Balint Journal 2007; 8(4): 135
DOI: 10.1055/s-2007-990502
Buchbesprechung

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Handbuch Chronischer Schmerz. Grundlagen, Pathogenese, Klinik und Therapie aus biopsychosozialer Sicht

U. T. Egle, S. O. Hoffmann, K. A. Lehmann, W. A. Nix
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Publication History

Publication Date:
04 January 2008 (online)

2003, Stuttgart, New York: Schattauer, 715 Seiten, 85 Abbildungen, 106 Tabellen, gebunden, 79,- €, 123,- CHF, ISBN: 3-7945-2045-9

Schmerz muss nicht sein

Aufgrund der enormen volkswirtschaftlichen Folgekosten gehört der chronische Schmerz heutzutage zu den großen gesundheitspolitischen Herausforderungen. Ein großes Problem in der Behandlung von Schmerzen ist die Tatsache, dass sich für den Schmerz als alltägliches Phänomen zunächst jede Fachdisziplin zuständig fühlt. Die Lösung des Problems Schmerz innerhalb der eigenen Fachgebietsgrenzen zu suchen, erscheint allerdings obsolet. Nicht zuletzt hat dies, wie die Herausgeber im Vorwort betonen, 1996 den Deutschen Ärztetag in Köln bewogen, mit der Einführung der Zusatzbezeichnung „Spezielle Schmerztherapie” die Voraussetzung für eine adäquatere Erkennung und Behandlung chronischer Schmerzsyndrome zu schaffen. Ein Jahrzehnt später muss allerdings bedauerlicherweise konstatiert werden, dass nicht einmal alle Landesärztekammern diese Bereichsbezeichnungen eingeführt haben. Nach wie vor fehlen Pflichtveranstaltungen an den Universitäten, um Medizinstudenten den Umgang mit Schmerzpatienten nahe zu bringen. Auch in den Weiterbildungsordnungen vieler Facharztgebiete fehlen Aussagen zur Schmerzbehandlung. Nicht zuletzt wird die Umsetzung des 80-Stunden-Curriculums „Spezielle Schmerztherapie” von den einzelnen Fachgesellschaften inhaltlich häufig sehr fachspezifisch gestaltet.

Das Buch ist interdisziplinär angelegt und wird von zwei ausgewiesenen Psychosomatikern, einem Anästhesisten und einem Neurologen herausgegeben. Damit wird bereits dokumentiert, dass dem Phänomen „Schmerz” nur interdisziplinär beizukommen ist. So wundert es nicht, dass fast 60 Autoren zu dem Handbuch beigetragen haben, was aber auch so sein musste.

Das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell, das im ersten Teil vorgestellt wird, zieht sich wie ein roter Faden durch die weiteren Kapitel. Im Teil 2 „Grundlagen” wird der bedeutsame Aspekt der Chronifizierung aus verschiedenen Perspektiven dargestellt: historische Entwicklung des Schmerzverständnisses, transkulturelle Aspekte des Schmerzerlebens, physiologische und biochemische Grundlagen des Schmerzes und psychodynamische, lerntheoretische, familiendynamische sowie systemische Ansätze zum Schmerzverständnis.

Im Teil 3 werden dann grundlegende Facetten des Chronischen Schmerzsyndroms vorgestellt: Persönlichkeitsfaktoren, Faktoren der Chronifizierung, deskriptive Schmerzepidemiologie. Ausführlich gehen Ulrich Tiber Egle und Ralf Nickel auf die Bedeutung der Gesprächsführung, der Bindungstypologie und der Arzt-Patient-Beziehung ein. Hier bieten die Ergebnisse der Bindungsforschung Erklärungsmodelle für die unterschiedlichen Arzt-Patient-Interaktionen bei sicher beziehungsweise unsicher gebundenen Patienten und ermöglichen so ein besseres Verständnis für das Verhalten der Patienten, zum Beispiel für das „doctor-[s]hopping” oder das Phänomen der „Koryphäenkiller”. Sie gehen auch auf typische Fehler der ärztlichen Gesprächsführung mit Schmerzpatienten ein, zum Beispiel das Konkurrieren mit Vorbehandlern („Ich versichere Ihnen, dass wir das besser hinkriegen als …”). Wer je eine Schmerzsprechstunde betrieb, kennt diese Versuchungen. Das spricht für die große Erfahrung und Praxisrelevanz der Autoren, die wissen, wovon sie reden.

Teil 4 ist der Diagnostik gewidmet. Hervorgehoben seien in diesem Teil die Vorstellung psychometrischer Verfahren und standardisierter Interviews als Ergänzung zur schmerztherapeutischen Diagnostik durch Jochen Hardt und die Gegenüberstellung der Differenzialdiagnose aus der Sicht des analytischen Psychotherapeuten und der Diagnostik aus der Sicht des Verhaltenstherapeuten. Sehr wertvoll und instruktiv sind die sehr ausführlich gehaltenen Fallbeispiele.

In Teil 5 werden all jene routinemäßig angewandten therapeutischen Interventionen dargestellt, die in der Schmerztherapie in den verschiedenen Versorgungssystemen zum Einsatz kommen, wobei auf evidenzbasiertes Wissen Wert gelegt wurde. Burkhard Jäger und Friedhelm Lamprecht arbeiten in ihrem Beitrag „Zum Verständnis von Plazebowirkungen bei Schmerzpatienten” die relativ hohe Plazeborate bei Schmerzpatienten heraus. Dies ist deswegen so wichtig, weil in Verkennung dieser Einflussgröße relativ häufig verschiedenste Außenseitermethoden über Erfolge in der Behandlung chronischer Schmerzpatienten berichten und über diese Fehlinterpretation ihre Anwendung einfordern.

Im Teil 6 des Handbuches werden in insgesamt 17 Beiträgen eine Reihe spezifischer chronischer Schmerzsyndrome vorgestellt, unter anderem postoperativer Schmerz, psychosomatische Aspekte bei Tumorschmerz, das orofaziale Schmerz-Dysfunktionssyndrom und atypischer Gesichtsschmerz, der chronische Bauchschmerz und die somatoforme Schmerzstörung. In dem Kapitel über Pelvipathie erinnern Astrid Lampe und Wolfgang Söllner an das bereits 1934 von Karl Menninger in dem Artikel „Polysurgery and polysurgical addiction” beschriebene „surgery prone behavior” von Patientinnen, die geradezu nach einer Operation drängen, um das „schmerzende Übel endlich zu beseitigen”. Erfreulicherweise wird aufgrund der Häufigkeit dem Kopf- und Rückenbereich besonderes Gewicht beigemessen (chronischer Kopf- und Rückenschmerz, „Failed-Back-Syndrom”) und auch der chronische Schmerz in der Pädiatrie extra berücksichtigt.

Hervorzuheben ist, dass sich der letzte Teil des Buches mit der Problematik der sozialmedizinischen Begutachtung von chronischen Schmerzpatienten befasst, die in starkem Maße die Gerichte beschäftigen. Dieses Kapitel wurde von Klaus Foerster, einem renommierten Forensiker, verfasst. - Ein umfassendes Literaturverzeichnis und ein ausführliches Sachverzeichnis runden das außerordentlich gelungene Handbuch ab.

Fazit: Für Ärzte und Psychologen, die Schmerzpatienten sehen, ein Muss. Das Buch gibt den heutigen Stand des Wissens wieder und kann als guter Begleiter für die Weiterbildung zur Zusatzbezeichnung „Spezielle Schmerztherapie” und für die Vorbereitung auf das Fachgespräch fungieren. Es kann uneingeschränkt empfohlen werden als Standardwerk im deutschsprachigen Raum. Solch ein Handbuch gehört natürlich alle paar Jahre überarbeitet, um das sich rasch ausweitende Wissen über Schmerz zu integrieren. Insofern darf man auf die nächste Auflage gespannt sein.

Steffen Häfner, Tübingen

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