zu vorsichtiger und von eigener Abwehr bestimmter Leitung in Richtung einer „Publikumsbeschimpfung” fortzufahren: Haben wir bei Diskussionsforen die Konstellation von Eltern und Kindern: die Teilnehmer, die Kinder und die Eltern, die das schon irgendwie richten werden? Und spielt die Vorstellung hinein, dass Eltern - in dem Fall sei es der Vorstand - ohnehin nicht den eigenen Idealen entsprechen und genügen? Die eigenen Ideale aber auch besser nicht benannt werden, weil sie einen zu sehr verpflichten könnten? Sind die Erwartungen an den Vorstand eine Art Delegieren oder sogar eine gemütliche Projektion? Sind die Erwartungen der Mitglieder und der Teilnehmer eben nicht in jenem idealen Reifezustand: die Menschen des Vorstandes sind ein Teil des tätigen Vorstandes in mir, sind Partner meines Vorstands-Introjektes, Partner und Auseinandersetzungspartner?

Um dieses Vorstands-Introjekt bei den Balint-Erfahrenen zu wecken: Was wäre, wenn Frau Otten plötzlich den Laden hinschmeißt, Herr Petzold sich zu alt fühlt, ich aus meiner wieder errungenen geliebten Wahlheimat Kiel nicht so oft weg möchte und Herr Scheerer sagt: „Alles auf meine Schultern? - bei aller Liebe… nein!” Was wäre dann mit dem „alten Schlachtschiff Balint-Gesellschaft” wie es Herr Altrogge mal kritisch benannte? Was wäre, wenn es plötzlich neugeboren werden sollte - und dürfte und könnte?

Das „Alte Schlachtschiff”: bleiben wir bei alt und fügen dazu den Gedanken „Portale”: „alt” und „Portale”. Beide Begriffe passen in das Umfeld unserer Homepage: Unübersehbar und Objekt frischer Diskussionen ist die nicht auf dem Laufenden gehaltene Homepage. Ein drohendes Symbol eines Stillstandes. Ein Portal sollte kein Symbol eines Stillstandes sein, denn das hieße, es wäre verschlossen. Verschlossen erinnert an Sekte. Wenn ich das Portal nicht öffne: Ohne Veränderung herrscht die Stille des gewohnten reibungslosen Rituals in einem von anderen unbemerkten illusionären Abseits. Ein Portal sollte doch lieber eine Tür sein, die aufgeht. Und eine, die man aufmachen möchte, weil man irgendwo hin möchte. Wohin? Das Thema Zukunft ist dran.

Lasse ich das Wort „Zukunft” in seiner ganzen Schwere sinken, was fällt mir ein? Wieder etwas Problematisches. Da sind die Aussprachen bei vielen Balint-Tagungen. Ein recht konstantes Thema bei diesen Aussprachen ist eine Sorge um die Zukunft. Die Sorge um die Zukunft äußert sich in bestimmten Fragen: Waren es früher nicht mehr Teilnehmer? Wo bleiben die jungen, wo die Studenten? Und diese Sorge taucht auch bei den Mitgliederversammlungen auf. Beachte ich die Gegenübertragung bei den Mitgliederversammlungen (meine eingeschlossen), dann scheint - neben der großen Aufmerksamkeit für das Geld - die Demonstration der Teilnahmerzahlen von den Studientagungen das wichtigste zu sein: als Ausdruck der Sorge, sie könnten abnehmen? Und diese Gegenübertragung ist umso ernster zu nehmen und als Sorge zu deuten, weil die Teilnahmerzahlen real nicht abnehmen. Die wiederholt angesprochene und eigentlich nicht von der Wirklichkeit begründete Sorge scheint der unbewusste Gefühlsausdruck unterlassener Zukunftsarbeit zu sein. Sammele ich diese Aspekte, dann ergeben sich mir die Fragen:

Hält unsere Balint-Gesellschaft die Türen zur Zukunft und zur Gesellschaft offen? Geht die Balint-Arbeit mit der Zeit? Spiegelt sich im Finanziellen ein Gleichgewicht zwischen der Unternehmung „Balint-Arbeit” und dem Bedarf nach ihr wieder? Erreichen wir mit unserem Anliegen die Erreichbaren?

Gehen wir mit der Zeit? Das ist nicht modisch gemeint, denn „modisch”: das wäre zeitlich zu knapp gemessen. Gehen wir mit der Zeit ist die Frage, ob wir in Kontakt sind: in Kontakt mit unseren Formen, mit unserer „Sprache”, mit unseren Wegen: Stimmt unsere - die DBG-Beziehung - zu unserer Welt?

Stimmt unser Selbstmaß? Denn unsere Absichten, unser Anliegen (mit dem wir die Welt ein wenig korrigieren wollen) müssen sich einreihen, wenn sie selbst beziehungsvoll sein wollen. „Beziehungsvoll” und „sich rechnen lassen” gehören zusammen: „Sich rechnen” ist Ausdruck einer geglückten Beziehung in der Gesellschaft par excellence. (Ansonsten wäre wohl nur die Beziehung zu sich selbst geglückt. Das wäre ein unzivilisierter, reiner Idealismus - und der führt leicht zu Zerstörung und Untergang.)

Der Gegensatz: Idealismus - „sich rechnen” bedarf aber auch ein wenig der Versöhnung. Die gute Idee ist sozusagen die Vorgabe. Die gute Idee schafft die Bewegung, nimmt Spannung auf und erzeugt sie für die sich rechnende Beziehung („…mit der wir die Welt ein wenig korrigieren wollen…”). Sie, die gute Idee, schafft die Lebendigkeit. Nur zu rechnen wäre zukunftslos - wäre leeres Ritual.

Nun, unsere Rituale schaffen unsere Identität. In jeder lebendigen Beziehung zur Welt werden sie infrage gestellt und gefährdet. Stimmen unsere Rituale? Die Frage wendet sich damit uns selbst zu: die, die wir die Kunst der gelingenden und bewegenden Beziehung auf unser Panier geschrieben haben, und die, die wir den Anspruch, besondere und sinnvolle Beziehungskultur zu vermitteln, nach außen vertreten.

Stimmen auch die Beziehungen unter uns? Trägt uns mehr als nur noch unsere Rituale? Merkwürdig wie ritualisiert auch auf Internationalen Tagungen übliche Gruppen abgehalten werden: Rituale? Nur noch Rituale, dann hätten wir keine Ziele mehr … In den Rituale der Gruppen, unserer Konstruktionen bei den Tagungen, unsere Rituale bei den größeren und weiter reichenden Veranstaltungen wie z. B. der heutigen in Wienhausen: stimmen die Rituale? Stimmen sie vor dem Anspruch, in Beziehung treten zu wollen?

Rituale sind fest gefügte Strukturen, in die Antriebskräfte eingebunden und domestiziert sind. Es sind Kräfte, die man gerne eingebunden sieht. Auch solche, damit sie nicht so laut und bewegend werden. Rituale fassen und bedingen viele Beziehungen nach außen - als Ausbildung, als Anbieter, als Balintgruppenleiter, als Gesellschaft. Die praktizierten Rituale stehen aber nicht minder auch in Beziehung zu einem selbst: die Form domestiziert viele Seiten des Bauches. In diesem Spannungsfeld: Fühlt man Unzufriedenheiten im Sinne dieses Wortes, unbefriedete Erfahrungsfelder? Andere Intentionen? Abwegige Ziele? Ein Rebellieren gegen manche Form? Die Artikulation des Unbehagens - aus der Beziehungswelt und aus der Erfahrungswelt der täglichen Arbeit - gestatten wir uns eine Art Rebellion?

Rebellion. Darf man so fühlen und sprechen? Wie revolutionär war eigentlich Michael Balint, als er als Analytiker auf Praktiker zuging. Das Revolutionäre war nicht allein seine apostolische Mission für die Anwendung der Psychoanalyse und deren Verbreitung. Revolutionärer war wohl noch, dass er mit seinem Gang von den Gleichgesinnten, den Analytikern, zu den praktizierenden Ärzten zugleich die Verwendbarkeit der Psychoanalyse als (und in) Frage stellte. Zwei Dinge hat er mutig auf den Prüfstand gestellt: die Allgemeine und die somatische Medizin und was sie treibt - aber auch die Psychoanalyse in ihrem Realitätsbezug jenseits einer Selbstverliebtheit.

Stellt sich Pychoanalytisches - und das sind als Nachfahren Michael Balint's auch wir - auf den Prüfstand? Ist die Balint-Arbeit eines der letzten Verbindungsstücke der Psychoanalyse zum körperlichen Kranksein, funktioniert sie wirklich? Ist sie so eigenständig gegenüber Psychoanalyse und Psychosomatik wie sie als reifere Form sein kann? Und auch die Verbindung und Differenz zur Psychiatrie als körperlich-seelisches (Interpretations-)Chamäleon soll nicht ausgespart bleiben. „Chamäleon”: weil die Psychiatrie nicht in der Lage scheint, sich der Moden, die sie zwischen politischen, körperlichen, soziologischen und seelischen Polen hin- und herschütteln, zu erwehren. Der Raum des Psychotherapeutischen - und der Ernst der Balint-Arbeit - schillert davon abhängig: mal zu hell, meist zu dunkel.

Portal und Zukunft: Ein Kampf um ein Echo in der Gesellschaft? Um zu zeigen, wie gut sie ist und was die Balint-Arbeit leistet: müsste sie nicht wütender streiten in der Medizingesellschaft? Und in der Gesellschaft, die diese Medizin in ihrem Feld schafft - eine Medizin, die in ihrem Selbstbild Züge eigener Karikatur und säkularisierten Glaubensanspruchs aufweist und Anstoß erregen muss. Beispiele? Als kleine anstößige Auswahl: das Anti-aging im Körperlichen und die Abkehr der Psychosektion im Seelischen vom alt werdenden und alten Menschen; die Hypochondrie und deren Kanalisierung in den Vorsorgeunternehmungen; die Magie der gesunden Ernährung; die Psychoversiegelung der Traumata; die ärztliche Gewalt über das Sterben eines Menschen und die Begrenzungen der Patientenverfügung.

Wie auch immer: in meiner Sicht Beziehungsfelder, die nicht glücklich und glückend gelöst erscheinen. Aber mir fällt nur ein, was eben mir einfällt und auffällt… und einer Diskussion, wohin sie auch laufen wird, Müdigkeit eigentlich nicht erlaubt.

1 Eingangsreferat zur Diskussion bei der Studientagung Celle 2007

1 Eingangsreferat zur Diskussion bei der Studientagung Celle 2007

Dr. W. Th. Kanzow

Forstweg 23

24105 Kiel

Email: thomas@kanzow.net

    >